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Friedrich Schiller




Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

     Konferenz in Paris, Juni 2015   

Die Eurasische Landbrücke aus der Sicht von Leibniz

Die Eurasische Landbrücke aus der Sicht von Leibniz

Christine Bierre ist Chefredakteurin der Zeitung „Nouvelle Solidarieté“, sie sprach bei der Pariser Konferenz des Schiller-Instituts über die Beziehungen des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz zu China und Rußland.

Meine Damen und Herren,

dieser Abschnitt der Konferenz wird sich mit großen Infrastrukturprojekten befassen, die im Mittelpunkt der BRICS-Strategie stehen, und in diesem Zusammenhang werde ich über das „Grand Design“ der eurasischen Entwicklung sprechen, das im 17. Jahrhundert vom großen deutschen Philosophen, Wissenschaftler und Politiker Gottfried Wilhelm Leibniz vorgeschlagen wurde und das ein wunderbares Modell für heute ist.

Aber bevor ich darauf komme, noch ein paar Bemerkungen zur Frage der großen Infrastrukturprojekte. Diese bilden tatsächlich die Grundlage für die industrielle Entwicklung einer Nation. Ohne moderne Verkehrs-, Energie- und Wasserinfrastruktur ist kein Fortschritt möglich.

Es wäre jedoch falsch, diese Projekte nur für sich alleine zu betrachten, weil man dann Gefahr läuft, in die Fehler der keynesianischen Ökonomen zu verfallen, denen es nur darum geht, für irgendwelche wirtschaftliche Aktivität zu sorgen, egal in welchem Bereich - selbst wenn man bloß Löcher gräbt und wieder zuschüttet!

Das wichtige an der BRICS-Strategie ist, daß diese Infrastrukturen und die Lastwagen, Kräne und Bagger, die man bei ihrem Bau einsetzt, nur der konkrete Ausdruck des schöpferischen menschlichen Geistes und des menschlichen Willens sind, die enormen Herausforderungen der Natur zu meistern, um die menschliche Gesellschaft zu transformieren.

Vor dem Erbauen dieser Objekte steht das Menschenbild des Menschen als Schöpfer, im Gegensatz zur Vorstellung des Menschen als Räuber, wie sie heute infolge der verschiedenen extremen Formen des Liberalismus vorherrschend ist, den die westlichen Finanzzentren, die Londoner City und die Wall Street, weltweit verbreitet haben.

Die BRICS-Strategie wird auch genährt von einer nobleren Vision der menschlichen Zivilisation - vom Willen, eine Welt zu schaffen, in der alle Nationen, unabhängig von ihrer Größe und ihrem Reichtum, das Recht auf eine umfassende Entwicklung haben: eine Welt im Geist des Westfälischen Friedens, in der alle Nationen souverän entscheiden können, Bündnisse mit den Partnern ihrer Wahl einzugehen, und nicht gezwungen sind, sich diesem oder jenem ideologischen Block zu unterwerfen oder Vasallen dieses oder jenes Imperiums zu werden. Herr Kadyschew hat dieses Prinzip in seiner Rede heute vormittag bekräftigt. Chinas Präsident Xi Jinping handelt jeden Tag mit kleinen und großen Nationen „Win-Win“-Verträge aus.

Dieses Menschenbild ist leider aus dem transatlantischen Bereich verschwunden, an seine Stelle traten das Menschenbild des Räubers und die Rückkehr zu Imperien. Die Geier sind überall: im Finanzbereich, in den Regierungen, wo sie den öffentlichen Besitz und die Schwächsten unter uns plündern, und im Krieg, wo sie ihre ungezügelte Grausamkeit entfesseln, wie im Nahen Osten.

Frankreich hatte das Glück, daß es einen Charles de Gaulle gab, der zu seiner Zeit den Geist der BRICS verkörperte. Aber heute ist es in schändliche, opportunistische Bündnisse verstrickt, wo es sich für eine Handvoll Dollars vom dekadenten amerikanischen Empire den rückständigsten Ölmonarchien zuwendet, ohne jedoch die Tür zu den BRICS ganz zu verschließen - schließlich weiß man ja nie, wer am Ende gewinnt!

Erinnern wir uns an das wahre Frankreich, an den 30. Januar 1964, als Charles de Gaulle, der Präsident eines Frankreichs, das seine Souveränität gerade erst wieder zurückerlangt hatte, mit dem anglo-amerikanischen Block brach und die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit einer anderen souveränen Nation bekanntgab, mit China. Denn auch wenn er das damalige chinesische Regime nicht guthieß, setzte er darauf, wie er sagte, daß „man in der ungeheuren Evolution der Welt durch die Vermehrung der Beziehungen zwischen den Völkern der Sache der Menschheit, d.h. der Weisheit, dem Fortschritt und dem Frieden, dienen kann... und so können sich alle Seelen, wo immer auf der Erde sie sein mögen, schneller vereinen zu dem Rendezvous, das Frankreich vor 175 Jahren vorgegeben hat: dem von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.“ Nach dieser Entscheidung trat Frankreich 1966 aus dem gemeinsamen Kommando [der NATO] aus und nahm auch Beziehungen zur Sowjetunion auf.

