Jugendarbeitslosigkeit und der Mangel an Ausbildungsplätzen wurden als konkretes Beispiel für einen solchen Stillstand diskutiert. Ein TV-Spot der Gewerkschaft ver.di beschreibt die Ausweglosigkeit, Hilflosigkeit und Verzweiflung vieler Jugendlicher sehr extrem, wenn gezeigt wird, wie junge Menschen, die gerade beginnen sollten, ihr Leben zu gestalten, sich aus Enttäuschung über die Ablehnung ihrer Bewerbungen das Leben nehmen wollen.
Dem stellte die Tellgruppe Schillers großes Werk Don Carlos entgegen, in dem wir jungen Menschen wie dem Kronprinzen Don Carlos, Sohn des spanischen Königs Philipp II., und dem Malteserritter Marquis von Posa begegnen. Beide sind seit ihrer Jugend durch Freundschaft und gleiche Ideale verbunden.
Beide sind wie jeder - insbesondere - junge Mensch mit großen Konflikten konfrontiert, mit persönlichen Lebens- und Liebeskrisen. Don Carlos z.B. war verliebt und verlobt mit Elisabeth von Valois, die aber aus Macht- und Herrschaftskalkül plötzlich seinem Vater zur Gemahlin gegeben wird. Trotz aller sinnlichen und emotionalen Wünsche, Begehrlichkeiten und Verletztheiten lassen sie sich dennoch von den "großen Gegenständen" ihrer Zeit rühren und wachsen als Menschen über ihre leidenschaftlichen Konvulsionen hinaus. Sie verlieren sich nicht in ihrem inneren Strudel der Verzweiflung und Ohnmacht ob einer widrigen Außenwelt, sondern entscheiden sich, einzugreifen und die Welt zu verändern. Schiller bringt es mit dem Satz des Don Carlos "schon 23 Jahre alt und noch nichts für die Unsterblichkeit getan" auf den Punkt.
Schiller selbst ist zu dieser Zeit gerade 23 Jahre alt, als er zum ersten Mal an Dalberg schreibt: "Die Geschichte des Spaniers Don Carlos verdient allerdings den Pinsel eines Dramatikers." Er beginnt die Arbeit daran im März/April 1783 und entbindet nach vier Jahren das "Lieblingskind seines Geistes", wie er sagt, Ende Februar 1787. Sein Freund Andreas Streicher beschreibt Schillers Motiv für die Stoffwahl folgendermaßen:
"Im Don Carlos hatte er Charaktere zu schildern, die sich in der allerhöchsten Sphäre bewegten, die nicht nur den größten Einfluß auf ihre Zeit ausübten, sondern auch der Menschheit die tiefsten Wunden schlugen."
Schiller wollte also "große Staatspersonen" behandeln, und er wollte über den "Lieblingsgegenstand" seines Jahrzehnts schreiben, nämlich "über die Verbreitung reinerer, sanfterer Humanität - über die höchstmögliche Freiheit der Individuen bei des Staates höchster Blüte, kurz, über den vollendetsten Zustand der Menschheit, wie er in ihrer Natur und ihren Kräften als erreichbar angegeben liegt".
Die Amerikanische Revolution, diesen "Lieblingsgegenstand des Jahrzehnts" - der Kampf um "Fortschreitung" und "Ausbildung aller Kräfte des Menschen" statt Versklavung in einem oligarchischen System - , verlegte Schiller in seinem Don Carlos in das 16. Jh. an den spanischen Königshof Philipps II., Herrscher eines Weltreichs, in dem die Sonne nie unterging, in dem staatliche Gewalt und Terror, Spitzelsysteme und Inquisition das Fundament der königlichen Allmacht schufen.
Doch die Überdehnung dieser imperialen Macht forderte ihren Preis in den flandrischen Provinzen: "Alles findet sich zu einer Revolution zubereitet", wie Schiller sagt.
Kühn stellt Schiller in der Gestalt des Marquis Posa einen Menschen auf die Bühne, der sich als "Sachwalter der unterdrückten flandrischen Provinzen" und "Abgeordneter der Menschheit" versteht - und das in dem von vielen machthungrigen Fürsten kontrollierten Deutschland seiner Zeit!
Wie kraftvoll Schiller die oligarchische Ordnung in Deutschland und Europa erschüttert, zeigt der Dialog zwischen Philipp II., dem Weltbeherrscher, und dem jungen Marquis Posa. Posa verschleiert und verheimlicht nichts in dieser, ihm von Philipp gewährten persönlichen Audienz:
"Ich liebe die Menschheit und in Monarchien darf ich niemand lieben als mich selbst ...
Ich kann nicht Fürstendiener sein ...
Ich bin gefährlich, weil ich über mich gedacht! ...
Das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe ein Bürger derer, welche kommen werden."
Voller "Energie des Mutes" und in der größten "Rüstigkeit seines Charakters" fordert er Philipp auf:
"Werden Sie von Millionen Königen ein König!
Stellen Sie der Menschheit verlorenen Adel wieder her!"
Völlig ergriffen vom Tod Posas gibt Philipp in seiner Kleinheit, Nichtigkeit und Einsamkeit sein abschließendes Urteil über diesen jungen Menschen Posa für die Nachwelt zu Protokoll und sagt:
Posas Herz "schlug der ganzen Menschheit.
Seine Neigung war die Welt mit allen kommenden Geschlechtern!"
Im zweiten Teil standen Szenen aus Wilhelm Tell, der am 17. März 1804 in einer Inszenierung von Goethe in Weimar uraufgeführt wurde, auf dem Programm. Auch in diesem Volksdrama schildert Schiller ein Jahr vor seinem Tod den Freiheitskampf der Schweizer Kantone gegen das Haus Habsburg. Schiller veranschaulicht hier den "Lieblingsgegenstand seines Jahrzehnts", den Kampf um die unveräußerlichen Menschenrechte, in höchst ergreifender Weise in Form des Widerstandes gegen die Grausamkeit des Tyrannen Geßler - stellvertretend für Napoleon - als einzige menschlich notwendige und mögliche Handlungsweise. Auch hier läßt Schiller die "Welt mit allen kommenden Geschlechtern" zu Wort kommen und endet die Szene mit dem unglaublichen Satz: "Und frei erklär ich alle meine Knechte!"
Ein tief berührtes Publikum dankte für "die Verbreitung reinerer, sanfterer Humanität" in einer Zeit, in welcher wir wie Friedrich Schiller "mit der Ohnmacht, der Schlaffheit, der Charakterlosigkeit des Zeitgeistes und mit einer gemeinen Denkart zu ringen" haben. Der Auftritt der Mönche nach dem Tode Geßlers, deren Text Beethoven vertont hat, zeigte, wie meisterhaft Schiller den Menschen auf das Wesentliche lenken kann:
"Rasch tritt der Tod den Menschen an,
Es ist ihm keine Frist gegeben,
Bereitet oder nicht,
Er muß vor seinem Richter stehen!"
Erwähnenswert ist sicher noch, daß die Tellgruppe, die als Laien-Theatergruppe inzwischen auf eine zwanzigjährige Zusammenarbeit ohne Allüren, Egoismen und Egozentrismen zurückblicken kann, durch einige jüngere Mitglieder in der Gruppe bereichert worden ist. Zu nennen sind hier besonders: Andreas Richter als Marquis Posa, Steffen Brosig als Wilhelm Tell und Hagen Lorenz als Leuthold.
Renate Müller-De Paoli