Projekt Renaissance

Projekt Renaissance

Ziel des Schiller-Instituts -- insbesondere der weltweiten LaRouche-Jugendbewegung -- ist eine neue Renaissance in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Staatskunst. Wir sind nicht naiv, uns steht klarer als den meisten anderen Menschen vor Augen, in welcher tiefen Weltkrise wir uns befinden. Aber wir betrachten diese Krise aus dem Blickwinkel von Schillers Universalgeschichte und wissen: Jede Renaissance begann in finstern Zeiten. Eine Renaissance wird dann möglich, wenn Menschen bewußt in die Geschichte eingreifen, sich als historisch handelnde Individuen verstehen -- und Politik als Kunst. Die folgenden Artikel handeln von früheren Renaissancen und von der, die noch zu schaffen ist.



Torbjörn Jerlerup:
Die Renaissance, oder die Wiederentdeckung Platons und der alten Griechen
Neue Solidarität Nr. 41-43, 2003

Gabriele Liebig:
Das Rückgrat der amerikanischen Opposition
Neue Solidarität, Nr. 6, 2002



Politik als Kunst

Von Lyndon H. LaRouche, Jr., 6. November 2000

Manch einer jammerte oder kicherte, als der liebenswerte und begabte Senator Eugene McCarthy seine politische Kampagne in Form von Lesungen poetischer Werke führte. Ich freue mich herzlich über das, was er tat. Im Unterschied zu mir wissen Senator McCarthys Kritiker nicht, daß auch Abraham Lincoln einen schrecklichen, aber gerechten und absolut notwendigen Sieg für die gesamte Menschheit erkämpfte, indem er sich Lehren aus Shakespeares Werken zu Herzen nahm und den Mitgliedern seines Kabinetts in Form von Direktiven nahelegte. Niemand, ob Freund oder Feind, lachte über das ehrfurchtgebietende Resultat dieses Unterrichts.

1. Warum Amerikaner meistens lügen
2. Was sind Ideen?
3. Lieder ohne Worte

Wirkliche Politik wird, wie Plato und der kürzlich zu neuen Ehren gelangte, große und später zum Märtyrer gewordene englische Staatsmann Thomas Morus erkannten, richtig verstanden als eine klassische Kunstform betrieben -- gemäß denselben Prinzipien, die die größten Dichter, vor allem Shakespeare und später Schiller, als klassische Form der Komposition und Aufführung von Poesie und Tragödie zum Ausdruck brachten. Wer Politik und Geschichte wirklich kennen will, darf die Tragödien der beiden Großmeister dieser Kunst nicht als reine Fiktion betrachten; sie sind -- genauso wie Verdis größte Opernbearbeitungen Shakespearischer oder Schillerscher Tragödien oder die wichtigsten Mozart-Opern oder Beethovens Fidelio -- eine authentische und anregende Darstellung des Kerns jener historischen Krisen, auf die sie sich beziehen.
Morgen, am 7. November 2000, dem Tag der amerikanischen Präsidentschaftswahl, werden wir auf der Weltbühne eine schauerliche, reale Tragödie erleben, die Gefahr eines neuen finsteren Zeitalters. Daß wir heute vor dieser Bedrohung stehen, ist das Ergebnis einer langjährigen Verletzung der klassischen Prinzipien der Staatskunst, die zu lernen jeder Bürger das Recht gehabt haben sollte, und die jedem Bürger spätestens dann geläufig sein sollte, wenn er die Schule verläßt.
Meine berufliche Tätigkeit in den vergangenen über 50 Jahren hat sich genau auf diese Frage konzentriert, auf die wir unter den heutigen Bedingungen der weltweiten Krise so nötig eine Antwort brauchen: Die Wechselwirkung der Geschichte der Politik und der Wirtschaft mit den klassischen Methoden, die in der Kunst und der Wissenschaft für Kompetenz stehen.
In letzter Zeit veranlaßten mich verschiedene Entwicklungen, besonders die sich zuspitzende Weltkrise, größeres Gewicht darauf zu legen, daß meine Schüler und Mitarbeiter diese Funktion der klassischen Kunst rigoros beherrschen. Hier wiederhole ich noch einmal und fasse zusammen, was ich in verschiedenen unveröffentlichten Manuskripten für den privaten Gebrauch meiner Mitarbeiter geschrieben habe. Ich tue dies hier, so weit es das Thema erlaubt, in einer allgemeinverständlichen Form. Ich tue es für Sie als Mitglieder einer leider noch immer weitgehend unwissenden Öffentlichkeit, einer Bevölkerung, die in der Zeit nach der Wahl wahrscheinlich mit Verzweiflung reagieren würde, wenn ihr niemand die Maßnahmen darlegte, mit denen man Abhilfe schaffen könnte.
Ich biete Ihnen also ein Handlungskonzept, das die dringend benötigte Alternative zu der gegenwärtigen realen Tragödie unseres Landes beinhaltet. Ich will Ihnen damit einen Leitfaden an die Hand geben, mit dem wir den schrecklichen Konsequenzen, die Amerika und der ganzen Welt in der Zeit unmittelbar nach dieser brutalen Wahlfarce drohen, entkommen können.
Wenn Sie zu den typischen Jugendlichen oder Erwachsenen gehören, die gute Absichten gegenüber der ganzen Menschheit hegen, so betone ich, daß reale, praktische Politik mit der richtigen, wahrheitsgetreuen, doch allzu seltenen Form des Gesprächs beginnt. Man sollte bei allen Gesprächen die elementaren Kenntnisse der Prinzipien klassischer Kunst praktisch anwenden -- diese Prinzipien sollten entscheiden, wie sich zwei Bekannte über irgendein Thema außer den trivialsten Alltagsfragen austauschen, ob an der Straßenecke oder unter anderen normalen oder auch außergewöhnlichen Umständen.
Um auf diese höhere Denkebene hinsichtlich der Fragen der politischen Gestaltung unseres Landes zu gelangen, muß man sich am Vorbild der sokratischen Dialoge Platons orientieren, indem man sie als das betrachtet, was sie sind: Nämlich klassische Dramen, die Gespräche zwischen Charakteren wiedergeben, die bekannten, wirklich existierenden Persönlichkeiten aus der wahren griechischen Geschichte der damaligen Zeit entsprechen. Wenn sie diese Dialoge als Dramen nachvollziehen, spüren normale Menschen einen Hauch der geistigen Qualitäten, die das Genie auszeichnen. Und auf Grund dieser Erfahrungen können sie auch als "einfache Bürger" in immer größeren Maße die wichtigsten Prinzipien meistern, anhand derer vernünftige politische Entscheidungen getroffen werden. Von diesem Standpunkt betrachtet werden Sie auch verstehen, daß jede Form bedeutender künstlerischer Komposition genau denselben Prinzipien gehorcht wie Platons sokratische Methode.
So gesehen zählen die größten Werke der klassischen Bildhauerei und der Renaissance-Malerei -- wie die Kunstwerke von Leonardo da Vinci, Raffael Sanzio und Rembrandt -- zur klassischen Komposition. Ebenso zählen dazu die größten Werke der klassischen Poesie und die größten Dramen, sowie alle großen musikalischen Kompositionen, die entweder von Anfang an klassisch sind oder zu klassischer Aussagekraft gelangen, wenn sie entsprechend bearbeitet werden. Ein Beispiel für letzteres ist die Verfeinerung des Negro Spirituals durch die Zusammenarbeit zwischen Antonin Dvorak und Harry Burleigh und die spätere Weiterführung dieses Vervollkommnungsprozesses durch den großen Künstler Roland Hayes und seine Mitarbeiter und Nachfolger.
Dieses Beispiel des Spirituals ist von besonderer Bedeutung für alle Amerikaner -- ob afrikanischer Abstammung oder nicht --, die unter dem Gefühl leiden, das heutige Leben mache die Masse des gemeinen Volks zu "Underdogs" oder sogar zu "menschlichem Vieh".
Zum besseren Verständnis, wie großartig und tiefgehend das klassische Kompositionsprinzip in diesen Spirituals zum Ausdruck kommt, sollte man sich daran erinnern, daß sie ursprünglich als Kunstwerke entstanden, die über Generationen hinweg von grausam unterdrückten Sklaven komponiert und weitergegeben wurden, die alle zumindest teilweise afrikanischer Abstammung waren. Die große Wirkung dieser Kompositionen, die Dvorak, Burleigh, Hayes und andere auf eine Ebene relativer Vollkommenheit gebracht haben, war unter diesen Sklaven der Ausdruck jener Genialität, die allen Menschen innewohnt. Diese so veredelten Spirituals sind in dieser Hinsicht für uns alle wertvoll: Sie sollten uns zu der Erkenntnis leiten, daß keine Unterdrückung so mächtig ist, daß sie die Erhabenheit des Menschen auslöschen kann, weil der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen ist und jedes neugeborene Kind diese Qualität in sich trägt.
Typisch für eben dieses universale Prinzip sind der berühmte Gefangenenchor aus Ludwig van Beethovens Fidelio oder der Sklavenchor Va Pensiero aus Giuseppe Verdis Oper Nabucco. Der letztgenannte Chor wurde zur inoffiziellen Nationalhymne des modernen Italiens, weil die besondere Qualität patriotischer Leidenschaft erkannt wurde, die dieser Chor mit klassischen künstlerischen Mitteln ausdrückt. Für mich persönlich wird dieser Punkt am deutlichsten in dem Spiritual Little Boy oder bei Aufführungen des Spiritual-Repertoires durch Roland Hayes oder Marion Anderson, die für alle, die mit ihnen arbeiteten, oder die später kamen, einen Standard setzten, wie das Negro Spiritual als Teil des Schatzes echter klassischer Kunst der Menschheit vermittelt wird. Kein ernsthafter Musiker oder klassischer Schauspieler kann hier widersprechen.
Die zugrundeliegenden Prinzipien der besten Werke klassischer künstlerischer Komposition kommen in Platons Dialogen und in den erwähnten Formen neuzeitlicher klassischer Kunst in konzentriertester Form zum Ausdruck.
Aus Gründen, die ich auf den folgenden Seiten erläutern werde, offenbart uns heute das Negro Spiritual die grundlegende, nur dem Menschen innewohnende Schöpferkraft, die jedem Menschen angeboren ist. Sie lag in jedem neugeborenen Sklaven dieser vielen Generationen, die soviele Grausamkeiten von anderen erleiden mußten, die die Menschlichkeit genauso verachteten wie die Anhänger Richard M. Nixons, die zusammen mit dem Ku-Klux-Klan in den Jahren 1966-68 die sog. "Südstaatenstrategie" als Erbe der alten Konföderierten ins Leben riefen. Dieses bösartige, unmenschliche Erbe der Nixon-Kampagne entspricht der kulturellen Korruption, der wir heute im Kongreß, bei den Wahlen und in der amerikanischen Außenpolitik begegnen. Ebendiese heute wiederbelebte Bösartigkeit klagt der Sklave im klassischen Negro Spiritual an, so als spräche eine Stimme über Jahrhunderte hinweg. Wenn wir an solcher Musik oder anderer klassischer Kunst teilhaben, so werden auch wir inspiriert und in unserer Verpflichtung bestärkt, für die ganze Menschheit ins Feld zu ziehen, so wie es alle wahren "Nachfolger" von Jesus Christus getan haben.
Die erfolgreiche Komposition und Aufführung solcher klassischer Kunstwerke hängt von einer bestimmten Methode ab: Der sokratischen Methode, die am besten in Platons Dialogen ausgedrückt ist. Durch sie bestimmt, fördert und benutzt man diese erhabene Autorität, die dem Menschen von Geburt an innewohnt, unsere eingeborene Qualität, die manchmal auch als schöpferische Vernunft bezeichnet wird. Wenn wir auf diese Weise über "profunde und leidenschaftliche Konzeptionen über den Menschen und die Natur" (wie der Dichter Shelley es nannte) miteinander kommunizieren, können wir diese angeborene Macht der Vernunft willentlich wachrufen und mit anderen teilen. Wären unsere Bürger nicht so oft so töricht, würden wir uns immer auf diese Methode beziehen und gemeinsam die Politik und zukünftige Zielsetzung unseres Landes sowie die Beziehungen zu anderen Ländern bestimmen.
Diese potentielle Kraft der klassischen künstlerischen Kommunikation müssen Sie aufbieten, wenn Sie sich mit ihren Mitbürgern über politische Fragen beraten. Diese Methode sollten Sie wählen, denn sie bestimmt die aktuelle Entscheidung zwischen Aufschwung und einem wahr gewordenen Alptraum für unser Land und den größten Teil der Welt.
Mein zentrales Anliegen bei diesem Aufsatz ist es, Ihnen genau diesen Punkt deutlich darzulegen. Wenn Sie diesen Punkt verstehen, dann wird es uns gemeinsam gelingen, auch diejenigen, die noch immer die Rolle der Politiker einnehmen, auf diese höhere moralische Ebene zu bringen.

1. Warum Amerikaner meistens lügen

Fragen Sie sich zunächst selbst: Was sollte man unter "Wahrheit" verstehen? Um diese Frage zu beantworten, betrachten Sie zunächst einmal typische Szenen betreffender Untugend, wie sie uns bei führenden Politiker und normalen Bürgern dauernd begegnet und zuletzt während des jetzt beendeten Wahlkampfes wieder vorgefunden haben.
Von höchst seltenen individuellen Ausnahmen abgesehen sind alle Amerikaner, einschließlich derer, die sich als äußerst fromm bezeichnen, leidenschaftliche Lügner. Jeder wird fast instinktiv lügen, wie die meist elenden Mitglieder sog. "Debattierclubs" oder Politiker, die lügen, "um die Debatte zu gewinnen" oder "sich durchzusetzen". Dabei sind jene Heuchler, die sich selbst Christen nennen, nicht die schlechtesten, aber sehr oft die abstoßendsten.
In vielen Familien erfahren die Kinder tagtäglich, wie ihre Eltern aus Höflichkeit die Gäste belügen, und wie die Gäste zurücklügen. Am Ende des Besuches versichern beide Seiten, die Eltern und die Gäste, einander: "Wir müssen uns bald wieder treffen!" Dann folgt gewöhnlich der Epilog, wobei die Kinder mitbekommen, wie die Eltern sich über die Gäste, die sie noch wenige Augenblicke zuvor so liebenswürdig zur Tür begleitet hatten, lustigmachen und über sie herziehen.
Wir werden auch uns fast alle daran erinnern, daß die Kinder ganz ähnlich lernen, sich gegenseitig zu belügen, und auch die Lehrer zu belügen, indem sie sich angewöhnen, den Lehrern das zu antworten, was diese vermeintlich hören wollen. Damit sehen die Schüler das Ziel ihrer Erziehung und ihrer Karriere darin, nur das zu sagen, was wahrscheinlich anerkannt ist und belohnt wird, unbeschwert von der Rücksicht auf Wahrhaftigkeit, weil es ihr Ehrgeiz so verlangt. Über der Eingangstür für den Prüfungsraum der Studenten könnte oft der Satz eingemeißelt stehen: "Laßt, die Ihr eingeht, alle Wahrheit fahren!"
Im Einklang mit diesem Motto belügen die Lehrer und andere die ihnen ausgelieferten Kinder. Solche Lehrer verteidigen ihr Verhalten gern mit Erklärungen der Sorte: "Ich tat nur meine Pflicht", oder "Tut mir leid, das ist die Politik", "So steht es im Lehrbuch", "Das müßt Ihr lernen, wenn Ihr die Prüfung bestehen wollt", "Wenn Ihr mit der Schule fertig seid, könnt Ihr denken, was Ihr wollt, aber jetzt...", oder einfach: "So lehren wir es hier und nicht anders." Ich erinnere mich an diese Jahre mit einer gewissen Bitterkeit, daß ich damals meist mit Lügen und Betrügereien abgespeist wurde, von wenigen glücklichen Ausnahmen abgesehen, für die ich noch heute dankbar bin.
Wahrscheinlich könnten die meisten von Ihnen über ähnliche Erfahrungen berichten, wenn Sie nicht zu der Sorte Amerikaner gehören, die in solchen Fragen aus Gewohnheit lügen. Ein Großteil des üblichen sozialen Verhaltens verrät, daß man sich über diese Gewohnheit zu lügen durchaus im Klaren ist.
So beurteilen beispielsweise nur wenige Arbeitgeber den Lebenslauf eines Bewerbers nach seiner Wahrhaftigkeit. Die meisten gehen nach dem erwünschten oder unerwünschten Grad von Cleverness, den der Lebenslauf verrät, und nach dem Wunsch, der Bewerber möge nach der Anstellung den Wünschen des Arbeitgebers mit der gleichen Korruption folgen, mit der er dieses als Lebenslauf bezeichnete Märchen schrieb. "Ja", sagt der der Personalchef vertraulich, "das Universitätsdiplom ist real, aber die dahinterstehende Ausbildung ist praktisch wertlos. Aber daß er dieses Diplom hat, hält uns gegenüber den Aktionären den Rücken frei, falls sich der Bewerber als der Trottel herausstellt, für den wir ihn halten. Dann könnten wir sagen: ,Er hatte die Qualifikation, aber er hat es nicht geschafft.'"
Ähnlich geht es zu, wenn ein leitender Angestellter aus der Firma herausgedrängt wird, man gibt ihm dann scheinheilige Belobigungen mit auf den Weg, wie etwa: "Herr Müller verdient Lob für seine exzellente Arbeit, die ihm jetzt den Weg für offensichtliche Verbesserungen öffnet."
Und auch viele der Gesetze, die der Kongreß vermeintlich verabschiedet hat, sind in Wirklichkeit Lügen. Wer wird so leichtgläubig sein anzunehmen, die Verabschiedung eines Gesetzes sei mit der "Absicht des Kongresses" gleichzusetzen? Wie oft liegt das Hauptmotiv für die Verabschiedung eines bestimmten Gesetzes in dem Wunsch, pünktlich die Parlamentsferien zu beginnen?
Doch das ist noch nicht das Ende des Schwindels bei der Gesetzgebung. Im Gefolge der sog. "demokratischen Reform" der Kongreßausschüsse in den 70er Jahren hat die fachliche Inkompetenz bei den in den Ausschüssen erarbeiteten Gesetzesvorlagen zugenommen. Die widersprüchlichen Interpretationen so zusammengestoppelter wichtiger Statuten und der daraus resultierenden Politik reicht die Verantwortung, diese Widersprüche aufzulösen, an die Ausschüsse der Regierungsbürokratie weiter, so daß aus der erklärten Absicht des Gesetzes das wird, was diese Bürokraten daraus fabrizieren. So wurden dann unter Mitwirkung der Gerichte Absichten, die den angestrebten Zielen der Gesetzgeber zuwiderliefen, mit Hilfe des Bundesgerichts als "Absicht des Kongresses" durchgesetzt.
Sie sollten über die Tendenz bestimmter Entscheidungen der Mehrheit des Obersten Gerichtshof der USA aus der jüngsten Zeit, die sich auf die Zielsetzung der Verfassung beziehen, noch weit mehr entsetzt sein. Jeder gebildete Erwachsene, der sich mit den verfassungsrechtlichen Grundlagen auseinandersetzt, auf denen die rechtliche Existenz unserer Republik beruht -- nämlich der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der Präambel der Verfassung von 1789 -- kann mit Sicherheit sagen, daß die Mehrheit des gegenwärtigen Obersten Gerichtshofes unter den Richtern Rehnquist und Scalia über die wichtigsten Aspekte der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung wiederholt und schamlos offenkundig gelogen hat.
Bislang habe ich die schlimmsten gewohnheitsmäßigen Lügner noch nicht erwähnt, die Massenmedien.