Und weil ich fest davon überzeugt bin, daß Frankreich seine Souveränität zurückgewinnen kann und mit einem westlichen Block, den die Finanzkrise und der Weltreichanspruch in einen Weltkrieg gegen Rußland und China treiben, brechen kann, so daß auch andere europäische Länder inspiriert sein können, das gleiche zu tun, will ich ihnen hier das gewaltige eurasische Projekt vorstellen, das Leibniz im 17. Jahrhundert vorgeschlagen hat.

Ein weiterer Grund ist, daß dieses Projekt einen sehr hohen Maßstab setzt, und daß alle, die die BRICS schaffen, heute für diese neue Welt kämpfen und dieses schöne Ideal hegen müssen, wenn wir mit unserem Tun Erfolg haben sollen.

Leibnizens eurasisches Grand Design

Leibniz (ein Zeitgenosse Colberts, der mit ihm zusammenarbeitete) wollte das durch irrationale Kriege verheerte und zur Geisel der bösen Geister des religiösen Fanatismus gewordene Europa von Grund auf verändern, und kämpfte deshalb dafür, auf dem gesamten eurasischen Kontinent die Voraussetzungen für Frieden und Entwicklung zu schaffen.

Was ist sein Grand Design, sein großer Entwurf? Ein Bündnis zwischen Europa und China, den entwickeltsten Gebieten der damaligen Welt, und Fortschritt für das dazwischen gelegene Rußland durch die Verstärkung des kulturellen und wirtschaftlichen Austauschs zwischen den beiden. Die Beziehungen zwischen den Nationen sind heute andere, aber das Prinzip ist das gleiche.

Diesen Entwurf stellt Leibniz in poetischer Weise im Vorwort zu seinem Werk Novissima Sinica - „Neuigkeiten aus China” - vor. Er sagt:

    „Durch einzigartige Entscheidung des Schicksals, wie ich glaube, ist es dahin gekommen, daß die höchste Kultur und die höchste technische Zivilisation der Menschheit heute gleichsam gesammelt sind an zwei äußersten Enden unseres Kontinents, in Europa und China, das gleichsam wie ein Europa des Ostens das entgegengesetzte Ende der Erde ziert. Vielleicht verfolgt die höchste Vorsehung dabei das Ziel - während die zivilisierten und gleichzeitig am weitesten voneinander entfernten Völker sich die Arme entgegenstrecken - alles, was sich dazwischen befindet, allmählich zu einem vernunftgemäßen Leben zu führen.“

Und Leibniz fügt hinzu, Zar Peter der Große sei diesem Projekt geneigt und werde darin vom orthodoxen Patriarchen unterstützt.

Leibniz hatte das große Glück, daß sich damals sowohl Zar Peter der Große als auch der chinesische Kaiser Kangxi Europa öffneten und einen „großen Eifer zeigen, ihren Ländern die Kenntnis der Wissenschaften und der europäischen Kultur zu bringen“.

Nachdem er sich über Jahre ein privilegiertes Verhältnis zu diesen beiden Staatsoberhäuptern erarbeitet hatte, versuchte Leibniz in seiner Funktion als Fürstenberater den Gang der Geschichte zu verändern. Er traf dreimal (1711, 1712, 1716) mit Peter dem Großen zusammen und wurde dessen Berater. Der Zar hatte ihn um Hilfe gebeten, „sein Volk aus der Barbarei zu führen“.

Zu Kangxi liefen seine Beziehungen nicht direkt, sondern über eine Gruppe jesuitischer Missionare, die seit einen Jahrhundert in China wirkten und denen es dank ihrer wissenschaftlichen Kenntnisse gelungen war, das Vertrauen der Kaiser und insbesondere des damals regierenden Kangxi zu gewinnen. Leibniz stand in Briefkontakt mit vielen dieser Jesuiten und regte selbst die Mission von fünf jesuitischen Missionaren an, die 1685 nach China aufbrachen, um mit Kangxi zusammenzuarbeiten.

Fortschritt nach Rußland bringen

Die Memoranden dieses leidenschaftlichen Dialogs zwischen Leibniz und Peter dem Großen und dessen Beratern sind dank der gesammelten Werke von Leibniz, die von Fouchier de Careil zusammengestellt wurden, heute vollständig zugänglich.

Im Mittelpunkt seiner Vorschläge stand, „alle aktiven und fähigen Männer aller Berufe heranzuziehen“, die Untertanen auszubilden, insbesondere die Jugend, und sie zu lehren, „kreativ zu sein“, indem man die großen Entdeckungen der Vergangenheit nachvollzieht; die Beschreibungen aller Künste und Wissenschaften ins Russische zu übersetzen, überall Schulen zu eröffnen und in den größten Städten wie Moskau, St. Petersburg, Kiew und Astrachan wissenschaftliche Akademien zu gründen; überall Bibliotheken und Observatorien einzurichten ebenso wie Laboratorien, um Maschinen zu bauen.

