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"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

     Konferenz in Paris, Juni 2015   

Die Schlüsselrolle des Staates bei großen Infrastrukturen
und das Scheitern der verwalteten Ökonomie in Frankreich

Von Jean Pierre Gérard

Jean Pierre Gérard ist Präsident des Clubs der führenden Weltexporteure Frankreichs, Präsident der G21 und des Pomone-Instituts, Ökonom und früheres Mitglied des Rates für Geldpolitik der Banque de France.

Jean Pierre Gérard ist Präsident des Clubs der führenden Weltexporteure Frankreichs, Präsident der G21 und des Pomone-Instituts, Ökonom und früheres Mitglied des Rates für Geldpolitik der Banque de France.

Ich befasse mich praktisch seit 1970 mit der Industrie - erst in der Verwaltung, dann als Berichterstatter der Industriekommission des 7. Planes und dann in großen Unternehmen. 1994 berief mich Philippe Séguin, der damalige Präsident der Nationalversammlung, in den Rat für Geldpolitik.

Im Mittelpunkt meines Vortrages stehen drei einfache Ideen, die leider den meisten Menschen kaum oder gar nicht bekannt sind.

    1. Vor allem verschwendet der Staat durch die staatlichen Interventionen finanzielle Mittel der Nation. Das führt zur Knappheit der Finanzmittel für Aktivitäten, die produktiver sind, insbesondere in der Industrie und in der Landwirtschaft.

    2. Das muß uns zu einem neuen Ansatz bei Infrastrukturprogrammen führen.

    3. Wir müssen darauf abzielen, die wirtschaftliche Rentabilität der Infrastruktur und der staatlichen Interventionen in die Wirtschaft zu verbessern.

Als ich am Institut für Politische Studien Wirtschaft studierte, lernten wir nach dem Lehrbuch von Samuelson, einem amerikanischen Wirtschaftsprofessor, der später den Wirtschaftsnobelpreis bekam. Darin erklärte er die Keynesianischen Prinzipien der Multiplikatoren und Beschleuniger von Investitionen. Trotzdem war ich sehr überrascht, zu erfahren, daß die Natur des Vorhabens, das auf diese Weise realisiert wird, letztendlich bedeutungslos sei. Mit anderen Worten, man könne intelligente Investitionen vornehmen oder auch einfach nur Löcher graben und wieder zuschaufeln, die Resultate wären immer gleich.

Heute, nach mehr als 40 Jahren Erfahrung, traue ich dieser Behauptung überhaupt nicht. Ich halte es für untragbar, daß Infrastrukturprogramme gefördert werden können, ohne deren wahren Nutzen und ihre wirtschaftliche Rentabilität gründlich zu messen.

Warum ist Rentabilität notwendig?

Meiner Meinung nach war Keynes’ Analyse weitgehend an die Währungssituation seiner Zeit gebunden. Es bestand noch die Bindung an das Gold, auch wenn diese Bindung bei den verschiedenen Währungen mit der Zeit stark gelockert werden sollte. Somit war die Geldmenge der Welt offensichtlich begrenzt. Die Idee, die öffentlichen Ausgaben zu steigern, wirkte daher wie eine Liquiditätsspritze - etwas, was in einer Zeit knappen Geldes wie der Nachkriegszeit und wegen der Bedeutung der Investitionen für den Wiederaufbau der Wirtschaft zweifellos eine positive Wirkung auf die Wirtschaftstätigkeit hatte. Die Geldmenge, die durch die öffentlichen Ausgaben geschaffen wurde, wirkte als Kredit für verschiedene wirtschaftliche Aktivitäten, die nur darauf warteten, in Gang zu kommen. Das hat sich in allen Perioden der Geschichte bestätigt.

Unsere heutige Lage ist eine vollkommen andere. In der heutigen Welt herrscht überall Geldüberschuß als Folge der langen Jahre lockerer Währungspolitik der Vereinigten Staaten, mehr oder weniger von 1990 bis 2007. Dann kam die Finanzkrise, die durch genau diese Exzesse verursacht wurde. Dennoch schossen die Währungsautoritäten in Amerika und Europa weiter beträchtliche Geldsummen in die Programme, die man „Quantitative Lockerung“ nannte.