"Ich weiß, daß der Mond aus Quark besteht."

"Das ist nicht wahr!"

"Zweifeln Sie an meiner Ernsthaftigkeit?"

Im Alltagsleben ist es oft noch viel schlimmer. So messen beispielsweise leichtgläubige oder schlicht ungebildete Bürger sogenannten "Augenzeugenberichten" große Bedeutung zu. Oft erweist sich bei einer genauen Untersuchung der Umstände, daß der Augenzeuge entweder gelogen hat oder gar nicht in der Lage war, etwas Beweiskräftiges wahrzunehmen; seine Aussagen waren in Wirklichkeit Schlußfolgerungen, die er nur für die beeidbare Wahrheit hielt. Oftmals hat der Zeuge schlicht und einfach gelogen, aber die Beobachter behaupten trotzdem bis heute steif und fest, er habe die Wahrheit gesagt. Warum sollte der typische Geschworene auch nicht Sympathie für solche Lügen hegen? Sind sie nicht zu Hause, in der Schule und anderswo dazu erzogen worden, selbst genausolche Lügner zu sein?
So war beispielsweise "Die Erfahrung lehrt uns" das letzte Wort der Lemminge, bevor sie sich über die Klippen in den Tod stürzten.
Bei jeder Wahl zeigen die Wähler ein leidenschaftliches Vertrauen in den Clown, den sie bei der nächsten Wahl verachten werden. Der neue Dummkopf, denn sie dann an dessen Stelle wählen, ist oftmals genauso dumm oder gar noch dümmer als der Esel, den sie aus dem Amt jagen. Noch schlimmer: Oft, und vor allem in letzter Zeit, bewirkt das öffentliche Votum, daß anständige Politiker abgewählt werden, weil man momentan einem anderen den Vorzug gibt, den man nur zu bald aus guten Gründen hassen wird. Man muß leider zugeben, daß die meisten derer, die überhaupt zur Wahl gehen, aus ihrer früheren Erfahrung bei Wahlen nichts gelernt haben.
Um diese Beispiele abzuschließen, sei noch folgendes hinzugefügt.
Der typische Amerikaner schluckt jeden Tag wie unter Zwang das eine oder andere Gift, wenn er meint, die Erfahrung rechtfertige sein Vertrauen in bestimmte Markenartikel. Wir leben heute in einer Zeit, in der die Menschen die Markennamen tragen, die in riesigen Buchstaben auf der Vorder- oder Rückseite ihres Hemdes prangen, so daß sie auch noch ein Analphabet entziffern könnte, und sie reden über Markennamen und Slogans, als richteten sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Gefühl, diese leeren Phrasen im Mund zu kosten.
In der Tat kann es in diesen wildgewordenen Zeiten böswilliger Streiche wie den um sich greifenden Firmenzusammenschlüssen und -übernahmen und dem sog. "Outsourcing" geschehen, daß ein Produkt von heute mit dem gleichen Namen wie gestern sich nicht als ein anders gefärbtes Pferd erweist, sondern vielleicht als etwas, was eine unbekannte Gattung benutzen könnte: Ein Produkt, das nicht um seiner selbst willen gewählt wird, sondern nur, weil dem dummen Käufer der Markenname besser schmeckt.
Das alles führt uns nun direkt in den Bereich der klassischen künstlerischen Komposition. Denn wie können wir angesichts der weitverbreiteten Lügerei erkennen, was Wahrheit ist? Wo findet man Beweise für die Wahrheit? Beispielsweise das Wissen darüber, wie man wählen sollte?

Der Welt schlimmste Fehler ungeschehen machen

Das Prinzip aller kompetenten Komposition und Aufführung der klassischen Tragödie beruht darauf, daß sie wahre Geschichte widerspiegelt. Dieses Prinzip besagt, daß im wirklichen Leben außerhalb der Bühne Kulturen immer untergegangen sind, weil sie selbst mit tödlichen Fehlern behaftet waren (einmal abgesehen von Kulturen, die aufgrund von Naturkatastrophen untergegangen sind, die der Mensch noch nicht beherrschen kann); so werden gegenwärtig die USA als Nation, genauso wie das alte Rom der Zeit der Zirkusspiele, am schwersten von den Auswirkungen der sogenannten "populären Unterhaltung" zerstört.
Eine der wichtigsten Lehren aus der Geschichte der europäischen Zivilisation ist, daß in der gesamten Geschichte die "Unterhaltung" durch das Theater zu den einflußreichsten Kräften gehört -- zum Guten oder zum Schlechten --, wenn es um die Entwicklung und Zukunft der betreffenden Kultur geht.
Bei jeder klassischen Tragödie, von Aischylos und Sophokles bis hin zu Shakespeare und Schiller, lag der Grund für das tragische Scheitern der Hauptfigur -- wie etwa Shakespeares Hamlet oder der tragische Ödipus -- in ihrer Unfähigkeit, das durch die gängigen Gebräuche und herrschenden Institutionen öffentlicher Einflußnahme scheinbar vorherbestimmte Schicksal eines Volkes willentlich und radikal zu ändern. Dies macht Shakespeare in der Schlußszene des Hamlet durch die Worte einer der überlebenden Personen des Dramas deutlich.
Das größte Verbrechen der Politiker und ähnlicher Personen liegt normalerweise nicht darin, daß sie Gewohnheiten verletzen, sondern genau darin, daß sie die bestehenden Gewohnheiten nicht verändern, um zu verhindern, daß ein Volk sich selbst und seine Nachwelt in ein schreckliches Verderben stürzt. Der Grund für die Tragödie ganzer Nationen und Völker ist somit nicht, daß sie gegen Gebräuche und die öffentliche Meinung verstießen, sondern daß sie sich viel zu lange der Autorität des Herkömmlichen und anderer Gewohnheiten beugten.
So werden die Vereinigten Staaten heute von innen durch eine Strömung im Verhalten und in der öffentlichen Meinung zerstört, die entstand, als Nixon vor etwa 35 Jahren als "Südstaatenstrategie" einführte und gleichzeitig das Dogma des einfältigen Wirtschaftsprofessors Milton Friedman übernahm.
Alle großen klassischen Tragödien beruhen entweder auf realen geschichtlichen Ereignissen oder auf einer verbreiteten Sage oder einem Mythos, worin der Untergang einer Nation oder einer Kultur durch ihr Festhalten an ihrem althergebrachten Verhalten geschildert wird. Um dieser Gefahr von innen zu begegnen, wurden in der europäischen Zivilisation, die vor 2500 Jahre oder noch früher in Griechenland entstand, Theateraufführungen klassischer Tragödien als unverzichtbares "pädagogisches" Mittel eingesetzt, um die Gefahren zu untersuchen, die den damals jeweils allgemein anerkannten Gewohnheiten innewohnen. Dabei lieferten Homers Epen die Themen für die klassischen griechischen Tragödien eines Aischylos oder Sophokles. Das klassische griechische Theater erwies sich als der beste Weg, das Bewußtsein der Bürger Athens entsprechend zu heben.
Die moderne klassische Tragödie, die in der sich gegenseitig beeinflussenden Arbeit von Christopher Marlowe, William Shakespeare, Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Schiller entwickelte, stellt gegenüber dem, was das moderne Europa beispielsweise im antiken Athen vorfand, eine höhere Weiterentwicklung dar.
Die Methode, die zu diesem Zwecke entwickelt wurde und bei der Komposition und Aufführung der klassischen Tragödie notwendigerweise zum Ausdruck kommt, ist sehr präzise und läßt sich einfach beschreiben und demonstrieren. Wäre das nicht so, wäre kein Theaterbesucher je von einer gut aufgeführten klassischen Tragödie so bewegt worden, wie es beispielsweise Schiller als bedeutendstem Kopf der nationalen Befreiungsbewegung der preußischen Reformer mit seinen Gedichten und Dramen gelang -- sie rührten die Deutschen seiner Zeit tiefer und revolutionärer, als es je in einem anderen Land geschah. Eine gelungene Aufführung einer großen klassischen Tragödie bewegt die Zuschauer nicht, weil das Publikum durch eine verführerische Illusion getäuscht wurde wie bei einem Zauberkünstler, sondern weil das Publikum zu einem wahren Verständnis des Prinzips geführt wird, das sie rührt.
Menschen, denen das Verständnis für die grundlegenden Prinzipien des klassischen Dramas fehlt, neigen zu der fälschlichen Annahme, das Erfolgsgeheimnis des Theaters läge darin, den Zuschauern eine Illusion vorzugaukeln. Leider ist dieser ungebildete Unsinn die Grundlage für fast alles, was heute in der Film- und Theaterwelt nach dem Vorbild Hollywoods angeboten wird. Wenn wir dagegen z.B. die Erklärung des "Chorus" in der Eröffnungsszene von Shakespeares Heinrich V., betrachten, der sich dort unmittelbar an die Zuschauer wendet, so zeigt sich, daß es nicht um Illusionen geht. Im Zentrum der Bühnenwerke Shakespeares, Schillers u.a. steht vielmehr das sokratische Wahrheitsprinzip, wie es Platon erstmalig ausdrücklich und rigoros in seinen Dialogen dargelegt hat.
Die Kunst der Illusion oder "Magie" spielt den Sinnen des Publikums einen Streich, es geht nur darum, den Sinnen etwas vorzugaukeln, was gar nicht real ist. Als Beispiele könnt man die Effekthascherei aktueller Hollywood-Filme oder einige der jüngsten Präsidentschaftskandidaten anführen.
Im Gegensatz läßt das klassische Theater in Anlehnung an die klassische Dichtung und die Homerschen Epen ein Bild entstehen, in dem das Publikum die Wirkfaktoren erkennt, die den wahren Ausgang des dargestellten Geschehens bestimmen, sich aber der Sinneswahrnehmung entziehen. Zu diesem Zweck bedienen sich der Dramatiker und die Darsteller bestimmter Methoden, um im Geiste des Publikums das Abild gewisser Faktoren auf der Bühne entstehen zu lassen. Dieses "Bild" existiert nur im Geist des Publikums und entsteht dort, ohne daß jemand die Trickkiste der Illusionisten zu Hilfe nehmen muß.
Der Chor ruft das Publikum auf, seine Einbildungskraft zu benutzen ("Einbildungskraft" in einem Sinne verstanden, den ich noch eingehender erläutern werde). Das Stück selbst unternimmt nichts, um die Zuschauer in die Fänge der Illusion zu locken.
So warnt beispielsweise der Chor ausdrücklich, sich in Illusionen ziehen zu lassen, die nicht vom Sehen und Hören des Stückes beabsichtig seien. Shakespeare gibt nicht vor, die tatsächlichen Ereignisse auf die Bühne zu bringen, wie ein Illusionist vorgehen würde. Shakespeare lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf die geistigen Prozesse in den auf der Bühne handelnden Charakteren und auf die Wechselwirkung zwischen diesen Charakteren, die von der Realität jenseits der Bühne, auf die sich das Drama bezieht, abstrahiert sind.
Diese Shakespearsche und Schillersche Vorgehensweise leitet sich, wie die Ansprache des Chors an das Publikum nahelegt, von Platons Höhlengleichnis ab. Ist Ihnen dieser Punkt erst einmal klargeworden, dann haben Sie bereits die größte Hürde genommen, um zu verstehen, was es bewirkt oder nicht bewirkt, wenn Sie sich der Unterhaltung aussetzen. Diese Erklärung hat ihre Wurzeln nicht in der herkömmlichen Auseinandersetzung mit Literatur, wie sie an den Schulen betrieben wird, sondern in der harten Wirklichkeit der physikalischen Wissenschaft.
Wie alle gebildeten Erwachsenen wissen, unterscheidet sich der Mensch in seiner Beziehung zur Natur von den Tieren dadurch, daß er allein fähig ist, experimentell beweisbare physikalische Universalprinzipien zu entdecken. Mithilfe dieser Entdeckungen und der aus ihnen abgeleiteten Technologien ist der individuelle menschliche Geist in der Lage, einen willentlichen und qualitativen Anstieg des sog. "ökologischen Potentials" der ganzen menschlichen Gattung herbeizuführen -- eine Fähigkeit, die keine Tiergattung nachahmen kann.
Nunmehr wenden wir uns dem Kern der Frage zu. Fragen Sie sich selbst: Können Sie ein universales physikalisches Prinzip mit den Augen erkennen? Können Sie ein solches Prinzip als ein Objekt sinnlicher Wahrnehmung definieren?
Mit dem Begriff einer beweisbaren Entdeckung eines physikalischen Prinzips bezeichnen wir etwas, das man nicht sehen, hören, riechen oder berühren kann, sondern vielmehr eine Idee im platonischen Sinne, durch die die Existenzfähigkeit des Menschen im Universum meßbar gesteigert wird. Also sind solche Prinzipien der physikalisch wirksame Grund bestimmter, greifbarer Veränderungen in unserer Beziehung zur Natur. Diese Veränderungen sind meßbare Effekte und sind deshalb "harte und greifbare" Realitäten, aber der wirkliche Grund für diese Veränderungen, die Prinzipien selbst, jene Ideen, sind keine Objekte, die man an sich genommen mit den Sinnen erfassen kann.
Das ist der entscheidende Punkt in Platons Höhlengleichnis. Und von diesem Verständnis der Ideen hängt jede erfolgreiche Komposition und Aufführung einer klassischen Tragödie ab, wenn sie positiv auf das Publikum wirken soll. Das zentrale Anliegen dieses Aufsatzes besteht darin, Ihnen zu zeigen, daß dasselbe Prinzip von Komposition und Aufführung der klassischen Tragödie auch die Grundlage Ihrer geistigen Herangehensweise bilden sollte -- nicht nur, wenn Sie experimentell bestätigte Entdeckungen universaler physikalischer Prinzipien erörtern, sondern in jeder Frage ernsthafter Politik, die Sie erörtern, und sei es mit einem zufälligen Gesprächspartner in einem kurzen Gespräch an einer Straßenecke.
Ich werde Sie nun durch die einzelnen Schritte der Entdeckung eines physikalischen Universalprinzips führen. Danach werde ich darlegen, wie dasselbe Prinzip wissenschaftlichen Denkens auch die Beziehung zwischen dem klassischen Drama und dem Publikum bestimmt. Was ich beschreiben werde, geht bei allen gültigen wissenschaftlichen Entdeckungen so vor sich, sowohl in der Naturwissenschaft als auch in der klassischen Kunst.
Dieses Prinzip, das ich Ihnen nun erneut darlegen werde, ist das Prinzip der sogenannten "Geometrie der Lage", das nicht nur in den bekannten Fällen gilt, sondern -- was noch weit wichtiger ist -- die einzige Art und Weise ist, auf die eine solche Entdeckung gemacht werden kann. Nachdem wir die Sachlage bei der Entdeckung physikalischer Universalprinzipien untersucht haben, werden wir andere Arten von Universalprinzipien untersuchen, die durch dieselbe Art geistiger Aktivität und geistigen Austausches wie bei der Entdeckung und Weitervermittlung physikalischer Prinzipien zu wißbaren und beweisbaren Ideen werden.
Wenn ich nun Ihre Aufmerksamkeit auf diese Prinzipien des geistigen Lebens lenke, die für den wissenschaftlichen Fortschritt genauso wie für die Überwindung kultureller Defizite mancher Kulturen unverzichtbar sind, verfolge ich damit folgendes praktisches Ziel: Ich will die Methoden darlegen, die sich in der Geschichte als unabdingbar bewiesen haben, um die schlimmsten Fehler der gegenwärtigen Welt zu korrigieren.

