S C H I L L E R J A H R

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F R I E D R I C H   S C H I L L E R

Die Schillerfeste 2004:
Hamburg-Hannover: 200 Jahre Wilhelm Tell

Düsseldorf: Ein Freiluftfest für Friedrich Schiller

Mainz-Wiesbaden: Eine Widerstandsbewegung auf der Ebene des Erhabenen
Hamburg-Hannover: 200 Jahre Wilhelm Tell

Die "Tell-Gruppe" im Schiller-Institut feierte auf ihre Art den Geburtstag Friedrich Schillers.

Wie befreiend und erhebend es ist, sich den üblichen, verwirrenden Debatten in den vielen politischen Talkshows im Fernsehen zu entziehen, erfuhren viele Gäste in Hamburg und Hannover, die zusammen mit der "Tell-Gruppe", einer Laientheatergruppe im Schiller-Institut, den 245. Geburtstag Friedrich Schillers feierten. Schiller bewies erneut, wie hochaktuell er ist und wie wünschenswert es wäre, wenn insbesondere diejenigen, welche die Politik bestimmen, sich diesem "Schatz der Staatskunst", das Schillers Werk darstellt, häufiger als Ratgeber zuwendeten.

Aufgeführt wurden die wichtigsten Szenen aus Wilhelm Tell. Schiller stellte das Stück am 18. Februar 1804 fertig, in dem Jahr, als Napoleon sich in Frankreich zum Kaiser krönen ließ und Europa im Ungeiste des Römischen Imperiums zu überrollen begann. Schiller, ein glühender Bewunderer der Amerikanischen Revolution und damit der siegreichen Durchsetzung einer naturrechtlich-republikanischen Staatsordnung, bringt den Freiheitskampf der drei Schweizer Kantone um ihre Reichsfreiheit gegenüber der kaiserlichen Zentralgewalt, dem Hause Habsburg, auf die Theaterbühne. Und "die Götter" waren ihm "günstig, das auszuführen, was ich im Kopf habe, so soll es ein mächtiges Ding werden und die Bühnen von Deutschland erschüttern!"

Die Erschütterung war und ist so groß, daß der Tell im "Dritten Reich" verboten wurde oder dienstfertige, systemangepaßte Regisseure ihn bis auf den heutigen Tag nur durch Weglassen entscheidender Szenen, wie des Dialogs zwischen Tell und dem Kaisermörder Parricida, auf die Bühne zu bringen wagen.

In der schönsten poetischen Sprache diskutiert und entscheidet Schiller, ausgehend von einem "ewigen, unveräußerlichen und unzerbrechlichen" Recht des Menschen auf Freiheit, Gleichheit und Glückseligkeit auf der politischen und staatsrechtlichen Ebene, die schwierige und komplexe Frage der Notwehr oder wie Schiller sagt: "Das Nothwendige und Rechtliche der Selbsthilfe in einem streng bestimmten Fall".

Die Auseinandersetzung der Delegierten auf dem Rütli, der ergreifende Monolog des Tell, in dem er mit sich um die Legitimität seines Entschlusses ringt, den Tyrannen Geßler zu töten, um seine Kinder und Familie zu verteidigen, und dann im letzten Akt die dramatische Zuspitzung, als der Kaisermörder Parricida, der seinen Oheim, den Kaiser Albrecht, aus Habsucht, Neid und Rachgier ermordet hat, um endlich an sein Erbe zu kommen, sind die herausragendsten und rührendsten Szenen, mit denen Schiller seine naturrechtliche Beweisführung begründet.

In einem Brief an Iffland begründet Schiller aber gerade die Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit dieses Dialogs zwischen Tell und Parricida:

    "Parricidas Erscheinung ist der Schlußstein des Ganzen. Tells Mordtat wird durch ihn allein moralisch und poetisch aufgelöst. Neben dem ruchlosen Mord aus Impietät und Ehrsucht steht nunmehr Tells nothgedrungene That, sie erscheint schuldlos in der Zusammenstellung mit einem ihr so ganz unähnlichen Gegenstück, und die Hauptidee des ganzen Stücks wird eben dadurch ausgesprochen, nehmlich: Das Nothwendige und Rechtliche der Selbsthilfe in einem streng bestimmten Fall!"

Wie oft wird man heute in den Medien, vor allem in Fernsehtalkshows, mit legalistischen "Experten-Meinungen" traktiert, z.B. pro und contra Folter im Fall Daschner im Zusammenhang der Entführung und Ermordung eines kleinen Jungen in Frankfurt. Ein andermal geht es um den Angriffskrieg gegen den Irak, um Folterungen irakischer Kriegsgefangener und um Videobänder, auf denen vermummte Terroristen ihre Geiseln öffentlich hinrichten. Um zu einer wirklich eigenen Antwort zu kommen, sollte man vielleicht einmal den Fernseher auszuschalten und den Tell zur Hand nehmen. Denn weder der Satz "Macht setzt Recht" noch legalistische Debatten klären auch nur ansatzweise die komplexe Problematik des "Nothwendigen und Rechtlichen der Selbsthilfe in einem streng bestimmten Fall"!

Renate Müller De Paoli