Abb. 1: Größenvergleich des weltweiten Wirtschaftsvolumens (Welt-BIP), des Börsenkapitals und der Derivatmärkte (Werte in Billionen Dollar).

Heute herrscht ein solcher Überschuß an Liquidität, daß niemand weiß, wo er investieren soll. Die unkontrollierten öffentlichen Ausgaben fließen immer mehr in unrentable Aktivitäten und werden ausschließlich und systematisch durch immer höhere Verschuldung finanziert.

Die öffentlichen Ausgaben, die im ganzen keinen Gewinn abwerfen, haben eine dramatische Wirkung: Schrumpfen der Investitionen und des privaten Verbrauchs. Wenn wir die folgende Grafik betrachten (Abbildung 1), dann sieht man, daß das BIP der Welt in der Größenordnung von etwa 50.000 Mrd.$ liegt, und es ist gedeckt durch eine Kapitalisierung der Aktienmärkte mit 100.000 Mrd.$. Eine realistische Schätzung ist, daß 200.000 Mrd.$ notwendig wären, um die Weltwirtschaft insgesamt am Laufen zu halten, ohne daß das Geld knapp wird. So drehen sich 300-400.000 Mrd.$ um sich selbst, ohne irgendetwas zur Realwirtschaft beizutragen.

Wir sind also in einer Lage, wie es sie noch nie gegeben hat: auf der einen Seite eine Finanzsphäre, die sich nur um sich selbst dreht, und auf der anderen Seite eine produktive Sphäre, dessen nominelle und reale Werte von der Finanzsphäre praktisch besteuert werden. Diese Besteuerung findet in den sogenannten Industrieländern meist direkt in Form von Steuern statt, aber auch durch den Abzug eines wichtigen Teils der Humanressourcen (Arbeitslosigkeit). Diese Arbeitslosigkeit wird im allgemeinen auf den Wettbewerb mit Billiglohnländern zurückgeführt, aber der Kostenunterschied wäre nicht so groß, wenn die Besteuerung des produktiven Sektors nicht so stark wäre.

Die von der FED und der EZB ins System gepumpte Geldmenge verschlimmert dieses Phänomen nur noch. Die „quantitative Lockerung“ fließt praktisch vollständig in den Finanzsektor, ohne irgendwelchen Gewinn für den produktiven Sektor.

Ein mikroökonomischer Ansatz für große Infrastrukturprojekte

Der makroökonomische und monetäre Ansatz sagt uns in der gegenwärtigen Lage nicht, was wir tun müssen. Dennoch scheint es möglich, eine Typologie der Infrastruktur zu erstellen, klassifiziert nach ihren Zielen, ihren Mitteln und ihrem Erfolg. Die verschiedenen Pläne, die es [in Frankreich] gegeben hat, sind fast alle systematisch gescheitert, wenn sie produktive Strukturen beeinflussen sollten. Wir stellen jedoch einige Ausnahmen fest, wo der Staat Kunde war oder wo die notwendigen finanziellen Mittel die Kapazitäten der wirtschaftlichen Akteure überstiegen.

1. Horizontale Interventionen

- Der erste Typ von Interventionen erfolgt durch Subventionen der Produktions-/Erzeugerpreise. Das typische Beispiel ist die Gemeinsame Agrarpolitik der EU, deren „bewundernswertes“ Ergebnis war, daß die deutsche Landwirtschaft heute effizienter ist als die französische, für die sie entworfen wurde.

- Die Steuerbefreiungen für Forschungskredite (CIR) und die Steuerbefreiungen für Wettbewerb und Beschäftigung (CICE) sind bloß Steuernischen, die notwendig sind, um ein alles verschlingendes Besteuerungssystem auszugleichen.

2. Die Pläne für Wirtschaftssektoren

- der Stahlplan

- der Werkzeug- und Maschinenplan

- der Berechnungsplan

- der digitale Plan für alle

Alle diese Pläne waren dramatische Fehlschläge. Sie alle endeten mit dem Aus für fast alle Unternehmen, die zwar zum Teil spektakuläre Erfolge verzeichneten (so der Computerkonzern Bull), aber deren schwache Rentabilität ihnen nicht erlaubte, die mit industriellen Aktivitäten immer verbundenen Risiken zu tragen.