2. Was sind Ideen?

Das Thema, mit dem wir uns jetzt unmittelbar befassen müssen, ist die funktionale Beziehung zwischen dem klassischen Drama auf der Bühne und dem individuellen Geist eines Zuschauers dieses Dramas. Wenn diese Verbindung deutlich gemacht ist, erkennt der Leser hoffentlich, daß bei der angemessenen Kunst der wahrheitstreuen Diskussion -- etwa beim Gespräch über irgendeine ernsthaften Frage, und sei es nur an einer Straßenecke -- die Beziehung eines Sprechers zu seinem Freund oder Bekannten ein Echo der Situation zwischen dem Drama und dem Publikum bei einer klassischen Theateraufführung ist.
Im weiteren Verlauf dieses Berichts werde ich darlegen können, daß die Person, die dort an der Straßenecke redet, die Rolle des Autors oder Schauspielers annimmt und der Angesprochene solange die Rolle des Publikums. Wenn der andere angemessen antwortet, könnte damit ein Gespräch beginnen, das hoffentlich das Prinzip der sokratischen Dialoge Platons in der heutigen realen Welt wiederbelebt.
Eine solche Beziehung zwischen Menschen im Gespräch über Ideen, wie ich sie definiert habe -- platonische Ideen -- und Fakten im Zusammenhang mit solchen Ideen ist als Diskussionsmethode unabdingbar, wenn man eine Übereinstimmung erzielen will, die man mit Recht als wahrhaftig bezeichnen kann. In diesem spezifischen Sinne kann man von der Wahrheit als einer Qualität sprechen, die am natürlichsten dem Medium der klassischen Künste zu eigen ist. Natürlich ist Wahrhaftigkeit auch in der Naturwissenschaft unabdingbar; sie ist aber, wenn man sie dort findet -- was im heutigen Amerika mit seinem gewohnheitsmäßigen Hang zum Lügen selten ist -- eine Frage der sozialen Beziehungen. Wahrhaftigkeit in der Wissenschaft entsteht durch dieselben sozialen Prozesse, die Gegenstand der klassischen Künste sind.
Wahrhaftigkeit ist eine Qualität von Ideen in dem Sinne, wie Platons sokratische Methode die Realität von Ideen beweist. Die klassische Kunst ist die höchste Autorität der Staatskunst, weil sie das Medium bildet, von dem man am besten ableiten kann, inwieweit die Ideen, von denen sich eine Nation oder Kultur lenken läßt, wahr sind oder nicht.
Umgekehrt gibt es außerhalb des Bereichs der so definierten Ideen keine Wahrheit. Jede wörtliche Interpretation von Sinneseindrücken ist von Natur aus eine Illusion, eine Täuschung, und deshalb eine Lüge. Die Wahrhaftigkeit hängt nicht davon ab, ob wir uns unserer Sinneswahrnehmung sicher sind oder nicht. Nur der Wert, den wir den Ideen zumessen, bildet ihre Grenze -- so wie es Platon im Höhlengleichnis verdeutlicht: Die Schatten an der Wand in einer vom Feuer erleuchteten Höhle sind "falsch", denn die wirklichen Personen und ihre Handlungen werden immer verfälscht dargestellt, wenn man nur jene Schatten interpretiert, die wir Sinneswahrnehmung nennen.
Wenn der Leser erkannt hat, wie das klassische Theater und das einfache, ernsthafte Gespräch einander entsprechen, müßte er auch begriffen haben, daß wir das klassische Theater mit Friedrich Schiller als jenes einzigartige Medium betrachten sollten, durch das ein Volk verstehen kann, wie ein Publikum lernt, wichtige Fragen im Alltagsleben zu diskutieren. Wir müssen dafür sorgen, daß diese Haltung und Praxis in der Bevölkerung in zunehmendem Maße zu der Diskussionsmethode wird, mit deren Hilfe sie als Bürger die Ideen und Politik zur Selbstregierung unserer Republik wählen.
Ich möchte nun verdeutlichen, daß das Prinzip der sog. "Analysis Situs" oder "Geometrie der Lage" die gemeinsame Grundlage der wissenschaftlichen Entdeckung wie auch der Beziehung zwischen der klassischen Tragödie auf der Bühne und dem Geist des Publikums bildet. Damit will ich Ihnen zeigen, wie die heute nahezu unbekannte, praktisch völlig verlorengegangene Kunst kompetenter praktischer Politik wirklich funktioniert. Ich will deutlich machen, daß Sie alle als Bürger diese Aufgabe mit einer gewissen Anstrengung meistern können; dabei wird es Ihnen helfen, wenn Sie sich an entsprechende Diskussionen mit einigen ausgewählten Freunden und Bekannten gewöhnen.
Die einfachste Einführung in das Thema ist der Hinweis auf die große Torheit eines Schulunterrichts, der die heute immer noch übliche sogenannte Euklidische Geometrie völlig zu Unrecht als Maßstab für Wahrheit anerkennt.
Die spezielle Lüge, die dem blinden Vertrauen in eine solche Schulgeometrie zugrundeliegt, ist die Annahme (basierend auf der stets irreführenden Sinneswahrnehmung), daß sich der Raum in seinen drei angenommenen Richtungen nur vorwärts/rückwärts, seitwärts und aufwärts/abwärts unendlich ausdehne und daß sich die Zeit in ähnlicher Weise einfach nur vorwärts und rückwärts ausdehne. Ein typischer Ausdruck dieser Lüge ist die falsche Vorstellung, daß Beziehungen der Materie in Raum und Zeit in elementarster Weise durch "Fernwirkung" definiert sind, wie man diesen Begriff mit Namen wie Galileo, Descartes und Newton verbindet.
Das System, das im Unterricht traditionell als "Euklidische Geometrie" gelehrt wurde, war ein Beispiel für diese Elfenbeinturm-Illusion des infantilen sich auf Sinneswahrnehmung Verlassens. Es ahmte bezüglich Raum, Zeit und Materie eine strikt aristotelische Form und Interpretation von Definitionen, Axiomen und Postulaten nach. Man ging fälschlicherweise davon aus, daß jene von mir grob umrissenen Annahmen über Raum, Zeit und Materie den Ausgangspunkt bildeten, von dem aus scheinbare physikalische Erkenntnisse unserer Sinneswahrnehmung beschrieben und gedeutet werden müßten. Das ist die Elfenbeinturm-Mentalität, die heute noch die allgemein akzeptierte Lehre und die Grundannahmen leichtgläubiger Schüler in der mathematischen Physik vergiftet.
Der Gründer der modernen Astrophysik, Johannes Kepler, hat bewiesen, daß die bis dahin in der Astronomie angewandten Methoden eines Claudius Ptolemäus, Kopernikus, Tycho Brahe -- und später Galileo -- genau deshalb inhärent inkompetent waren. Zwei Entdeckungen vom Anfang des 17. Jahrhunderts unterstreichen einen Punkt, der für das Verständnis der Beziehung des klassischen Theaters zum Publikum von entscheidender Wichtigkeit ist.
Das erste Beispiel ist Keplers Beweis, daß die Umlaufbahn des Mars elliptisch ist, womit er eine Gesetzmäßigkeit des ganzen Sonnensystems definierte. Das zweite ist die Demonstration des großen Fermat, daß das Prinzip der Ausbreitung des Lichts nicht das des kürzesten Wegs ist, sondern das der kürzesten Zeit.
In beiden Fällen war die Methode des Beweises typisch für fast alle sog. entscheidenden Beweise neuentdeckter physikalischer Prinzipien. Im Zusammenhang mit dem klassischen Drama müssen Sie vor allem auf die Implikationen dieser Methode achten.
Die beiden genannten Entdeckungen wurden in erster Annäherung so definiert: Es wurde aufgezeigt, daß die Deutung der beobachteten Phänomene zu absurden Resultaten führte, solange man versuchte, sie nach den von der heutigen elementaren mathematischen Schulphysik geforderten Methoden des Beweises darzustellen.
Anders ausgedrückt: Stellen Sie sich zuerst den Fall vor, daß eine mathematische Aussage "A" den scheinbaren empirischen Sachverhalt wahrhaft darstellt und gleichzeitig auch mit solchen "euklidischen" mathematischen Schemata übereinstimmt. Vergleichen Sie dies dann mit dem Fall, in dem dieselbe Ansammlung empirischer Tatsachen zu einer zweiten Aussage "B" führt, die aber im schroffen Widerspruch zu den impliziten Schlüssen aus der ersten Aussage "A" steht. Das Resultat: Da beide Aussagen ursprünglich aus dem System kommen, gleichzeitig aber auf Resultate weisen, die gegen das System verstoßen, schafft das Zusammentreffen dieser beiden Aussagen eine Situation, die praktisch eine Negation des Systems ist, von dem die beiden Aussagen scheinbar hergeleitet sind. Man nennt dies auch ein ontologisches Paradox. Nachfolgend werde ich den Begriff "Negation" ausschließlich in diesem Sinne gebrauchen.
Bei der Einordnung der Beweise für die elliptische Form der Marsbahn erkannte Kepler, daß dies zu Widersprüchen in der bis dahin vorhandenen Deutung der empirischen Fakten führte. Diese Widersprüche waren Kepler eine Warnung: Es reicht nicht, wenn man nur versucht, die Umlaufbahnen durch das Ziehen einfacher Verbindungslinien zwischen den beobachteten Punkten zu definieren, sondern man muß ein physikalisches Prinzip außerhalb der Euklidischen Geometrie finden. Heute kennen wir die Beweise dafür, daß Kepler recht hatte und alle diejenigen, die an den allgemein anerkannten empiristischen Ansichten festhielten, falsch lagen.
Fermat ging ganz ähnlich vor, um zu zeigen, daß die Lichtbrechung von einem Prinzip bestimmt wird, das man in erster Annäherung als "kürzeste Zeit" bezeichnen könnte (und nicht der "kürzeste Weg"). Weitere Untersuchungen durch Huyghens, Leibniz u.a. führten schließlich zu der modernen relativistischen Hypergeometrie bei Carl Gauß und Bernhard Riemann, in der alle "euklidischen" und anderen "Elfenbeinturm"-Systeme von Definitionen, Axiomen und Postulaten ausgeschlossen sind, und in der -- wie Riemann als erster öffentlich darlegte -- nur experimentell bestätigte Entdeckungen universaler physikalischer Prinzipien die Autorität haben, die man vorher fälschlicherweise willkürlichen aprioristischen Axiomen zugemessen hatte.
Diese Methode der modernen Physik ist nachweislich in der Arbeit Platons und anderer vorweggenommen worden. Sie ist auch in den Methoden der modernen experimentellen Wissenschaft verankert, die Mitte des 15. Jahrhunderts von Kardinal Nikolaus von Kues und seinen berühmten Schülern und Nachfolgern wie Leonardo da Vinci begründet wurde. Kepler beispielsweise bezog sich bei seiner Entdeckung und ersten Entwicklung der Astrophysik in hohem Maße und ganz ausdrücklich auf Kues, Leonardo und auch Platon. Aber die eigentliche Entwicklung der physikalischen Wissenschaft bis heute nahm ihren Aufschwung erst mit dem Beginn der Krise der Physik im 17. und 18. Jahrhundert, die durch Keplers Werk hervorgerufen wurde.
Die Entwicklung der klassischen Tragödie durch Marlowe, Shakespeare, Lessing und Schiller unterscheidet sich von der antiken griechischen Tragödie auf eine besondere Art und Weise, die dieser Krisenperiode des 16. Jahrhunderts im Zuge der Ideenrevolution der Renaissance des 15. Jahrhunderts eigen ist. Die Entwicklung der neuzeitlichen klassischen Kunst und die der neuzeitlichen Wissenschaft haben eine gemeinsame Geschichte und entsprechende eindeutige gemeinsame Merkmale.
Wir beziehen uns hier allerdings nur auf wissenschaftliche Fragen, um zu zeigen, wie dieselben Prinzipien der Entdeckung auch die klassische Kunst im allgemeinen, und die Beziehung der klassischen Tragödie zu ihrem Publikum im besonderen, entscheidend bestimmen.
Das Gemeinsame von Wissenschaft und Kunst, auf das wir uns hier konzentrieren, sind die Implikationen der sog. "Geometrie der Lage". Als Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst wende ich mich nun der klassischen musikalischen Komposition zu, die auf genau den Prinzipien beruht, die das klassische Drama mit dem Geist des Zuschauers verbinden.

Die Kunst der Fuge

Mit seiner Kunst der Fuge stellte der Gründer der modernen klassischen musikalischen Kompositionsmethode, Johann Sebastian Bach, eine geordnete Reihe pädagogischer Übungen vor, die praktisch den Entwicklungsprozeß seines Lebenswerks bis kurz vor seinem Tod 1750 nachvollzieht.
Das dort dargestellte Prinzip kam schon früher in seinem Musikalischen Opfer zum Ausdruck. Wolfgang Amadeus Mozart studierte dieses Werk ab etwa 1782 sehr intensiv, und er vereinte das, was er von Joseph Haydn und von Bach gelernt hatte, zu der als klassische Durchkomponierung oder "Motivführung" bezeichneten Revolution in der Komposition klassischer Polyphonie, wie man sie von Komponisten wie Mozart, dem späteren Haydn, Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann und Brahms kennt. Ich möchte anhand dieses Begriffs des "Durchkomponierens" die Beziehung einer adäquaten Aufführung einer klassischen Tragödie zum Publikum aufzeigen.
Das Prinzip, das Bach explizit in seiner Kunst der Fuge darlegt, ist eine direkte Reflexion der beschriebenen Methode von Kepler, Fermat usw. Wer solche klassische Musik komponieren oder aus einer musikalischen Idee ein Lied vergleichbarer Qualität entwickeln will, muß die nachfolgenden elementaren Schritte vollziehen.
Man setze ein Intervall oder eine Intervallgruppe aus drei Tönen in einer wohltemperierten Tonleiter, bezogen auf etwa c'=256 Hz. Dann füge man eine ergänzende Aussage hinzu, bei der man die Anordnung jener ersten Intervallgruppe teilweise umkehrt. Man tue dies so (als erste Annäherung in einem einfachen Beispiel), daß zwar beide Gruppen von derselben angenommenen Tonart herrühren, ihre Gegenüberstellung aber unausweichlich durch eine Entwicklung führt: Durch eine Reihe von Quasi-Dissonanzen, wie man mit dem sog. lydischen Intervall verbindet (Abbildung 1). Bachs Musikalisches Opfer ist ein Modellbeispiel dafür. Mozarts Rekapitulation dieses Werks in seiner Klavierfantasie KV 475 zeigt zusammenfassend seinen revolutionären Schritt, der für alle nachfolgende klassische Durchkomposition richtungsweisend war (Abbildung 2).
Sehen Sie darin den Nachhall des erwähnten ähnlichen Konzepts von Kepler und Fermat. Indem auf diese Weise eine musikalische Dissonanz erzeugt wird, entsteht eine Wirkung, die mit den erwähnten Paradoxa aus der Physik in Form und Auswirkung identisch ist. In der Musik erkennt man die zu diesem Zweck eingesetzten Umkehrungen als Dissonanzen, weil sie -- vorausgesetzt, sie werden im Verlauf der Komposition wieder aufgelöst -- transzendentale Tonarten schaffen, die über den Bereich der 24 Dur- und Molltonarten hinausgehen -- so wie entdeckte Universalprinzipien jenseits und außerhalb der Grenzen des axiomatischen Systems liegen, in das sie eingeführt werden.
In diesem Sinne negieren paradoxe Gegenüberstellungen wie diese durch musikalische kontrapunktische Umkehrung erzeugten das System, in das sie eingeführt werden, so wie Keplers und Fermats Entdeckungen das System der Annahmen, in das sie eingeführt werden, negieren. Allein in diesem Sinne verwende ich im folgenden den Begriff der Negation. Sie bezeichnet ein Paradox, das uns zwingt, die Wirklichkeit in Prinzipien zu finden, die außerhalb eines Bezugssystems axiomenähnlicher Annahmen liegen. Solche Paradoxa negieren also das Bezugssystem axiomenähnlicher Annahmen.
Betrachten wir nun den berühmten Monolog des Hamlet vom Standpunkt der Negation. Die Aussage und ihre Umkehrung sind hier: "sein" und gleich danach "oder nicht sein". Hören Sie einmal jemandem zu, der diesen Monolog zu rezitieren versucht -- vielleicht sogar ein berühmter Schauspieler --, und erklären Sie dann demjenigen, der neben Ihnen steht, warum der Rezitator meistens keine Ahnung hat, was er sagt.
Lesen Sie den Monolog. Finden Sie heraus, wie ein Schauspieler nach Shakespeares Absicht den Hamlet spielen und den Monolog sprechen sollte. Ich gebe Ihnen einen Hinweis als Hilfe. Betrachten Sie die letzte Szene des ganzen Stücks; vergleichen Sie die Worte des Fortinbras mit der von Horatio vorgeschlagenen Alternative, nämlich die ganze Tragödie noch einmal vorzuführen, bevor man etwas anderes tut (siehe Kasten).
Damit der Vergleich einfacher wird, denken Sie an den Dialog über die Prinzipien des Rechts zwischen Sokrates, Trasymachos und Glaukon in Platons Staat. Das Prinzip von agape aus dem 1. Korintherbrief 13 des Paulus, das Sokrates dort anwendet, wird zu dem höheren Standpunkt, von dem aus die Negation zwischen Sokrates, Trasymachos und Glaukon durch die Entdeckung eines entsprechenden höheren Prinzips überwunden wird. In Shakespeares Hamlet hingegen ist das höhere Prinzip, auf das das Publikum kommen soll, die Negation von Hamlets Torheit -- daß er, wie er selbst kundtut, lieber sich selbst und das Königreich Dänemark dem Untergang weiht, als seine kriegerischen "Macho"-Gewohnheiten aufzugeben. Typisch für die Auflösung auf höherer Ebene in der klassischen, durchkomponierten Musik ist Brahms' Behandlung der agape aus 1. Korinther 13 am Ende des letzten seiner Vier Ernsten Gesänge; diese höhere Auflösung ist typisch für die Gedichtvertonungen von Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms u.a.
Damit sind wir schon beim Wesen der modernen klassischen Tragödie angelangt. Man muß aber noch ein zweites Prinzip untersuchen, ohne das man die Kunst guter Komposition und Aufführung klassischer Musik, Poesie und Tragödie weder meistern noch verstehen kann. Worum es geht, wird deutlich, wenn man die Funktion des Musikalischen bei der Komposition eines "Gedichts ohne Worte" oder "Lieds ohne Worte" betrachtet. Nur so kann man die größten Werke der Dichtkunst verstehen. Dies vertrat Schiller nachdrücklich gegenüber Goethe, der zögerte, diese höhere Ebene der Musikalität der Poesie, wie sie in den Liedkompositionen von Mozart, Beethoven, Schubert (implizit auch später bei Schumann und Brahms) zum Ausdruck kommt, anzuerkennen.

3. Lieder ohne Worte

Menschen, die sich noch kein kompetentes Kunstverständnis erworben haben, begehen normalerweise den schrecklichen Fehler, die Bedeutung eines klassischen Gedichts primär in dessen wörtlicher Aussage zu suchen. Leider sind es oft gerade solche irregleiteten Leute, die Texte rezitieren und so den Ruf der Poesie mit ihrer schrecklichen, abstoßenden, unschönen und oft bombastischen Art zu ruinieren drohen.
Sehr Nützliches sagte dazu kürzlich der berühmte Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, der in seiner Jugend mit dem großen Dirigenten Wilhelm Furtwängler zusammenarbeitete und am Beginn seiner Laufbahn in den 50er Jahren von vielen, auch von mir, als möglicher Nachfolger von Heinrich Schlusnus gesehen wurde. Was Fischer-Dieskau im Rahmen der Sendung zu seinem 70. Geburtstag im deutschen und französischen Fernseh über Sprache, Musik und Poesie darlegte, ist in Bezug auf die eben gestellte Frage außerordentlich wichtig und sollte von allen guten Musikern, besonders Sängern, studiert werden. Dieselbe Qualität sah man (im deutschen Repertoire) in der Arbeit von Getrude Pitzinger, einer lieben, vor kurzem verstorbenen Freundin, und bei den anderen ganz Großen. Aus Gründen, die ich noch darlegen werden, bringt diese Untersuchung besonders für die Kunst, aber auch für die Menschheit als ganze, großen Gewinn.
Diese Musikalität eines klassischen Gedichts muß den Dichter und den Schauspieler leiten (im Gegensatz zu den schrecklichen Manierismen eines Sir Lawrence Olivier). Sie ist entscheidend, wenn man erkennen will, wie z.B. eine gelungene Shakespeare-Aufführung die tiefsten, verborgensten Bereiche der kognitiven Fähigkeiten und der Leidenschaften im Geist des Publikums erreicht. Sie ist auch der Schlüssel zur Erkenntnis des Grundprinzips der Komposition der größten klassischen Instrumentalwerke und der Beziehungen zwischen den Sängern und dem Chor der Instrumentalstimmen in großen klassischen Werken im allgemeinen.
Kehren wir zurück zu dem Prinzip der Umkehrung in den erwähnten Komposition Bachs und Mozarts.
Eine der Regeln für die Entwicklung einer langlebigen und schönen Singstimme ist die strikte Beachtung der Standards der sog. Florentiner Belcanto-Singschule und der mit ihr verwobenen streng wohltemperierten Reihe von (Keplerschen, astrophysischen) Umlaufbahnen (Tonhöhen) der Singstimme, wie sie durch Bachs Methode des polyphonen Kontrapunkts definiert sind. Die besten Sänger müssen ihre natürlichen Anlagen sorgfältig pflegen, trotzdem existieren diese Anlagen nicht nur als natürliche Prädisposition des Apparats der menschlichen Sing- und Sprechstimme, sie sind auch -- was leider meistens übersehen wird -- angeborene Qualitäten der menschlichen Geistesprozesse, besonders der leidenschaftlichen Attribute der Erkenntniskraft.
Diese Erwägungen sind entscheidend, wenn man klassische poetische Werke vortragen oder als Hörer verstehen will.
Die wichtigste Konsequenz aus diesen Erwägungen für den Gegenstand dieser Schrift ist die folgende.
Beim klassischen Lied und im musikalischen Satz eines klassischen Gedichts sind wir mit zwei funktional unterschiedlichen Arten musikalischer Ordnung konfrontiert. Eine Ordnung wird durch die Belcanto-spezifische Vokalisation der Poesie selbst bestimmt. Die andere ist bestimmt von den Kompositionsprinzipien der wohltemperierten kontrapunktischen Durchkomponierung.
Ersteres heißt, daß in jeder Sprache oder Dialektvariante jeder Übergang von einem Vokal zum anderen einer bestimmten relativen Tonhöhe entspricht. Dies verbindet sich mit der Wirkung der Konsonanten. Und so weiter. Wenn er ein Gedicht wörtlich wiedergeben will, so wird ein gebildeter Sprecher -- von denen unsere Schulen und Universitäten in den letzten Jahrzehnten zugegebenermaßen nur sehr wenige hervorgebracht haben -- tendenziell der musikalischen Linie der sog. natürlichen Prosodie, d.h. dem scheinbar natürlichen musikalischen Ausdruck der Sprache folgen. Der gebildete Sprecher liest das Gedicht also wie eine musikalische Partitur.
Diese Ansicht vertraten auch Goethe und sein Anhänger Reichardt in Bezug auf die Vertonung von Goethes eigenen Gedichten. Wenn man Reichardts Vertonungen hört, so wird Goethes Standpunkt in dieser Frage deutlich. Schiller, Mozart, Beethoven und Franz Schubert waren anderer Ansicht. Die Unterschiede in der Bearbeitung Goethescher Poesie durch Reichardt einerseits und Mozart, Beethoven und Schubert andererseits liefern uns das beste Illustration unseres Problems.
Schillers Herangehensweise an die Musikalität klassischer Poesie ist (etwas vereinfacht gesagt) die richtige. Seine Argumente gegen Goethe und Reichardt lassen sich durch Mozarts, Beethovens und Schuberts Goethe-Bearbeitungen und anderen Lieder sowie die späteren Liedkompositionen Schumanns und Brahms' sehr elegant in der Praxis belegen. Bei diesen Komponisten wird die musikalische Lesart der Prosodie vor allem von Bachs wohltemperierter kontrapunktischer Polyphonie beeinflußt. Der Unterschied ist, daß durch diese Methode ein wohltemperiert durchkomponiertes Werk entsteht.
Wenn die kontrapunktische Idee an die Stelle der naiveren prosodischen Lesart des Gedichts tritt, darf der Sprecher oder Sänger niemals musikalisch vom einfachen prosodischen Vortrag der poetischen Linie abweichen, nur um ihr willkürlich seine Meinung aufzuzwingen. Er muß dafür einen gesetzmäßigen Grund haben. In der Kunst darf nichts willkürlich sein, niemals. Nur Romantiker bestehen auf willkürlichen, irrationalen Einfällen, deren Kunstanspruch sich auf die Annahme beschränkt, daß völlig irrationale Werke wie z.B. die Richard Wagners unergründlich mysteriös und deshalb unglaublich künstlerisch und auch sexy seien. Es muß immer eine bestimmte Notwendigkeit herrschen, wie in der Wissenschaft auch. Dieses steuernde Vernunftprinzip muß von der kontrapunktischen Entwicklung geliefert werden, die von dem Funken der wohltemperierten Motivführung (Durchkomponierung) abgeleitet ist und allen Einzelheiten zugrundeliegt.
Wenn wir die Aufgabe der Vertonung von Poesie von dieser Warte betrachten, stößt uns das so deutlich wie möglich auf den Kern der Methode, mit der die edelsten Kompositionen und Aufführungen klassischer Tragödien eines Shakespeare oder Schiller dem Publikum eine kognitive Leidenschaft vermitteln wie keine anderen vergleichbaren Werke.
Das führt uns direkt zur höchsten Ebene der Kunst der Politik. Es lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, wie eine gut aufgeführte klassische Tragödie im Geist eines empfänglichen Zuhörers einen bestimmten Zustand erzeugt. Die Wirkung ist im allgemeinen ähnlich wie die eines gut dargebotenen Liedes oder einer Verdi-Arie, z.B. der berühmte Monolog des Simon Boccanegra oder die Arie des sterbenden Posa in Don Carlos oder der haßerfüllte Monolog des Jago, den Verdi seiner Bearbeitung von Shakespeares Othello nachträglich hinzufügte. Die besten Sänger lieben solche Rollen, weil sie durch ihre gute Aufführung den Geist des individuellen Zuhörers tief bewegen können. Das Publikum liebt und schätzt solche Aufführungen aus demselben Grund. Das ist die Grundüberlegung bei einer wirkungsvollen Aufführung einer großen klassischen Tragödie von Shakespeare oder Schiller.
Meine Absicht hier ist die, daß Sie, der Leser, zumindest ansatzweise die Fähigkeit entwickeln, nach diesem Prinzip in den Geist ihrer Gesprächspartner hineinzuwirken. Sie sollten es als Grundlage der Komposition der Platonischen Dialoge erkennen. Das ist das Prinzip, das die größten Dichter und, wie gesagt, die klassischen Tragödien Shakespeares oder Schillers in der Praxis zum Ausdruck bringen.
Klassische Schönheit ist kein Objekt, das man bewundernd oder vielleicht sogar lustvoll betrachtet. Sie ist eine Beziehung zwischen Menschen, eine Beziehung zwischen den kognitiven Prozessen des Künstlers einerseits und denen des Publikums andererseits. Nur in den klassischen Künsten, die die Menschheit entwickelt hat, kann eine solche Kommunikation wirksam stattfinden.
Eine solche Kunst sinkt niemals zur Banalität reiner Unterhaltung herab. Sie hat eine heilige geistige Qualität, weil sie eine Fähigkeit der menschlichen Erkenntnisprozesse ausdrückt, das Gesetz, daß alle Menschen als Ebenbild des Schöpfers geschaffen sind, zu feiern und durchzusetzen. Das macht die überragende moralische Autorität großer klassischer Kunstwerke und ihrer Aufführung aus. Hier entspringt die moralische Autorität, die die Dichter zu den wahren Gesetzgebern der Menschheit macht, wie Shelley feststellt. Hier liegt die Macht der klassischen künstlerischen Komposition, der hinsichtlich der sozialen Kraft keine andere Kommunikationsform je gleichkommt.
Betrachten wir nun, über welche "Mechanismen" die klassische Tragödie tief in die kognitiven Geistesprozesse der Zuschauer reicht. Wie läßt sich die scheinbare Spannung zwischen den beiden Begriffen von Musikalität -- der Prosodie und der Wohltemperierung -- auflösen?

Wie man ein Gedicht komponiert

An dieser Stelle muß ich zugeben, daß ich früher einmal, vor etlichen Jahrzehnten, auch selbst klassische Gedichte verfaßt habe. Das Resultat war ganz passabel, aber der böse Zeitgeist, der meine Zeit völlig in seinem teuflischen Griff hatte, schloß es leider aus, daß die gleichgültigen Zeitgewohnheiten sich von derlei Produkten stören ließen.
Ich tröstete mich damit, daß ich durch diese Beschäftigung die Grundbegriffe einer solchen Komposition ausreichend begriffen hatte, und daß dies einiges zu den wesentlichen Einsichten beitrug, die meine Entdeckungen im Bereich der physikalischen Wirtschaftswissenschaft möglich machten. Dank dieser Erfahrungen, dank dessen, was ich als Lehrling von großen klassischen Kompositionen lernte, kann ich Ihnen jetzt eine zuverlässige Zusammenfassung der Methoden zur Komposition eines modernen klassischen Gedichts geben. Es ist natürlich nur eine Annäherung, aber was die wesentlichen Grundprinzipien betrifft, ist es exakt und akkurat.
Wer ein klassisches Gedicht komponieren möchte, sollte die Frage des Textes zumindest eine Zeitlang zurückstellen und sich statt dessen auf die elementarsten Prinzipien von Bachs Kontrapunkt konzentrieren.
Nehmen wir dazu einmal an, Sie hätten einen fruchtbaren musikalischen Geist entwickelt, jedenfalls in dem Maß, daß Ihre Gedanken von einer Überfülle musikalischer Ideen umgetrieben werden, so wie ich sie oben erwähnt habe: Aussage und Umkehrung, wie bei Kontrapunkt, der potentiell zu klassischer Motivführung führt. Aus diesem (wie der Drucker sagen würde) "Defektenkasten" stereotyper musikalischer Elemente wählt der befähigte Dichter eine musikalische Idee, die nach seinem Verständnis potentiell eine sinnreiche Beziehung zu der Musikalität eines bestimmten Fragments prosodischen Textes hat.
Wenn dieser Dichter die implizite Lehre der poetischen Musikalität von Schiller, Mozart usw. begriffen hat, dann dient diese kontrapunktische Idee als Triebkraft für die Ausarbeitung der Entfaltung und Auflösung des fraglichen prosodischen Elements. Gute Illustrationen dieses Prinzips sind Mozarts Vertonung von Goethes Veilchen und allgemein die Veränderungen, die Mozart, Beethoven und Schubert bei Vertonungen an Goethes Gedichten vornehmen, sowie die verschiedenen Liedkompositionen von Schubert und Schumann. Eine besonders faszinierende und fruchtbare Beziehung zeigt sich, wenn man Schuberts Heine-Vertonungen mit denen Schumanns vergleicht.
Wenn er sich von dieser Partnerschaft zwischen Kontrapunkt und Prosodie leiten läßt, wird ein guter Dichter -- ob er sich ihr nun bewußt ist oder nicht -- sozusagen auf Himmelswogen zur vollständigen Ausführung der Keimidee getragen: Er entfaltet die überzeugende, abgeschlossene Entwicklung des Gedichtes als Ganzem. Wer dies ausreichend verstehen möchte, dem mag es genügen, sich auf die Bedeutung der Reihe lydischer Intervalle in einer kurzen Komposition wie Mozarts Ave verum corpus oder der früher entstandenen Abendempfindung zu konzentrieren. Wenn ein solches Lied aufgeführt wird, merken wir, daß es von der Kraft bzw. Leidenschaft des kontrapunktischen Prozesses auf das Ziel hingetrieben wird: Die Vollendung einer einzigen, absolut kohärenten Idee, zu deren Ausdruck nicht weniger und nicht mehr notwendig ist als genau das, was komponiert und aufgeführt wurde.
Bis zu diesem Punkt habe ich die wichtigsten Formalitäten der Angelegenheit beschrieben. Nachdem das gesagt ist, wenden wir uns nun dem Kern der Sache zu: Wie wirkt das alles im Geist des Zuhörers?
Dafür braucht man vielleicht mehr als nur eine routinemäßige Bekanntschaft mit dem klassischen Lied, aber durch entsprechende Arbeit läßt sich das Grundprinzip auch empirisch ableiten. Wenn man an klassische durchkomponierte Lieder denkt, drängt sich die Idee auf, "Lieder ohne Worte" zu schreiben -- auf eine erstaunliche, ja überwältigende Art und Weise. Ohne Worte stellt solche Musik, ja jede durchkomponierte klassische Musik, eine ganz bestimmte Idee, eine Idee ohne Worte dar. Deswegen erscheint es mindestens so sinnvoll, Musik mit Worten zu versehen, wie Worte zu vertonen. Jeder wirklich begabte Instrumentalmusiker erkennt leicht diese gewisse Qualität, die zwischen den Noten liegt. Sie wird gute ausführende Künstler leiten -- während einige andere, auch wenn sie technisch gut ausgebildet sind, an ihr scheitern werden.
Diesen Erfolg gelungener Aufführungen "zwischen den Noten" sollten wir als den empirischen Beweis dafür nehmen, daß die Qualitäten im Geist des Komponisten und ausführenden Musikers, die klassische Werke in die virtuelle Seele im Geist des Publikums reichen lassen, nur deshalb so erfolgreich wirken können, weil zwischen den entsprechenden Aspekten der schöpferischen Erkenntnisprozesse der Beteiligten eine Resonanz besteht.
Dies sollte uns sagen -- und dafür gibt es schlüssige Beweise "mit Hand und Fuß" --, daß die den wohltemperierten, durchkomponierten Werken zugrundeliegende Musikalität sowie die Verwendung von Prosodie in Form von Gedichten oder klassischen Tragödien wesentliche, d.h. unverzichtbare Qualitäten der individuellen menschlichen Schöpferkraft an sich sind.
In diesem Sinn und Maße ist ein Mensch, der auf Kompositionen und Aufführungen klassischer Dichtung, Musik und Tragödien nicht reagiert, emotional und kognitiv ein Analphabet: Ihm fehlt die Entwicklung der sonst angeborenen, natürlichen Fähigkeit des menschlichen Individuums, auf kognitive statt nur deduktive Weise zu denken und zu kommunizieren. Diese Obertöne solcher Musikalitätsprinzipien sind demnach mit der Funktion der Kunst der Ironie -- ganz besonders der Metapher -- untrennbar verbunden. Ohne einen gewissen Bildungsstand der Erkenntniskraft wäre kein Mensch fähig, für ein scheinbar unlösbares Paradox -- z.B. das von Hamlets Monolog -- eine Lösung zu finden. Genau aus diesem Grund kann sich ein ganzes Volk, eine ganze Nation, eine ganze Zivilisation durch eine selbstverschuldete Katastrophe den eigenen Untergang bereiten.
Deshalb muß es das Anliegen der führenden Persönlichkeiten einer Gesellschaft sein, diese Erkenntniskräfte des individuellen Geistes zu wecken und anzusprechen, indem die zur Erkenntnis kognitiver Lösungen von Paradoxen notwendige Leidenschaft durch die Musikalität hervorrufen wird. Um diesen Punkt klar ersichtlich zu machen, kehren wir nun zur Frage der Geometrie der Lage zurück.