3. Die Verstaatlichungen

- Wenn man alle Verstaatlichungen rekapituliert, die seit 1981 im Industriesektor durchgeführt wurden, dann waren sie allesamt massive Fehlschläge.

- Die Verstaatlichungen von Banken waren auch nicht erfolgreicher (siehe Credit Lyonnais) und führten zu der gegenwärtigen Lage der monetären Politik unseres Landes.

4. Die Klientelpolitik

- Meines Wissens ist das die einzige vom Staat oder von Kommunen umgesetzte Strategie, die in gewissem Maße erfolgreich war. Dies betrifft im wesentlichen die staatlich beaufsichtigen Sektoren: Luft- und Raumfahrt, Schiffsbau und Rüstungsgüter.

- Andere öffentliche Einrichtungen haben es geschafft, eine wirksame Industriepolitik zu betreiben. Das Pariser Nahverkehrsnetz RATP und in einigen Fällen sogar das nationale Eisenbahnunternehmen SNCF entwickelten leistungsfähige Industrien. Das gleiche gilt für etliche weltweit führende Exportfirmen.

Ich will Ihnen nur ein Beispiel anführen, das der Firma Desgranges und Huot. Dieses Unternehmen, das Druckeinheiten für Meßgeräte entwickelt, hatte viele Jahre lang enge Verbindungen zum Nationalen Labor für Tests, das alle Produkte testet, die auf den Markt kommen. Ihre Zusammenarbeit, die sich über mehr als 20 Jahre erstreckte, führte dazu, daß das Unternehmen zum Weltmarktführer aufstieg, und das Labor selbst wurde zum weltweit führenden Labor für Druckmessungen.

5. Die Auswahl des Führungspersonals

- Von dem Moment an, in dem das Firmenkapital dem Staat gehört, wurde die Führung dieser Unternehmen aus der administrativen Intelligenzia ausgewählt. Diese Leute wußten wenig über die Realitäten in Wirtschaftsunternehmen, hielten sich aber für befähigt, Änderungen einzuführen, die mehr durch ein Bedürfnis zur Selbstdarstellung als durch industrielle Realitäten begründet waren.

Die Fehler der staatlichen Eingriffe und die Gründe für deren Ineffizienz

Ich möchte diesen Vortrag gerne abschließen, indem ich versuche, zu erklären, warum staatliche Interventionen fast immer einen Niedergang zur Folge hatten.

1. Das erfolgreichste Programm der letzten 50 Jahre war zweifellos das Kernkraftprogramm. Begonnen im 7. Plan unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing, zielte es darauf ab, unserem Land eine sehr weitgehende Unabhängigkeit in der Energieversorgung zu verschaffen. Dieses Ziel wurde erreicht, aber ein weniger sichtbares Ziel war, daß es Druck aufbaute, den Ölpreis zu senken. Die Investitionen waren zwar massiv, aber die geringen Betriebskosten verschafften unserem Land einen großen Wettbewerbsvorteil.

2. Im Gegensatz dazu litten alle anderen Programme unter den drei immer wiederkehrenden Übeln der Interventionen französischer Regierungen in die Wirtschaft:

- Später Start wegen der Zögerns der Politik

Der damalige Ministerpräsident Baymond Barre erklärte, der Staat sei gezwungen, einen Telekommunikationsplan zu beginnen, wegen der bedeutenden notwendigen Investitionen könne dies nur der Staat tun. Ein bißchen plötzlich hatte man vergessen, daß in allen Ländern der Welt das Telefon und die Kommunikation vom privaten Sektor entwickelt wurden. Die Telefonausrüstung war teuer, weil man bei den Investitionen aufholen mußte, am verspäteten Start war die staatliche Post PTT schuld. Das gleiche ließe sich über unsere Autobahnen sagen.

- Gießkannenprinzip und Komplexität

Im Zusammenhang mit den Interventionen in einzelne Sektoren stoßen wir auf zwei Fehler:

    Gießkanne: Man sieht oft, daß bestimmte Investitionen auf mehrere Lieferanten aufgeteilt werden mußten. Die Folge war eine Kostensteigerung, vor allem aber ein schlechter Ruf der französischen Industrie.