Sich an Ideen heranarbeiten

Ideen der klassischen Kunst haben die gleiche Geometrie wie Ideen in Form nachgewiesener Entdeckungen physikalischer Universalprinzipien. Wie der Fall einer elementaren Idee einer kontrapunktischen Aussage und ihrer Umkehrung illustriert, tauchen alle Ideen im menschlichen Geist durch sokratische Negation auf.
Das heißt, daß die durch Negation aufgestellte Idee nicht in den expliziten Elementen der entsprechenden Bestandteile der Konstellation existiert. Sie existiert scheinbar nur in der Lücke, der Diskontinuität, die durch das Widersprüchliche in der Konstellation entsteht. Die Idee erscheint als eine nachweislich wirksame Lösung des Paradoxes, das durch die Konstellation aufgeworfen wird, doch außerhalb aller Elemente dieser Konstellation existiert. Das Urbild derartiger Paradoxlösungen ist die Entdeckung eines empirisch bewiesenen physikalischen Universalprinzips. Zu betonen ist dabei, daß alle künstlerischen Idee genau die gleiche Form haben wie eine solche Entdeckung.
So ist etwa die Zusammenstellung des ersten Absatzes dieser Schrift typisch dafür, wie ein Schriftsteller oder Redner versucht, die Formalitäten zu durchbrechen, um die Erkenntnisprozesse im Geist des Publikums anzuregen. Es ist richtig, zusammen mit Senator Eugene McCarthy zu lachen, wenn es um seine Rezitationen geht. Es ist richtig, über Lincolns Shakespeare-Rezitationen vor seinen Ministern nicht zu lachen. Es ist also albern, die Bedeutung der klassischen Kunst bei der Gestaltung der Weltgeschichte herabzuwürdigen. Warum? Das wirft ein Paradox auf. Was ist die Lösung dieses Paradoxes?
Es ist der Sinn jeder ernsthaften Kommunikation -- sogar eines Gesprächs an der Straßenecke --, die inneren Erkenntniskräfte des Gesprächspartners ins Spiel zu holen. Nur wenn man diese kognitiven Prozesse herausfordert, lassen sich die realen Paradoxe des realen praktischen Lebens in kognitiv erzeugte Kenntnis von Lösungen für diese Probleme verwandeln. Es gibt keine anderen Lösungen für echte Paradoxe des realen Lebens.
Die Funktion der klassischen Tragödie besteht darin, von Anfang an die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen, indem eine paradoxe Situation -- eine dramatische Geometrie der Lage -- dargestellt wird, die als Lösung nur die Erzeugung einer kognitiven Entdeckung im Geist des einzelnen Zuschauers zuläßt.
Wenn dieses unmittelbare Ziel erreicht wird, wird das sich entfaltende Drama in die Vorstellungskraft des einzelnen Zuschauers versetzt. Man will unbedingt den potentiell tödlichen Fehler einer empiristischen oder materialistischen Fehlinterpretation der Schatten in Platons Höhle vermeiden. Dem Theater stellt sich also die Aufgabe, den Geist des Publikums so zu durchdringen, daß dieses statt der Theaterbühne -- der Höhlenwände -- vor seinem geistigen Auge die eigentlichen Figuren und Handlungen sieht, welche die Bilder auf den Wänden dieser "Höhle", der Bühne, erzeugt haben.
Wenn der Geist des Zuschauers dies akzeptiert hat und das Drama von der "Höhlenwand" Theaterbühne auf die Bühne in seiner Erkenntnis- und Vorstellungskraft verlegt, dann hat die Aufführung eines klassischen Kunstwerks begonnen.
Das reicht jedoch nicht aus. In solchen Dingen gibt es keine deduktiven Lösungen an sich -- es muß Leidenschaft da sein. Die Musikalität des Dramas liefert das unverzichtbare Medium dieser Leidenschaft. Deshalb muß die moderne klassische Bühne lernen, zu singen. Sie muß von den Prinzipien der klassischen Prosodie ausgehen. Damit die Motivführung wirken kann, muß diese Musikalität von einer guten Bildung in der Kunst der klassischen Motivführung beeinflußt und geformt sein.
Wenn Sie dazu etwas sagen, könnte es sein, daß das, was Sie sagen wollen, nicht mit der Art und Weise übereinstimmt, wie Sie es sagen. Das sollte für Sie ein Grund zur Sorge sein. Sie sollten sich deshalb selbst erfrischen, indem Sie ihre Seele in klassischen Gedichten und Liedern baden, damit Ihr Geist sich besser darauf einstellt und daran gewöhnt, sich auf jene wirksame Art und Weise auszudrücken, für die die klassische Kunst als Leitstern dasteht.


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Jede Renaissance begann in finsteren Zeiten

Von Gabriele Liebig


Finstere Zeiten und Renaissancen
Homer

Solon

Platon

Christentum

Die islamische Renaissance

Die Goldene Renaissance

Das Gespräch

Schlußbemerkung

Wie geht man um mit der Weltkrise? Die einen weigern sich, den Ernst der Lage überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, andere versinken in lähmendem Pessimismus. Um die Krise klar zu erkennen und doch nicht den Mut zu verlieren, sie überwinden zu helfen, braucht man die universalhistorische Weitwinkelperspektive eines Friedrich Schiller. Der folgende Text beruht auf einem Vortrag, den die Verfasserin im Januar 2002 in Kalifornien gehalten hat.

Nach den Anschlägen vom 11. September erschien in einer deutschen Zeitung ein treffendes Cartoon. Die Szene spielt während der abendlichen Fernsehnachrichten. Der Ehemann hat sich den Wohnzimmerteppich über die Ohren gezogen, man sieht bloß eine Ausbeulung. Die Gattin gibt Entwarnung: "Schatz, die Nachrichten sind vorbei. Es kommt nur noch das Wetter!"

In der Tat kann einen angesichts der meisten Ereignisse auf der Weltbühne das kalte Grausen packen. Wirtschaftlich und politisch befindet sich die Menschheit zweifellos auf dem Abstieg in ein neues finstereres Zeitalter. Bis vor wenigen Monaten war dies ein allmählicher Niedergang, doch seit dem 11. September steuern wir mit großer Geschwindigkeit auf den Abgrund eines weltweiten "Kriegs der Kulturen" zu. Wie wir an anderer Stelle ausführlich erläutert haben, sind die Ereignisse des 11. September und die damit verknüpfte Kriegsdynamik eine direkte Folge und Reaktion auf den Zerfall des Weltfinanzsystems. Wer diesen Zusammenhang nicht erkennt, dem wird es letztlich nicht gelingen, die Kriegsdynamik aufzuhalten, selbst wenn er die besten Vorsätze hätte.

Das Problem ist, daß den meisten Regierungen dazu der historische "Weitwinkel", den Schiller mit dem Begriff "Universalgeschichte" umriß, fehlt. Und in der Bevölkerung sieht es in dieser Hinsicht auch nicht besser aus. Während die Jüngeren, die noch nie eine größere Krise erlebt haben, sich eher in Realitätsverleugnung üben, gewinnt bei vielen Älteren, die den negativen Zug der Zeit durchaus spüren und noch verhängnisvollere Dinge kommen sehen, ein düsterer Fatalismus die Oberhand. In beiden Fällen ist die Folge, daß keinerlei Maßnahmen zur Überwindung der enormen Krise unternommen werden. In den USA, mehr noch als in Europa, breitet sich eine irrationale "Endzeitstimmung" aus.

Aber die Tatsache, daß die menschliche Zivilisation hochgefährdet ist, heißt keineswegs, daß nun das "Ende der Geschichte" nahe wäre. Schließlich reicht die Geschichte der Menschheit weiter zurück als die letzten drei Jahrzehnte, in denen es, zugegebenermaßen, bergab ging. Wenn wir zeitlich und geographisch unseren Blick ausweiten und mit unserem geistigen Auge den großen Horizont der Universalgeschichte der Menschheit erfassen, dann stellen wir fest: Es gab auch früher finstere Zeiten, die überwunden wurden. Dies gelang nicht immer, aber viele Male.

Finstere Zeiten und Renaissancen

Tatsächlich hat jede Renaissance in einer finsteren Zeit ihren Anfang genommen. Und im Gegensatz zu dem, was viele Menschen glauben, ist die Geschichte kein automatischer Vorgang. Sowohl finstere Zeitalter wie Renaissancen werden von Menschen gemacht. Finstere Zeiten gehen auf die böse Absicht von wenigen, und die Dummheit von vielen zurück. Und Renaissancen sind das Ergebnis gezielter Aktivitäten bestimmter Menschen mit guten Ideen, die entsprechende Aktivitäten entfalten, um die Unterstützung ihrer Zeitgenossen für diese Ideen und deren Umsetzung auf breiter Ebene zu gewinnen.

Was ist ein finsteres Zeitalter? Hauptkennzeichen sind eine wirtschaftliche Kollapsspirale und endlose Kriege, der Verfall der Lebensbedingungen der allgemeinen Bevölkerung, so daß ihre Zahl bald schrumpft, sowie eine Verödung der Bildung und Kultur im allgemeinen. Jede Generation weiß und begreift dann weniger als die Generation vor ihr, und nach einer Weile können bestimmte Fähigkeiten und Künste ganz und gar verschwinden und in Vergessenheit geraten.

Im Zuge einer Renaissance wird genau dieser Prozeß umgekehrt, und mehr als das. Sie beginnt im Reich der Ideen, indem alte Ideen wieder ausgegraben und neue hinzugedacht werden. Ausgehend von diesen Ideen und ihrer Einführung in die Kultur und Ökonomie, in das Bildungswesen und in den politischen Entscheidungsprozeß wird die Gesellschaft wieder aufs richtige Gleis gesetzt. Und wenn es sich um eine echte Renaissance handelt, dann erreicht die Kultur und Zivilisation nun ein weit höheres Niveau als je zuvor.

Da unser heutiges "finsteres Zeitalter" schon recht weit fortgeschritten ist (wenngleich es noch sehr viel schlimmer kommen kann), stellt sich die Frage: Wie verwandeln wir ein finsteres Zeitalter in eine Renaissance? Schon im Februar 2002, als George W. Bush gerade das Präsidentenamt angetreten hatte, schrieb Lyndon LaRouche einen längeren Essay mit dem Titel "Können wir das Universum verändern?". Darin ging es um genau diese Frage:

"Es ist prinzipiell zu ergründen, zu welchem Grade, wie und mit welchen Mitteln der Mensch ein Vorwissen der Methode erlangen kann, womit er die gegenwärtige schicksalhafte Richtung seiner Gesellschaft auf bestimmte Weise zum Besseren wenden kann? Und ob es möglich ist, auch die ungeheure und scheinbar unweigerliche Katastrophe abzuwenden, die derzeit auf uns zukommt?

Welche bewußten oder impliziten Grundannahmen im gegenwärtigen Verhalten der politischen Entscheidungsträger müssen wir ersetzen, und womit müssen wir sie ersetzen?... Wie sollen wir aus den implizit revolutionären, dem "freien Willen" folgenden Veränderungen der politischen Grundannahmen jene Aspekte auswählen, die auf die künftige Geschichte positiv einwirken?... Durch welche Art voluntaristischen Eingreifens unsererseits kann die notwendige Richtungsänderung zustande gebracht werden?" 1

Um diese Fragen zu beantworten, empfiehlt LaRouche die "historische Methode" und schlägt vor, sich dabei einer Fähigkeit zu bedienen, die einzig dem menschlichen Geist eigen ist. Nur der Mensch kann Ideen kommunizieren, und zwar seit Erfindung der Schrift auch die Ideen von Menschen, die vor vielen Jahrhunderten gelebt haben. Daher könnten wir in gewisser Weise hingehen und die "Macher" früherer Renaissancen fragen, wie sie das angestellt haben. Dabei sind wir natürlich auf das vorhandene Wissen und die uns zugänglichen schriftlichen Quellen über diese Perioden der Geschichte angewiesen. Aber wenn wir nicht formalistisch an diese Quellen herangehen und uns die Fähigkeit angeeignet haben, die Ideen hinter und zwischen geschriebenen Worten und Buchstaben zu erfassen, dann können wir auf diese Weise vieles ergründen.

Allerdings ist ein großer Teil der Menschheitsgeschichte den Historikern noch unbekannt. Außerdem ist jeder Ausflug in die Universalgeschichte natürlich auf die Gebiete beschränkt, die wir schon selbst untersucht haben.

Homer

Für solche Ausflüge eignet sich ein Gefährt wie der "fliegende Koffer" aus dem Märchen von Hans Christian Andersen. Steigen wir also ein und begeben uns auf die Reise ins antike Griechenland vor 3200 Jahren, in die Zeit des legendären Krieges um Troia, den Homer später in der Ilias beschrieb. Die Historiker liegen noch immer in heftigem Streit darüber, ob dieser Krieg zwischen Griechen und Troianern überhaupt stattgefunden hat oder was sonst um diese Zeit geschah. Immerhin spricht vieles dafür, daß Troia tatsächlich existierte und daß dieses Land im Nordwesten Kleinasiens namens Wilusa, Wilios oder Ilios mit dem kleinasiatischen Reich der Hethiter verbündet war. Sowohl die mykenische Kultur Griechenlands wie die Kultur Troias gingen etwa um 1200 v.Chr. unter. Wir wissen nicht, was dabei im einzelnen ablief, aber wenn wir Homer folgen, dann war es ein ganz ähnlicher "Krieg der Zivilisationen", wie er heute von den Kreisen hinter Huntington und Brzezinski geschürt wird: Denn nicht nur gingen beide Kulturen, die griechische und die troianische, an diesem Krieg zugrunde; beide Kulturen waren sich auch sehr ähnlich. Genauso sind die jüdische, christliche und islamische Kultur, die nach Huntingtons Theorie in unweigerlichem Konflikt miteinander stehen, seit Jahrhunderten engstens miteinander verwoben.

Die näheren Umstände dieses Krieges werden noch erforscht, aber das Ergebnis ist bekanntlich eine "dunkle Zeit", die vom 12. bis zum 8. vorchristlichen Jahrhundert dauerte. Die Bewohner der griechischen Halbinsel führten nun ein elendes Leben, die Bevölkerung ging erheblich zurück, und die Menschen verlernten viele Fertigkeiten früherer Zeiten, wie z.B. das Lesen und Schreiben oder das Navigieren von Schiffen auf hoher See ohne Blickkontakt zur Küste.

Die ersten schriftlichen Dokumente aus der Zeit danach waren Homers Epen, die aus dem 8. Jahrhundert stammen. Die Ilias, das ältere Epos, behandelt den Troianischen Krieg und verurteilt ihn, aber nicht aus dem Blickwinkel eines "Ohne-Michel-Pazifismus". So ist die Ilias voll des Lobes für die Tapferkeit der Helden, aber eben der Helden, die auf beiden Seiten in diesem Krieg gefallen sind. So wird der Hörer dieser Geschichte in die Lage versetzt, sich über die Kriegsparteien zu erheben und zugleich die Hochkultur zu bewundern, die diesem Krieg auf beiden Seiten zum Opfer fiel.

Die Odyssee ist einige Jahrzehnte jünger. Auch hier wird die Pracht und Schönheit der früheren Kultur von Kreta und Mykene beschrieben: Allein auf Kreta habe es 90 Städte gegeben, erzählt Homer. Auch die Hauptstadt von Sparta, wo König Menelaos herrscht, wird geschildert. Und selbst im ländlichen Ithaka, der Heimat des Odysseus, bewohnt dieser ein mehrstöckiges Wohnhaus.

Am interessantesten ist jedoch das Menschenbild, das Homer im Titelhelden Odysseus veranschaulicht, namentlich in der Art und Weise, wie dieser mit den oligarchischen olympischen Göttern umgeht. Odysseus ist klug, emotional ungeblockt und vor allem stolz, ein Mensch zu sein. Als ihm die Unsterblichkeit angetragen wird, wenn er sich auf eine Ehe mit der Nymphe Kalypso einließe, schlägt er das Angebot aus und will lieber endlich nach Hause zu seiner menschlichen Gattin Penelope zurückkehren. Odysseus hört zwar auf die wohlmeinenden Ratschläge der Weisheitsgöttin Athene, aber bei allen anderen Göttern ist er stets auf der Hut, nicht übers Ohr gehauen zu werden. Es ist höchst amüsant, wie Homer die olympischen Götter in psychologischer, poetischer oder mythologischer Funktion vieldeutig zum Einsatz bringt.

Die dritte Grundidee der Homerischen Odyssee ist ein Aufruf zum Handeln: Baut Schiffe und segelt mit ihnen über das Meer zu anderen Küsten, erkundet fremde Länder und Kulturen! Wenn sie höher entwickelt sind, lernt von ihnen; wenn sie unterentwickelt sind, lehrt sie euer Wissen und errichtet Kolonien! Mit enormem Weitblick in die ferne Vergangenheit wie in die Zukunft, erweitert der Verfasser der Odyssee auch das vorherrschende "Weltbild": Denn die damalige Karte der bekannten Welt endete an den "Säulen des Herkules", d.h. der heutigen Straße von Gibraltar, die das Mittelmeer vom Atlantischen Ozean trennt. Aus der Odyssee läßt sich zweifelsfrei ableiten, daß Homer seinen Helden auf der letzten Etappe der gefährlichen Irrfahrt das Meer jenseits des den damaligen Horizont begrenzenden Okeanos den Atlantik befahren läßt.2

Das ganze Epos verrät eine klare Absicht des Dichters, eine deutliche Botschaft an den Hörer, vor allen die im Griechenland zur Zeit Homers. Deswegen endet Homers Geschichte auch nicht mit Odysseus' glücklicher Heimkehr zur treuen Gattin nach 20 langen Trennungsjahren. Vielmehr wird Odysseus, bei seiner Rückkunft ein Mann Ende vierzig, sogleich noch einmal auf eine Mission geschickt - diesmal ins Landesinnere, um dort Menschen, welche niemals ein Schiff gesehen haben und das Ruder über seiner Schulter für eine Schaufel halten, die Kunst der Schiffahrt zu lehren und ihnen über seine Reisen in ferne Länder zu erzählen.

Wer auch immer außer Homer noch hinter diesem Projekt gestanden haben mag, es wurde ein Erfolg: Die Griechen ließen sich von Homers Seefahrtsvision inspirieren. Die Geschichte bezeichnet den Vorgang als griechische Kolonisation des Mittelmeerraumes (8.-6. Jahrhundert v.Chr.).

Solon

Wir tun einen Sprung von ungefähr 150 Jahren und landen bei Solon und seiner großen Reform im Jahre 594 v.Chr. Friedrich Schiller erzählt diese Geschichte in seiner historischen Schrift Die Gesetzgebung des Lykurg und Solon. Der Stadtstaat Athen steckt in einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise. Hauptgrund der Krise ist, daß die Oligarchen, die über die bäuerliche Bevölkerung herrschten, die Erzeugung von Nahrungsmitteln und anderen Gütern immer mehr vernachlässigt haben, da sie eine todsichere Art der Selbstbereicherung, den Wucher, entdeckt und immer hemmungsloser praktiziert haben. Sie machten ihre Bauern von Krediten abhängig, und wenn die unglücklichen Schuldner ihre Raten nicht zahlen konnten, nahmen sie ihnen zuerst ihr Land weg, als nächstes ihre Kinder und schließlich nahmen sie den Bauern selbst in Schuldknechtschaft und machten ihn zum Sklaven. Das Ergebnis ist eine wirtschaftliche und politische Katastrophe. Viele zahlungsunfähige Schuldner wurden als Sklaven ins Ausland verkauft, und noch mehr verließen das Land als Flüchtlinge. Aber ohne Bauern gab es bald auch kein Korn und kein Vieh mehr. Das Land verödete und die Menschen hungern.

In dieser verzweifelten Lage ist eine gewisse Kräftekonstellation der Athener Elite klug genug, auf Solon zu hören, der selbst einer angesehen Familie entstammt und seine umfassende Bildung u.a. in Ägypten erworben hat. Solon verspricht eine gerechte Lösung des Problems, wenn man ihn zum regierenden Archon wählen würde. Er wird gewählt und regiert für ein Jahr. Das reicht zu einer grundlegenden, revolutionären Reform, welche die Gesellschaft Athens auf den Weg der Vernunft zurückbringt. Der umstrittenste Teil von Solons Reform - besonders unter monetaristisch gesinnten Historikern umstritten - ist seine komplette Streichung des gesamten Berges unbezahlbarer Schulden, die sogenannte "Seisachtheia". Alle Schuldsklaven werden mit einem Schlag wieder freie Bürger und können nach Hause zurückkehren.

Natürlich macht die Oligarchie nun mobil gegen Solon, aber Solons Feinde schaffen es nicht, den Langzeiteffekt seiner Reform völlig zu beseitigen. Solon hätte als Tyrann die Macht übernehmen können, aber er tut es nicht, weil er damit gegen seine eigene Verfassung und sein Verständnis von Naturrecht verstieße. Über diese Idee des Naturrechts und wie es mit dem Gemeinwohl der Gesellschaft zusammenhängt, hat Solon ein berühmtes Gedicht geschrieben.3 Solons Reform markiert den Anfang des Aufstiegs von Athen zur regionalen Großmacht und zur Heimat der bis heute bewunderten griechischen Kultur und Wissenschaft.

Platon

Wir überspringen nun weitere zwei Jahrhunderte, denn wir wollen kurz bei Platon (427-347 v.Chr.) hereinschauen. Athen steckt erneut in einer großen Krise; ein hervorstechendes Symptom sind die Anklage gegen Sokrates und der Justizmord an Sokrates im Jahre 399 v.Chr.. Trotz alledem hat Platon seine Arbeit gut gemacht. Von ihm konnten die Menschen lernen, daß eine Idee etwas ist, das einen höheren Grad an Wirklichkeit besitzt als die Dinge, die wir mit den Sinnen wahrnehmen.

Wir treffen Platon, wie er gerade sein berühmtes "Höhlengleichnis" erzählt. Er spricht über die Schwierigkeit, herauszufinden, was wirklich in der Welt vorgeht, wenn man in einem Sessel klebt und auf die Mattscheibe starrt. Natürlich war das bei Platon kein Fernsehgerät, sondern die Höhlenwand, an der die Gefangenen nur die Schatten von Figuren wahrnehmen, die hinter ihrem Rücken hin- und herbewegt und von einem Feuer noch weiter hinten in der Höhle schwach beleuchtet werden. Das heißt aber nicht, daß man gar nicht erkennen könnte, was wirklich vor sich geht: Sobald man sich klar macht, daß die Schatten nur Schatten sind, kann man allerhand Hypothesen über die Vorgänge anstellen, welche den Schatten ursächlich zugrunde liegen.

Oder in den Worten LaRouches: "Wir schreiten fort, indem wir entdecken, daß das Bild vom Universum, wie wir es mit unseren Sinnen wahrnehmen, ein falsches Bild ist. Wir korrigieren die Irrtümer der sinnlichen Wahrnehmung, indem wir experimentell nachprüfbare Begriffe allgemeiner physikalischer Prinzipien bilden, die jenseits unserer direkten Beobachtungsmöglichkeiten mittels sinnlicher Wahrnehmung zuhause sind. Wissenschaftlich gebildete Kulturen erkennen daher, daß das Universum der sinnlichen Wahrnehmung nicht das wahre Universum ist, sondern bloß ein seltsam verzerrter Schatten, den die Wirklichkeit auf unser Sensorium wirft."4

Das ist aber keineswegs die ganze Geschichte. Man braucht ja nicht an seinem Sessel zu kleben. Draußen, außerhalb der Höhle, scheint die Sonne und herrscht Freiheit. Aber es ist anstrengend, mühsam nach oben aus der Höhle herauszuklettern, und wenn man es geschafft hat, dann schmerzt das helle Sonnenlicht erst einmal in den Augen. Das ist Platons Version dessen, was Schiller "das Erhabene" nennt.5 Die Freiheit des Menschen ist ein Entwicklungsprozeß, im Zuge dessen der Wille sich oft gegen das Verlangen nach körperlichem Wohlgefühl durchsetzen muß.

In Platons Gleichnis ist aber noch eine weitere Botschaft enthalten: Ist man erst einmal der Höhle entronnen und wandelt frei und glücklich im Lichte der Erkenntnis, dann hat man die Pflicht, wieder in die Höhle zurückzukehren, um die anderen davon zu überzeugen, ebenfalls den Weg nach oben zu wagen. Dies ist jedoch eine gefährliche Mission, denn die meisten Menschen lieben ihren Sessel vor dem Fernseher - bzw. andere mächtige Leute finden es gut, wie es ist, und widersetzen sich jeder Veränderung. Es besteht die Gefahr, getötet zu werden wie Sokrates. Trotzdem findet Platon, daß Männer und Frauen, die größere Einsicht haben als andere, wieder hinuntersteigen und die anderen unterweisen sollen. Das gehört zur Bestimmung des Menschen.

Christentum

Wir verabschieden uns von Platon und setzen unsere Reise fort. Da wir aber vor allem an der Ideengeschichte interessiert sind, nehmen wir nur im Vorübergehen Notiz vom Aufstieg des römischen Imperiums in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten und seinem Zerfall im 5. Jahrhundert n.Chr.

Ein Datum sticht hier jedoch hervor: das Jahr 0, in dem Jesus Christus geboren wurde. Ihm und seinen Anhängern, namentlich dem Apostel Paulus, ist es zu verdanken, daß sich inmitten der zunehmend dekadenten römischen Gesellschaft in Palästina eine völlig neue Kultur herausbilden konnte, die mosaisch-ägyptisches Gedankengut mit platonisch-griechischen Ideen verschmolz. Wir wissen dies alles aus dem Neuen Testament, das nicht nur über das Lehren und Wirken Christi berichtet, sondern auch über den Vorsatz und die Bemühungen des Paulus, die neue Art zu denken und zu handeln und sich liebevoll auf andere Menschen zu beziehen, im gesamten römischen Reich zu verbreiten.

Als Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion machte, hat dies dem Christentum nicht besonders gut getan. Doch das war im Osten, in Konstantinopel. Im Westen wirkte der aus Nordafrika stammende Hl. Augustinus, der ein kohärentes Gebäude des neoplatonischen Christentums entwickelte, so wie Paulus es wohl im Sinn hatte, als er in Athen über den "Unbekannten Gott" predigte.6

Zumindest erwähnen wollen wir hier einen etwas älteren Zeitgenossen Jesu Christi: den jüdischen Philosophen Philon, der in Alexandria lebte und die Philosophie Platons in den Judaismus einführte. Leider haben wir dieses Mal keine Zeit, ihn zu besuchen.

Wir setzen unsere Reise fort. Das finstere Zeitalter, das sich über den europäischen Kontinent nach dem Abgang des römischen Reiches herabsenkte, lassen wir soeben hinter uns. Wir fliegen über riesige Wälder hinweg. Hier liegt ein dürftiges Dorf, dort ein paar Ruinen römischer Monumente. Die römischen Straßen werden immer noch benutzt. Die Menschen sind in Stämmen organisiert. Sogar die Anführer sind Analphabeten. Bücher gibt es nicht, nur einige reisende Lehrer: christliche Missionare wie Bonifatius, dem König Pippin, der Vater Karls des Großen, ein gewisses Maß an Unterstützung zukommen ließ.

Wir halten an im 8. Jahrhundert n.Chr. Karl der Große ist König im Frankenreich, das etwa das heutige Frankreich, Deutschland und Norditalien umfaßt. In mehreren Kriegen hat er viele Stämme unter seiner Herrschaft vereint. Mit dem Papst hat er eine Art Abkommen wechselseitiger Unterstützung geschlossen, wobei Karl allerdings den überlegenen Part innehat. Doch all das ist im Grunde langweilig im Vergleich zu Karls Projekt einer Renaissance. Macht war für Karl den Großen kein Selbstzweck, sondern Mittel zu dem höheren Ziel, die Menschen in seinem Herrschaftsbereich auf ein höheres Lebensniveau zu erheben. Eines von Karls Lieblingsbüchern, das er sich bei Tisch vorlesen ließ, war Der Gottesstaat von Augustinus.

Auch Kaiser Karl lernte erst als Erwachsener lesen und schreiben, aber ungebildet war er keineswegs. Er sprach fließend Latein und verstand Griechisch. Er begann sein großes Bildungsprojekt, indem er die gelehrtesten Männer seiner Zeit an seinen Hof einlud. Dieser Hof befand sich nicht an einem festen Ort, sondern reiste durch das ganze Land, blieb ein paar Monate in einer der zahlreichen Pfalzen und zog dann weiter.

Der weiseste unter den gelehrten Männern, die mit Karl zusammenarbeiteten, ist Alkuin. Er stammte aus Northumberland in England, aber Karl traf ihn in Italien. Er kam im Jahre 781 an Karls Hof. Da beide viel unterwegs waren, existiert ein ausgedehnter Briefwechsel zwischen Karl und Alkuin. In diesen Briefen diskutieren sie über alles Mögliche, von der Bewegung der Sterne bis zu philologischen Fragen. Und natürlich über das Renaissance-Projekt. Alkuin schreibt an Karl den Großen:

"Wenn viele eure Absicht teilten, so würde Franken zum Sitz eines neuen Athen, und dieses neue Athen wäre in der Tat noch großartiger als das alte. Denn das unsrige würde, emporgehoben durch die Lehren Christi, alle Weisheit der Akademie übertreffen."7

Karl der Große gründet Schulen, zuerst am Hofe selbst, dann im ganzen Land. Jedes Bistum und jedes Kloster soll eine Grundschule einrichten, wo Kinder (d.h. Jungen) lesen, schreiben, singen sowie die Grundbegriffe der Arithmetik und Medizin lernen sollen. Ein berühmter Schulmeister jener Tage war Hrabanus Maurus. Aber es gibt keine Schulbücher. Alkuin und seine Schüler müssen selber Schulbücher schreiben, und sie tun dies in Form von Dialogen. Karl selbst arbeitet an einer Grammatik der "Muttersprache", denn er versteht sehr gut, daß man zum Aufbau einer Nation eine organisch gewachsene Hochsprache braucht. Allerdings sind die meisten lateinkundigen Gelehrten gegen dieses Vorhaben.

Wirtschaftlich gesehen kommt es unter Karl dem Großen zu keinen umwälzenden Veränderungen, aber er versucht, die existierenden landwirtschaftlichen Produktionsmethoden zu verbessern. Er läßt königliche Modellbetriebe einrichten, eigentlich Modelldörfer mit den Handwerksbetrieben, die den Landwirtschaftsbetrieb ergänzen. Diese Krongüter werden "Fiskus" genannt, weil über alles, was hergestellt und verbraucht wurde, genau Buch geführt werden muß.

Es gibt auch öffentliche Infrastrukturprojekte wie z.B. Holzbrücken über den Rhein, z.B. in Mainz, wo die letzte römische Brücke schon vor vielen hundert Jahren abgebrannt war. Karl überwacht persönlich den Versuch, eine Kanalverbindung zwischen Main und Donau zu bauen, denn es ist ihm klar, wie sehr dies den künftigen Handel beleben würde. Leider schlägt das Projekt fehl, die dazu erforderliche Technologie ist einfach noch nicht erfunden. Es dauert noch 1000 Jahre, bis in Bayern endlich die erste Kleinformatversion eines Main-Donau-Kanals verwirklicht wird.

Auf dem Gebiet der Architektur ist die Idee keineswegs die bloße Nachahmung römischer Gebäude, Karl will vielmehr Kirchen und Pfalzen entstehen sehen, die anders und schöner als die römischen Bauten sind. Die Kaiserpfalz in Ingelheim, ist zwar nicht sehr groß, aber sehr reizvoll. Und Karls Lieblingspfalz in Aachen, wo er die meiste Zeit wohnte, ist wieder von ganz anderer Art. Gewisse Ähnlichkeiten im Dekor zu der großen Moschee in Cordoba sind unverkennbar.

Die Beziehungen Karls des Großen zum Omajjaden-Kalifat in Spanien waren alles andere als freundschaftlich; dies ist eine komplizierte und auch ziemlich peinliche Geschichte. Aber um so besser war dafür Karls Verhältnis zu dem Abbasiden-Herrscher in Bagdad, dem berühmten Harun Al Raschid. Wie mühsam die Diplomatie in jenen Tagen sich gestaltete, kann man sich in unserer Zeit mit Internet, Telefon, Flugzeugen oder zumindest Hochgeschwindigkeitszügen nur schwer vorstellen. Pferde waren das schnellste Transportmittel. Die überlieferte Geschichte einer von Karls diplomatischen Gesandtschaften an Harun Al Raschid mag das veranschaulichen.

Im Jahre 797 schickte König Karl eine dreiköpfige Delegation auf die Reise ins ferne Bagdad: zwei Franken und einen jüdischen Dolmetscher namens Isaak. (Daher ist die berühmte Geschichte auch im neuen Jüdischen Museum in Berlin nachzulesen.) Die drei Gesandten reisten ab, und vier Jahre lang hörte der Frankenkönig nichts mehr von ihnen. Erst 801 trafen zwei Emissäre ihn in Italien: der eine kam von Harun Al Raschid, der andere von einem islamischen Gouverneur im nordafrikanischen Tunis. Sie überbrachten Karl die Nachricht, daß die beiden Franken unterwegs gestorben seien, aber Isaak habe in Bagdad alle Botschaften Karls abgeliefert. Beladen mit vielen Geschenken für Karl habe Isaak sich auf die Rückreise gemacht und warte nunmehr in einem nordafrikanischen Hafen darauf, von einem Schiff abgeholt zu werden. Das kostbarste Geschenk war ein lebendiger Elefant. Daraufhin schickte Karl ein Schiff hin; wegen des Elefanten überwinterten sie noch in Italien, aber im Frühjahr 802 trafen Isaak und seine Abholer mit dem Elefanten und den übrigen Kostbarkeiten glücklich in Aachen ein. Der Elefant wurde Abul Abbas genannt, zu Ehren des Begründers der Abbasiden-Dynastie, und lebte noch bis 810.8

Zwar fiel Karls Reich, territorial gesehen, schon bald nach seinem Tode wieder auseinander, aber die Wirkung der Renaissance, um die der Kaiser sich so bemühte hatte, blieb und wurde in den darauffolgenden Jahrhunderten von vielen Individuen und Bewegungen fortgesetzt, wie der Kathedralenbewegung in Frankreich9 oder dem Stauferkaiser Friedrich II. im 13. Jahrhundert.10

Die islamische Renaissance

Leider fehlt uns die Zeit für einen Abstecher am Hofe Harun Al Raschids, der 786-809 regierte, denn wir wollen weiter nach Persien. Bekanntlich bemühte sich der berühmte Kalif, ganz ähnlich wie Karl der Große, die gelehrtesten Männer an seinen Hof zu bringen, die er damit beauftragte, alles Wissen der Welt zu sammeln und einen großen Fundus an Büchern anzulegen. Harun Al Raschids Sohn Al Mamun ließ für diese Bücher später ein prächtiges "Haus der Weisheit" bauen. Es war eine Bibliothek und gleichzeitig eine Akademie, wie viele Jahrhunderte zuvor die berühmte Bibliothek von Alexandria, die von Julius Caesars Truppen im Jahre 48 v.Chr. zerstört worden war.

In ihrem Artikel "Andalusien, Tor zur Goldenen Renaissance" beschreibt Muriel Mirak-Weißbach das Wunder der arabischen Sprache.11 Durch die Beiträge vieler Dichter, die durchaus wußten, was sie taten, wurde eine hochentwickelte Sprache geschaffen. Sie war offenbar sehr geeignet, die fortschrittlichsten Ideen in Worte zu fassen, und außerdem im ganzen islamischen Herrschaftsgebiet verbreitet, so daß beispielsweise auch der persische Arzt und Gelehrte Avicenna (Ibn Sina) seine Bücher auf arabisch schrieb.

Meine Freunde und ich lernten Avicenna 1977 anläßlich einer Konferenz der EAP in Wiesbaden kennen. Helga Zepp, eine junge Dame Mitte zwanzig und damals noch nicht mit Lyndon LaRouche verheiratet, hielt eine Rede über den großen persischen Denker, der eigentlich Abu Ali Al-Hussain Ibn Abdallah Ibn Sina hieß und vor tausend Jahren lebte (980-1037). Wir veröffentlichten diese Rede damals in der Neuen Solidarität. Sie fing an mit einer "Kriegserklärung gegen Dummheit und Unwissenheit", und wenn die Anwesenden "wahrscheinlich nicht sehr viel von Avicenna" wüßten, dann hänge das mit den "unzulänglichen Geschichtsbüchern" zusammen, auf die man in der Schule angewiesen war.