    Komplexität: Sehr oft wird bei den technischen Vorgaben die Vermarktung nicht berücksichtigt. Ein Beispiel aus meiner persönlichen Erfahrung: 1988 entwickelten das französische Weltraumlabor ONERA und ein amerikanisches Unternehmen ein System zur Blitzerfassung. ONERA baute ein System von ausgezeichneter Qualität, das dem amerikanischen in jeder Hinsicht überlegen war. Das kleine Problem war nur, daß es doppelt so teuer war wie das amerikanische System und daß das amerikanische zwei Jahre früher fertig war. Das Endergebnis war, daß der französische Wetterdienst Meteo France trotz der Schwächen mit dem amerikanischen System ausgestattet wurde. Dieses System wurde zwar später verbessert, doch das französische wurde niemals gebaut.

3. Jede erfolgreiche Investition muß so viel wie möglich genutzt werden

Eines der häufigsten Verhaltensmuster der französischen Politik ist, daß man Dinge kopieren will, die anderswo erfolgreich waren, oder daß man um jeden Preis Anlagen anschaffen will, die ein gutes Schaufenster abgeben, wie z.B. der Schnellzug TGV. Die erste TGVs waren zweifellos ein großer Erfolg. Die Gründe für die Investitionen in die Paris-Mittelmeer-Linie sind allgemein bekannt, sie erklären sich durch die Notwendigkeit, neue Strecken zu bauen, weil es Engpässe bei den Ausfahrten aus Paris gab und weil die Bevölkerung von Paris, Lyon und Marseille zusammen ein Drittel der Bevölkerung Frankreichs ausmacht.

Nach diesem Erfolg wollte dann jeder seinen TGV: erst im Westen, der viel dünner besiedelt ist, dann im Osten, wo er sehr schnell Verluste machte. Seit inzwischen mehr als zehn Jahren ist aus einem technischen und kommerziellen Erfolg ein Verlustgeschäft geworden.

Um zum Schluß zu kommen: Sie werden verstanden haben, daß ich nicht deshalb gegen ideologische Eingriffe des Staates in die Wirtschaft bin, weil ich der Ansicht wäre, daß er dort keine wesentliche Rolle einnehmen könnte. Ich denke allerdings, daß der Staat intervenieren muß, wenn es um Größenordnungen geht, die außerhalb der Reichweite privater Investoren liegen, oder wenn die Entwicklung neuer Produkte das Überleben des Unternehmens in Frage stellen würde (d.h., daß es einen möglichen Fehlschlag nicht verkraften könnte). In diesem Zusammenhang haben wir mit Erfolg den französischen Luft- und Raumfahrtsektor aufgebaut.

Der Kanaltunnel hätte wenigstens zum Teil durch öffentliche Investitionen finanziert werden sollen. Es war bekannt, daß bedeutende Risiken bestanden. Es war auch klar, daß der Tunnel mindestens hundert Jahre lang die französisch-britischen Beziehungen völlig verändern würde und daß man die Rentabilität nicht mit dem industriellen Maßstab von 10 oder 20 Jahren, sondern von 100 Jahren berechnen mußte. Paradoxerweise und unter dem Einfluß von Margaret Thatcher war es die einzige große Investition, die eine staatliche Intervention gerechtfertigt hätte, aber vom privaten Sektor finanziert wurde.

Die Staatsmacht kann unmöglich die Bedürfnisse einer komplexen Gesellschaft a priori bestimmen. Der Erste Plan [nach dem Krieg] hatte die Grundbedürfnisse für den Wiederaufbau Frankreichs definiert. Aber seit dem Sechsten Plan und noch mehr seit dem Siebten Plan waren wir gezwungen, einen autoritativen Plan durch indikative Wirtschaftsplanung zu ersetzen. Ich denke, daß wir heute der Wirtschaft mehr Freiheit geben müssen. Solange der Staat und die öffentlichen Einrichtungen sich in Wirtschaftsaktivitäten engagieren, deren Rentabilität bei Null liegt oder manchmal sogar negativ ist, wird es der privaten Wirtschaft an Dynamik fehlen. Unter dem Zwang der Verantwortung für seine eigene Rentabilität wird er die Kosten der zunehmend negativen Rentabilität der Aktivitäten des öffentlichen Sektors tragen müssen.