Avicenna sei in Buchara geboren, berichtete sie. "Er war nicht nur Philosoph, sondern ein Wissenschaftler im breitesten universellen Sinn. Er trug zu Entdeckungen in Geologie, Astronomie, Mathematik und Medizin bei. In Westeuropa war er tatsächlich berühmt für seine Leistungen in Medizin. Er schrieb das berühmte Buch Kanon der Medizin, das von Ärzten in Westeuropa bis zum 18. Jahrhundert... benutzt wurde."12

Das eigentliche Thema von Helga Zepps Rede war allerdings Avicennas Philosophie, sein Buch der Genesung der Seele. Sie verwies auf drei wesentliche Ideen in Ibn Sinas Metaphysik, und zwar erstens auf seinen Begriff von Gott als "notwendig Seiender" - als letzte Ursache, die selbst keine Ursache hat, und daher eine höhere Realität besitzt als alle ihre Wirkungen.

Zweitens berichtete sie über Avicennas faszinierende Idee, das "bewegende Prinzip" des Universums sei zugleich auch das bewegende Prinzip des schöpferischen menschlichen Geistes. Diesen Gedanken verglich sie mit einem Hauptgedanken Ludwig Feuerbachs: "Wenn man sich fragt, was existiert in der Welt, das keine Ursache außer sich hat, das nur durch sich selbst existiert, ist dies schöpferisches Denken, das auf sich selbst beruhende Positive, wie Feuerbach es definiert. Avicenna sagt im Grunde schon, daß dies auf der einen Seite das Prinzip ist, welches das schöpferische Denken und auf der anderen Seite das Universum bewegt."12

Und drittens habe Avicenna, ganz im Gegensatz zur "Vita contemplativa" des Aristoteles, die Auffassung vertreten, daß es nicht ausreiche, etwas zu wissen, wenn man nicht auch entsprechend handele und dieses Wissen einsetze, um die Welt zu verändern.

Tatsächlich ist Avicenna alles andere als ein Gelehrter im Elfenbeinturm. Seine Kindheit verbrachte er in Buchara, einer wichtige Metropole an der alten Seidenstraße. In seinem Elternhaus genoß er eine hervorragende Erziehung, die neben dem Koran auch die griechische Philosophie und Medizin umfaßte. Mit 17 Jahren ist er bereits ein ausgebildeter Arzt und kuriert den König von Buchara, der ihm zum Dank erlaubt, die königliche Bibliothek zu benutzen.

Er studiert alle Wissenschaften, verdient aber seinen Lebensunterhalt als Arzt. Sein umfassender Kanon der Medizin enthält nicht nur das gesamte medizinische Wissen seiner Zeit, sondern auch viele eigene Beiträge, z.B. wichtige Beobachtungen über ansteckende Krankheiten wie die Tuberkulose, oder Entdeckungen auf dem Gebiet der Gynäkologie und Anatomie. Avicenna beschreibt als erster die Hirnhautentzündung und alle Einzelheiten der Anatomie des menschlichen Auges. Und er weiß bereits, wie die Muskeln von Nerven in Bewegung gesetzt werden.

Auch in der Politik betätigt er sich, was ihn prompt in große Schwierigkeiten bringt. In der persischen Stadt Hamadan arbeitet er zunächst Leibarzt und Berater des Königs, der ihn jedoch auch zum Wesir ernannte. Dies provoziert Gegenreaktionen und Intrigen, die schließlich zu seiner Inhaftierung führen. Aber seine Biographen stellen voller Bewunderung für seine geistige und physische Kraft fest, selbst im Gefängnis habe er weiter an seinen Büchern geschrieben. Doch dann gelingt ihm die Flucht nach Isfahan, wo er wiederum eine Klinik betreibt, seine Werke beendet und 1037 stirbt.

Seine Bücher wurden ins Lateinische übersetzt und beeinflußten christliche Gelehrte wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin und natürlich Nikolaus von Kues. Ebenso den großen jüdischen Arzt und Philosophen Rabbi Mose Ben Maimon (Maimonides), der 1135 in der Hochburg des islamischen Spanien, Cordoba, geboren wurde, später nach Ägypten ging, wo er Vorsteher aller jüdischen Gemeinden war und zugleich Leibarzt des Sohnes von Sultan Saladin, den wir aus Lessings Nathan der Weise kennen. Allein dies sollte bereits ausreichen, um einigen Leuten begreiflich zu machen, wie absurd die Argumente von Kissinger, Huntington und anderer Advokaten des "Kampfes der Kulturen" ist, die von angeblich unüberbrückbaren Klüften, ganz besonders zwischen Christentum, Judentum und Islam, reden.

Die Goldene Renaissance

Wir kommen nun zur letzten Station unserer Reise, ins Italien der Renaissance. Am Anfang dieser Entwicklung stehen bekanntlich Dante, Petrarca und ihr Projekt, eine italienische Hochsprache zu schaffen. Dabei mögen sie sich gesagt haben: Was die Araber können, können wir auch!

Es ist wichtig, eine falsche Vorstellung vom 14. Und 15. Jahrhundert in Europa und Italien zu korrigieren. Wir tendieren nämlich dazu zu denken: Zuerst kam das finstere Zeitalter, als die Hälfte der Bevölkerung dem Schwarzen Tod zum Opfer fiel; und dann kam die Renaissance: Dantes Projekt der italienischen Hochsprache, Dichter wie Petrarca und Boccaccio, dann im 15. Jahrhundert Nikolaus von Kues und sein Freund Enea Silvio Piccolomini, der 1458 Papst wurde, und die Künstler Leonardo, Raffael etc. Aber in Wirklichkeit fanden die großen Pestepidemien und die Renaissance großenteils gleichzeitig statt. Zu Lebzeiten des Kardinals Nikolaus von Kues wütete der Schwarze Tod. Er selbst blieb zwar verschont, aber sein Freund Enea erkrankte an der Pest und entging nur knapp dem Tode.

Es ist nicht nur so, daß jede Renaissance in finsteren Zeiten ihren Anfang nimmt, sie findet auch über geraume Zeit unter gesellschaftlichen Umständen statt, die man in anderem Zusammenhang als finsteres Zeitalter einstufen würde. In der Einleitung zu seinem Buch Das Dekameron erzählt Boccaccio, wie die Pest Mitglieder jeder Familie dahinraffte, alle menschlichen Beziehungen verrohen ließ, die Moral pervertierte und zu einer geistigen und emotionalen Barbarei führte. Dieser Entwicklung entgegenzuwirken war die agapische Motivation hinter Boccaccios Buch. Geistlose Existentialisten, die das Dekameron höchstens einiger schlüpfriger Geschichten über lüsterne Mönchen wegen schätzen, werden das nie verstehen. Es wäre sicher ein lohnendes Projekt, einmal zu untersuchen, wieviele von Shakespeares Dramen auf Geschichten aus dem Dekameron zurückgehen. Auch die berühmte "Ringparabel" aus Lessings Nathan ist hier schon angelegt, nur heißt der weise Jude in Boccaccios dritter Geschichte des ersten Tages nicht Nathan, sondern Melchisedech.

Die Renaissance ist ein gewaltiges Projekt, um eine heruntergekommene Kultur und Gesellschaft wieder aufzurichten. Die Humanisten suchten und fanden zu ihrer Freude immer mehr antike griechische und römische Handschriften, übersetzten sie und gaben sie neu heraus. Dabei beschränkte sich die Absicht der besten Humanisten aber nicht auf die bloße Nachahmung der alten Ideen; vielmehr suchten sie nach den besten Ideen Platons und anderer Denker, um mit Hilfe solcher Ingredienzen eine neue und bessere Kultur hervorzubringen.

Die Goldene Renaissance war im Grunde eine Bewegung - der langfristige Erfolg einer Reihe begeisterter Individuen und Freundeskreise, die zunächst in kleinen, informellen Zirkeln - wie dem "Paradiso des Alberti" oder Marsiglis Gruppe "Santo Spiritu" in Florenz - organisiert waren. In diese Zirkel rekrutierten sie andere intelligente und aufgeschlossene Menschen, von denen einige - z.B. Coluccio de' Salutati (1330-1406), der 30 Jahre Sekretär der Republik Florenz war - später großen politischen Einfluß ausübten.13 Die Aktivitäten der Renaissance-Humanisten waren vielfältig: Die einen unterhielten eine umfassende Korrespondenz mit einem wachsenden Netzwerk von Humanisten in ganz Europa, übersetzten antike Schriften und sorgten für deren Vervielfältigung, andere machten wissenschaftliche Experimente, entwickelten die Kunst der Malerei in eine Wissenschaft, oder widmeten sich der Erziehung der jungen Generation und schrieben zu diesem Zweck geeignete Lehrtexte. All diese Aktivitäten zusammen bilden den Nährboden, auf dem künftige Genies gedeihen.

Ein solcher Genius ist Nikolaus von Kues, der über alle herausragende Denker der Goldenen Renaissance. Er wurde in Deutschland geboren, im Weinort Kues an der Mosel, und studiert zuerst in Heidelberg. Dort ist es ihm aber viel zu "scholastisch", und er geht statt dessen nach Padua. Immer wieder kehrt er später nach Italien zurück, und seine letzten Lebensjahre, nachdem Enea Silvio Papst Pius II. geworden ist, verbringt er als Kurienkardinal in Rom.

Nikolaus von Kues ist ein Pionier des Dialogs der Kulturen, deshalb bezieht sich Helga Zepp-LaRouche in ihrem Aufruf zu einer internationalen Korrespondenz über dieses Thema auch so prominent auf ihn.14 Im Jahre 1473 wird Nikolaus zu ökumenischen Gesprächen mit der christlichen Ostkirche nach Konstantinopel geschickt, die höchst erfolgreich verlaufen. Er kehrt zwei Jahre später mit einer großen Delegation, zu der auch der Ostkaiser und der Patriarch gehören, zu Schiff aus Konstantinopel zurück. Bei dem Konzil von Florenz (bzw. Ferrara) 1439 wird die Wiedervereinigung der Ost- und Westkirche beschlossen.

Nach der Eroberung Konstantinopels durch die islamischen Türken im Jahre 1453 schreibt Nikolaus von Kues De pace fidei, über den Frieden zwischen den Religionen. Im Himmel versammeln sich die Vertreter von 17 verschiedenen Religionen und diskutieren mit Petrus, Paulus und dem Wort Gottes über die "eine Religion", die es unter aller "Verschiedenheit der religiösen Bräuche" aufzufinden gilt. De pace fidei ist nicht nur eine bedeutende philosophische Schrift, sondern ein Kunstwerk. Man kann dieses Juwel dichterischer Prosa, gut übersetzt und in Auszügen, wie einen Theaterdialog aufführen.15

Es gibt darin viele wunderbare Stellen, die man hier zitieren könnte; wir wollen uns auf zwei Stellen beschränken, die das humanistische Menschenbild des Cusaners zum Ausdruck bringen. In der Diskussion über den Frieden zwischen den Religionen spricht nämlich als erster ein Grieche. Er stimmt dem Wort Gottes zu, daß es nur eine "einzige Weisheit" gibt, nach der alle Philosophen streben. Ganz Grieche, betont er, daß auch die Philosophen "die Süßigkeit der Wahrheit" zuerst "in Bewunderung der sinnlich wahrnehmbaren Welt verkosten. Wer möchte nämlich nicht sein Leben dafür aufopfern, nur um die Weisheit zu erringen, aus der jede Schönheit, jede Süßigkeit des Lebens und alles Erstrebenswerte entspringt? Was für eine Kraft der Weisheit erstrahlt doch in dem Schöpfungswerk des Menschen, in seinen Gliedern und ihrem Aufbau, in dem ihm eingegossenen Leben, in der Harmonie der Organe, der Bewegung und vollends in seinem denkenden Geist, der zu wunderbaren Künsten fähig ist und gleichsam ein Abbild der Weisheit darstellt, in dem über alles wie in einem nahegebrachten Abbild die ewige Weisheit widerstrahlt."16

Den zweiten Gedanken äußert Petrus, als es in der Diskussion mit dem Syrer um die Auferstehung der Toten und die Vereinigung der menschlichen Natur mit der göttlichen geht. Petrus sagt, gemeinsam sei allen Religionen, daß "alle Menschen das Verlangen und die Hoffnung auf ein ewiges Leben" haben. "Die Menschen erstreben die Seligkeit, die das ewige Leben selber ist, in keiner anderen als ihrer eigenen menschlichen Natur. Der Mensch will nichts anderes als Mensch sein, nicht ein Engel oder sonst ein Wesen. Er will aber ein glücklicher Mensch sein, der die höchste Glückseligkeit erreicht. Diese Seligkeit ist nichts anderes als der Genuß oder die Vereinigung des menschlichen Lebens mit seiner Quelle, aus der das Leben selber strömt, und diese ist das göttliche unsterbliche Leben."17

Nur einen einzigen Philosophen einer anderen Kultur nennt Nikolaus von Kues in De pace fidei beim Namen: Avicenna! Er gehöre zu den "Verständigen Weisen unter den arabischen Philosophen". Im Einklang mit der christlichen Auffassung stelle er "die geistige Seligkeit des Schauens oder Genießens Gottes und der Wahrheit unvergleichlich hoch über die Seligkeit, die im Gesetz der Araber geschildert wird; und er war doch ein Anhänger dieses Gesetzes... Darin wird also keine Schwierigkeit liegen, alle Religionen miteinander zu vereinigen."18

Die Entdeckung dieses direkten Bezugs auf Avicenna in De pagce fidei verleitete mich zu einer anderen Idee: Warum stellen wir uns nicht selbst so ein Gespräch in der "Gleichzeitigkeit der Ewigkeit" vor, etwas lockerer als die himmlische Synode des Cusaners, einfach eine Erörterung gewisser wesentlicher Ideen, mit denen wir uns als notwendige Ingredienzen einer neuen Renaissance ohnehin noch befassen wollten?

Gesagt, getan. Teilnehmer des Gesprächs sind Nikolaus, Ibn Sina und Leibniz aus der Vergangenheit, und aus der Gegenwart der uns allen wohlbekannte Lyndon LaRouche. Selbstverständlich ist dies ein metaphorischer LaRouche und wohl zu unterscheiden von dem real existierenden LaRouche, der mir diesen Einfall hoffentlich nicht übelnehmen wird. Das Gespräch ist übrigens kaum fiktiv, denn die geäußerten Gedanken sind allesamt authentisch, und wenn sie in Anführungszeichen stehen, handelt es sich um wörtliche Zitate.

Das Gespräch

Avicenna sagte gleich bei der Begrüßung: Mein Kompliment, lieber Nikolaus, für Ihr Stück über die "eine Religion", und insbesondere für die Worte über das Menschenbild, die Sie den Griechen sagen lassen. Als Arzt und Philosoph spricht mir dies wirklich aus der Seele. Und das sage ich nicht, weil Sie mich in dieser Schrift mit so freundlichen Worten bedacht haben...

Nikolaus von Kues: Ich habe Ihr Buch der Genesung der Seele damals wirklich mit großem Interesse studiert. Mir gefällt Ihre Umschreibung Gottes als "reiner Verstand" und die Feststellung, daß der Mensch in seiner Seele eine Art Sehnsucht nach wahrem Wissen und nach Weisheit empfindet. Im Laien über die Weisheit habe ich es ganz ähnlich formuliert: "Die Weisheit mundet dem Geiste wohler als alles sonst... so lockt uns die ewige und unendliche Weisheit, die ja aus allem widerstrahlt, mittels und aus einer Art Vorgeschmack der Wirkungen an, so daß wir in wunderbarer Sehnsucht ihr entgegengedrängt werden."19

Auch Leibniz lobte den persischen Kollegen sehr und berichtete, daß er dessen Begriff von Gott als "notwendiges Wesen" ausdrücklich in das Kernstück seiner Metaphysik, die Monadologie eingeführt habe.20

Avicenna betonte mit ehrlicher Bescheidenheit, Nikolaus und Leibniz hätten zweifellos die Idee vom menschlichen Geist als Ebenbild Gottes viel deutlicher und poetischer ausgedrückt, als er selber es zuvor vermocht habe.

Daraufhin wollte Leibniz wissen, welche Stelle in der Monadologie Avicenna denn dabei im Auge habe, vielleicht diejenige über den Unterschied zwischen der Seele der Tiere und der Seele der Menschen, die auch Geist genannt wird: "Abgesehen von den anderen Unterschieden zwischen den gewöhnlichen Seelen und den Geistern... gibt es noch den, daß die Seelen im allgemeinen lebende Spiegel oder Abbilder des Alls der Geschöpfe sind, daß jedoch die Geister außerdem Abbilder der Gottheit oder des Urhebers der Natur selbst sind: fähig, das System des Universums zu erkennen und es durch architektonische Proben wenigstens in etwas nachzuahmen, da jeder Geist innerhalb seines Bereiches wie eine kleine Gottheit ist."21

An diesem Punkt sagte mein metaphorischer LaRouche, um heutigen Menschen verständlich zu machen, in welcher Hinsicht sie "lebendige Abbilder Gottes" seien, müsse man ihnen erklären, worin das spezifisch Menschliche ihres Denkens besteht, im Gegensatz zum empirschen Denken der Tiere oder den logischen Operationen eines Computers.

Leibniz nickte und zitierte aus der Monadologie:

    "Wir sehen, daß die Tiere, wenn sie einen Eindruck erfahren, der einer früheren Wahrnehmung ähnlich ist, kraft ihres Gedächtnisses dasjenige erwarten, was früher mit dieser Wahrnehmung verbunden war, und daß sie zu ähnlichen Empfindungen wie die früheren veranlaßt werden. Zeigt man z.B. den Hunden den Stock, so erinnern sie sich des Schmerzes, den er ihnen verursacht hat, und laufen heulend weg... Die Menschen handeln wie die Tiere, sofern die Verkettungen ihrer Perzeption allein durch das Prinzip des Gedächtnisses geschehen, ähnlich den empirischen Ärzten, die lediglich der Praxis folgen, ohne eine Theorie zu besitzen. Bei drei Vierteln unserer Handlungen sind wir reine Empiriker. Erwartet man z.B., daß es morgen Tag sein wird, so handelt man in dieser Annahme als Empiriker, da man sich darauf stützt, daß dies bis jetzt stets so gewesen ist: der Astronom allein erschließt es aus Vernunftgründen."22

(Das ist zum einen ein Argument gegen den Empirismus, als nicht eigentlich "menschliches" Denken; zum anderen richtet es sich gegen Descartes und andere Mechanisten, die behaupteten, Tiere seien Maschinen und könnten überhaupt nicht denken.)

Nikolaus schob an dieser Stelle eine gute Erklärung des Unterschieds zwischen zwei unterschiedlichen Verstandesebenen ein, nämlich zwischen einer untergeordneten, eher mechanischen Verstandestätigkeit und einer höheren Form, die Einsicht und Urteilsvermögen verlangt:

    "Wenn ein Laie, der die Wortbedeutungen nicht kennt, ein Buch liest, dann geht das Lesen dank der Kraft des Verstandes seinen Gang. Er liest nämlich, indem er die Verschiedenheiten der Buchstaben schrittweise erfaßt, sie zusammenbringt und auseinanderhält - das ist das Werk des Verstandes - , aber er weiß dann doch nicht, was er liest. Und da ist ein anderer (kein ,Laie' in Hinblick auf die Wortbedeutungen), der liest und weiß und versteht, was er liest. Das ist gewissermaßen ein Bild für das Verhältnis von verschwommenem Verstandesdenken zu jenem Denken, das durch den Geist geformt ist. Der Geist allein hat ein unterscheidendes Urteil über Gedankenzusammenhänge: nämlich darüber, welcher Gedankengang gut ist und welcher sophistisch."23

Avicenna schnitt ein anderes Thema an, nämlich wie Ideen überhaupt zustande kommen: Manchmal werde der Begriff aus dem realen Dinge abstrahiert, "wie es sich trifft, wenn wir z.B. von der Sphäre des Himmels durch Beobachtung und durch sinnliche Wahrnehmung seine begrifflich faßbaren Wesensformen abstrahieren. Manchmal ist die real existierende Wesensform nicht hergenommen aus dem real Existierenden. Es verhält sich vielmehr umgekehrt, wie wir z.B. die Wesensform eines Gebäudes denken, die wir frei erfinden. Dann wird jene begrifflich gefaßte Erkenntnisform zum bewegenden Prinzipe für unsere Glieder, so daß wir sie in der realen Existenz darstellen. Das Verhältnis ist nicht dieses, daß der begriffliche Inhalt zuerst existiere, so daß wir ihn dann erkennten; sondern wir erkannten ihn zuerst, und dann existiert er wirklich. Das Verhältnis des Weltalls zum ersten Verstande, dem notwendig Seienden, ist dieses."24

Lächelnd wandte Nikolaus sich an Avicenna: Sehen Sie, hier ziehen Sie doch ganz klar eine Analogie zwischen dem schöpferischen Menschen und dem Schöpfergott. Ich habe diesen Gedanken nur noch ein bißchen weiter ausgeführt, indem ich z.B. den Unterschied zwischen einem unveränderlichen Bild und einem lebendigen Abbild Gottes erläuterte. Mein Laie erklärt das so:

    "Du weißt, daß unser Geist eine gewisse Kraft ist; denn du kennst ihn als Abbild der göttlichen Kunst... Unser Geist ist von der Schöpfungskunst erschaffen, wie wenn diese sich selbst erschaffen wollte, wobei - da die unendliche Kunst nicht vervielfältigt werden kann - ein Abbild von ihr entsteht. Ebenso ist es, wenn ein Maler sich selbst malen will. Da er eben selbst nicht vervielfältigt werden kann, entsteht sein Abbild, wenn er sich malt. Nun ist ein solches Abbild, mag es auch noch so vollkommen sein, doch niemals ganz vollkommen; denn jedes unvollkommene Abbild hat die Möglichkeit, sich immer mehr und ohne Ende dem unerreichbaren Urbild anzugleichen. Darin ahmt der Geist die Unendlichkeit des Urbildes soweit als möglich nach. Fertigt z.B. ein Maler von sich zwei Bilder an, von denen das eine tot erscheint, aber tatsächlich ihm ähnlicher, das andere weniger ähnlich, jedoch lebendig in dem Sinne, daß es von einem Gegenstand zur Veränderung angeregt, sich selbst immer ähnlicher machen könnte, dann zweifelt keiner daran, daß das zweite Bild vollkommener ist, da es die Kunst des Malers mehr nachahmt. Genau so hat jeder Geist und insbesondere unser Geist - mag er in der Schöpfung auch tiefer stehen als andere Geister - von Gott die Eigenschaft erhalten, soweit wie möglich ein vollkommenes und lebendiges Abbild der unendlichen Kunst zu sein."25

Avicenna gab zu bedenken, daß dies allerdings voraussetze, daß der einzelne Mensch diese Selbstvervollkommnung will und auch etwas dafür tut. Das Gleiche gelte übrigens ganz allgemein für die Einwirkung durch Ideen auf die Wirklichkeit. Der Unterschied zwischen Gott und den Menschen bestehe ja u.a. darin, daß jeder Gedanke Gottes gleichzeitig auch schon real existiert, während menschliche Gedanken nur dann Wirklichkeit werden, wenn auch der Wille dazu vorhanden ist.

    "Wenn diese Erkenntnisformen durch ihre (geistige) Existenz in uns allein dafür ausreichend wären, daß aus ihnen die Kunstformen entstünden..., dann wäre das von uns begrifflich gefaßte auch zugleich unsere Macht (über die Dinge, die wir herstellen wollen).Jedoch verhält es sich nicht so; sondern die Existenz der begrifflichen Vorstellungen in uns genügt noch nicht (zum Wirken nach außen). Sie bedürfen noch weiterhin des sich stetig erneuernden Willensentschlusses, der in Tätigkeit versetzt wird von der begehrenden Kraft, und durch diese wird zu gleicher Zeit die bewegende Kraft in Bewegung gesetzt. Diese bewegt dann die Nerven und Glieder wie Instrumente. Sodann setzt sie die äußeren Organe in Tätigkeit und letzthin die Materie."26

Dem stimmte LaRouche aus vollem Herzen zu. Es sei unmöglich, die Welt zu verändern, zum Guten oder Schlechten, wenn dazu nicht der Wille bzw. eine bewußte Absicht vorhanden ist. Manchmal sei es auch nötig und nützlich, eine im Geist getroffene Entscheidung durch eine entsprechende "konkrete Handlung" zu bekräftigen.

Dann schlug er den Bogen von der Philosophie zur Ökonomie und erläuterte kurz und bündig den Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie, wissenschaftlichem Fortschritt, der Kultur einer Gesellschaft und der Produktivkraft ihrer physischen Wirtschaft, gemessen am relativen Bevölkerungspotential:

    "Die Menschen besitzen als Gattung die Fähigkeit, sich über die Schranken trügerischer Sinneseindrücke zu erheben und im Experiment nachweisbare allgemeingültige physikalische Prinzipien zu entdecken... Niedere Lebewesen kommen kraft ihres eigenen Denkens nicht über die ökologischen und sonstigen Möglichkeiten, die ihnen in ihrem biologischen Erbe mitgegeben sind, hinaus; aber die Menschheit ist fähig, falsche oder wahre Entdeckungen allgemeingültiger physikalischer Prinzipien von Generation zu Generation weiterzugeben...

    Die Weitergabe solcher ausgeprägt menschlichen Ideen, das ist es, was wir zurecht als ,Kultur' bezeichnen. Daher manifestiert sich die Geschichte und das Wesen der Menschheit entweder als evolutionäre Weiterentwicklung oder als Niedergang von Kulturen, einschließlich der einzelnen Menschen innerhalb dieser Kulturen. Es gibt Kulturen, die scheitern, und es gibt solche, die mehr oder weniger erfolgreich sind...

    Mein eigener und äußerst erfolgreicher Beitrag zum Studium der Kulturen betrifft meine Einführung des Begriffs des relativen Bevölkerungsdichtepotentials als einzig kompetente Grundlage zur Definition einer physikalischen Wirtschaftslehre."27

Die physische Wirtschaftsentwicklung, so unterstrich LaRouche, beruhe letztlich auf der Entdeckung, Weitergabe und der praktischen Anwendung neuer physikalischer Prinzipien.

Dem stimmten alle drei Weisen, Avicenna, Nikolaus und Leibniz auf der ganzen Linie zu.

Avicenna sagte, in seiner eigenen Metaphysik sei ein Prinzip der Vervollkommnung, sozusagen als Vorform für LaRouches Begriff der ,Anti-Entropie' durchaus enthalten. Er gebe aber zu, daß seine wirtschaftspolitischen Ratschläge sich auf einige einfache Grundprinzipien beschränkten. Drei davon zählte er auf: Jeder Gesetzgeber müsse dafür sorgen, daß 1. jeder Bürger die Möglichkeit habe, einer Tätigkeit nachzugehen, die auch für die übrige Gesellschaft nützlich ist; 2. um dies nicht zu untergraben, müßten "Beschäftigungen, die den Besitz von Gütern und nutzbringenden Gegenständen von einer Person zur anderen ohne irgendwelchen Vorteil übertragen" verboten werden, wie z.B. das Glücksspiel oder der Wucher; und 3. müsse es in jeder Gesellschaft einen öffentlichen Sektor und ein Gemeinkapital geben, das "dem allgemeinen Glücke dienen" muß; dazu gehöre die Versorgung der Armen und Kranken, der Unterhalt der Soldaten und andere öffentliche Aufgaben.28

Nikolaus verwies nur kurz auf seine Reformpläne für Kirche und Staat in seinem Buch Concordantia catholica, und

Leibniz gab nun einen hochinteressanten Bericht über seinen Plan zur Aufrichtung einer deutschen Sozietät der Künste und Wissenschaften, in der Theorie und Praxis - d.h. die theoretische Wissenschaft und die praktische Forschung wie das Testen und Anwenden neu entdeckter Prinzipien - vereint werden sollten. Deswegen sollte diese Sozietät auch keine herkömmliche Universität sein, sondern eher so etwas wie eine Wissenschaftsstadt mit einer großen Bibliothek, wo die interessantesten Bücher aus der ganzen Welt einsehbar wären, mit einem Museum der Erfindungen und Entdeckungen, mit Laboratorien, Manufakturen, Schulen, einem Waisenhaus und einer Einrichtung, wo arme Leute Beschäftigung und Unterhalt finden könnten, usw. Von einer solchen Sozietät sollte der Fortschritt ins ganze Land ausstrahlen und die Entwicklung der physischen Wirtschaft vorantreiben.

Als Leibniz von diesem Plan erzählte, schwang dabei auch eine gewisse Frustration mit, denn die Deutschen setzten ihn ja nicht um. Die größte Ähnlichkeit mit Leibniz ursprünglichem Plan hatte im Grunde die Akademie, welche Zar Peter I. im fernen St. Petersburg gründete.

Der Universalgelehrte verwies auf seine Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand, denn darin hatte er vorgeschlagen, neben den traditionellen Fakultäten - Theologie, Jura, Medizin und Philosophie - eine neue Wirtschaftsfakultät einzurichten:

    "Einige haben mit einem gewissen Recht geglaubt, daß man den übrigen Fakultäten eine ökonomische Fakultät hinzufügen könnte, welche die mathematischen und mechanischen Künste und all das, was den Unterhalt der Menschen und die Bequemlichkeit des Lebens im einzelnen angeht, umfassen würde, worin auch der Ackerbau und die Baukunst mit inbegriffen sein würden... Selbst in den edleren Handwerken hat sich das theoretische Wissen mit der Ausübung sehr gut vereinigen lassen und beides könnte noch mehr als bisher vereinigt werden. In der Tat findet sich eine derartige Vereinigung in der Medizin... Dieses Bündnis zwischen Theorie und Praxis läßt sich ferner in der Kriegskunst beobachten... wie auch bei den Malern, Bildhauern und Musikern und anderen Arten von ,Virtuosen'. Wenn die Prinzipien aller dieser Berufsarten und Künste, ja auch die der Handwerke, bei den Philosophen oder in irgendeiner anderen Fakultät von Gelehrten, sei sie, welche sie wolle, praktisch gelehrt würden, so wären diese Gelehrten in Wahrheit die Lehrer des menschlichen Geschlechtes. Man müßte jedoch in vielen Punkten den gegenwärtigen Zustand der Literatur und Jugenderziehung und folglich der Staatsverwaltung verändern."29

    LaRouche war begeistert: Das ist bereits die Idee der École Polytechnique, die später in Frankreich gegründet wurde! Deswegen verweise ich immer auf Leibniz' Begriff der "Technologie" als Schlüsselidee für mein Konzept der "physischen Wirtschaft".

Doch ein letztes Mal ergriff nun Leibniz das Wort. Der sonst meist höflich Verschlossene äußerte sich hier im Kreise seiner Freunde ziemlich grimmig über seine philosophischen und politischen Gegner, die nicht an ein wirksames Naturrecht glaubten und

    "nun, da sie sich von der unbequemen Furcht vor einer wachsamen Vorsehung und einer drohenden Zukunft befreit glauben, ihren tierischen Leidenschaften die Zügel schießen lassen und ihren Geist darauf richten, andere zu verführen und zu verderben. Sind sie außerdem ehrgeizig und von etwas gewalttätigem Naturell, so sind sie imstande, für ihr Vergnügen oder ihren Vorteil die Welt an allen vier Ecken anzuzünden... Aber es könnte solchen Leuten begegnen, daß sie die Übel, welche sie anderen aufbehalten wähnen, an sich selbst erproben. Wenn man sich jetzt noch von der epidemischen Geisteskrankheit, deren schlimme Wirkungen sichtbar zu werden beginnen, heilte, so könnte jenen Übeln vielleicht noch vorgebeugt werden; wächst sie indessen immer mehr, so wird die Vorsehung die Menschen durch die Revolution selbst, die hieraus entspringen muß, heilen."30

Schlußbemerkung

Die Revolution, von der Leibniz sprach, kam wirklich. Und ihr positivster Aspekt war die Amerikanische Revolution von 1776. Etwas Ähnliches ist heute offenbar wieder nötig. Wir sollten das bessere Amerika bei diesem Unterfangen unterstützen.


Anmerkungen

1. L. LaRouche, "Can We Change The Universe", EIR-Magazin, Vol. 28, No. 9, 2.3.2001, S. 14f.

2. G. Liebig, "Homers Odyssee, Seefahrt in der Antike", Neue Solidarität, Nr. 52, 23.12.1998.

3. Solon, "An das Volk von Athen", Neue Solidarität, Nr. 46, 14.11.2001.

4. L. LaRouche, "Brzezinski And September 11", dt. in der EIRNA-Studie "11. September: Die Lüge aus Staatsräson und ihre verhängnisvollen Konsequenzen", S. 30-60, Wiesbaden, März 2002.

5. Siehe F. Schiller, "Über das Erhabene", in Sämtliche Werke, Bd. 5, Philosophische und vermischte Schriften, Winkler Verlag, München, S. 215ff.

6. Neues Testament, Apostelgeschichte 17, 16-29.

7. Siehe Ph. Messer, "The Scientific Renaissance Of The Medieval Cathedrals", dt. Übers. in Vorbereitung.

8. Siehe Engelbert Mühlbacher, Deutsche Geschichte unter den Karolingern, Phaidon Verlag, Essen, Bd. 1, S. 224-228.

9. Siehe Anm. 7.

10. Christa Kaiser, "Kaiser Friedrich II. und der moderne Nationalstaat", Neue Solidarität, Nr. 49, 6.12.2000.

11. M. Mirak-Weißbach, "Andalusien, Tor zur Goldenen Renaissance", Ibykus, Nr. 48/1994 und Neue Solidarität, Nr. 47, 21.11.2001 und Nr. 48, 28.11.2001.

12. H. Zepp, "Euro-Arabische Renaissance", beide Zitate aus Neue Solidarität, 20.1.1977.

13. Siehe S. Harrison Thomson, Das Zeitalter der Renaissance. Von Petrarca bis Erasmus, Kindler Verlag, S. 38ff.

14. H. Zepp-LaRouche, "Dialog der Kulturen nötiger denn je", Neue Solidarität, Nr. 43, 24.10.2001.

15. Ein Beispiel ist die erfolgreiche Aufführung der Tell-Gruppe aus Hannover im August 2001 im Cusanus-Geburtshaus in Kues.

16. Nikolaus v. Kues, Über den Frieden im Glauben, Kap. 4, Meiner, S.98f.

17. Ebenda, Kap. 13, S.130f.

18. Ebenda, Kap. 16, S. 140.

19. Nikolaus v. Kues, Der Laie über die Weisheit, Felix Meiner, Hamburg 1977, S. 49.

20. Siehe G.W. Leibniz, "Monadologie", §38 und 45, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Bd. 2, S. 444f.

21. Ebenda, §83, S. 454f.

22. Ebenda, §26 und 28, S. 441f.

23. Nikolaus v. Kues, Der Laie über den Geist, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1949, Kap. 5, S. 29.

24. Avicenna, Das Buch der Genesung der Seele, II. Serie: Die Philosophie, VIII. Abhandlung: Theologia naturalis, 7. Kap., S. 529.

25. Nikolaus v. Kues, Der Laie über den Geist, Kap. 8, S. 78f.

26. Avicenna, a.a.O., S. 535f.

27. L. LaRouche, "Brzezinski und der 11. September", passim, siehe Anm. 4.

28. Avicenna, a.a.O., X. Abhandlung: Philosophia practica, 4. Kap.: Das Leben der Städte..., S. 671ff passim.

29. G.W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Felix Meiner, Hamburg 1971, S. 646f.

30. Ebenda, S. 557.


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