Schon ein Jahrhundert vor den Briten riet Leibniz, der die Bemühungen der Pariser Akademie der Wissenschaften zur Entwicklung von Dampfmaschinen unterstützte, den Russen, ein Laboratorium zu schaffen, in dem gute Chemiker und Pyrotechniker den Gebrauch des Feuers für die Arbeit in den Minen, für die Metallverarbeitung, Gießereien, Glasfabriken und sogar für die Artillerie studieren sollten. Wie ein moderner Prometheus sagte er: „Das Feuer ist als der mächtigste Schlüssel zu den Körpern zu betrachten.“

In Bezug auf die Infrastruktur riet er ihnen, darüber nachzudenken, was man für die bessere Nutzung der Flüsse und für die Landschaftsplanung tun könne: die Wolga (man könnte sie durch einen Kanal mit dem Don verbinden) und Verbesserung der Schiffbarkeit des Dnjepr und des Irtysch, außerdem der Bau von Kanälen sowohl als Verkehrswege als auch zur Trockenlegung der Sümpfe.

Ein „Austausch des Lichts“ mit China

Leibniz’ Arbeit mit China ist auch ein schönes Beispiel für eine Zusammenarbeit zwischen Nationen, welche gegenseitig die besten Traditionen respektieren. Davon könnten die Zauberlehrlinge der „Farbenrevolutionen“ im Westen viel lernen.

In Novissima Sinica vergleicht er die relativen Verdienste der chinesischen und der europäischen Kultur und stellt sie ungefähr auf eine Stufe. Er sagt: „China ist ein großes Reich, das dem kultivierten Europa an Ausdehnung nicht nachsteht und es an Einwohnern und guter politischer Ordnung sogar übertrifft.“

Europa hingegen sei überlegen hinsichtlich der Kenntnis von Formen, welche den Geist von der Materie unterscheiden, wie etwa die Metaphysik und die Geometrie. Die Jesuiten arbeiteten daran, diesen Rückstand zu beheben, indem sie Geometrie, Astronomie und Mechanik unterrichteten - ein Beispiel dafür ist das von Pater Verbiest, dem Lehrer des jungen Kangxi, erfundene Dampffahrzeug - und indem sie bei großen Bauprojekten halfen.

Vor allem aber war Leibniz beeindruckt von der allgemeinen Lebensweisheit der Chinesen:

„Wenn wir daher in den handwerklichen Fertigkeiten ebenbürtig und in den theoretischen Wissenschaften überlegen sind, so sind wir aber sicherlich unterlegen - was zu bekennen ich mich beinahe schäme - auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, ich meine: in den Lehren der Ethik und Politik, die auf das Leben und die täglichen Gewohnheiten der Menschen selbst ausgerichtet sind.“ Ganz zu schweigen von der wunderbaren Ordnung, die den Gesetzen anderer Nationen überlegen sei und nach denen sich die Chinesen in allen Dingen um der öffentlichen Ruhe und der Beziehungen zwischen den Menschen willen richten.

Diese Kultur der Weisheit und der Harmonie zwischen dem täglichen Leben, dem politischen Leben und dem Kosmos war das Erbe der Philosophie des Konfuzius (551-479 v. Chr.), bereichert durch andere philosophische Traditionen. Erinnern wir uns, daß die Chinesen schon im 11. Jahrhundert die Perspektive entdeckten und daß der große Kunsthistoriker Guo Ruoxu im Jahr 1074 schrieb:

    „Wenn der geistige Wert einer Person gehoben wird, folgt daraus, daß auch die innere Resonanz dadurch erhoben wird und daß das Gemälde dann notwendigerweise voller Leben und Bewegung (shendong) ist. Man kann sagen, daß es auf den höchsten Ebenen des Geistigen mit der Quintessenz konkurrieren kann.“

Im Gegensatz zur Mehrheit der religiösen Orden und Vikare des Papstes, die China praktisch gewaltsam christianisieren wollten, was am Ende zum Scheitern des Leibnizschen Projektes führte, unterstützte Leibniz den ökumenischen Dialog der Jesuiten; und nach einem gründlichen Studium des Konfuzianismus kam er zu dem Schluß, daß ein Dialog auf Augenhöhe zwischen der natürlichen Theologie des Konfuzius und der christlichen Metaphysik - aber nicht dem geoffenbarten Christentum - organisiert werden könne.

Die Mission der französischen jesuitischen Mathematiker

Da man diejenigen, die uns regieren, nicht oft genug an die besten Traditionen unserer Außenpolitik erinnern kann, kommen wir zum Schluß auf die Mission der fünf jesuitischen Missionare zurück, die 1688 nach China aufbrachen, was dazu beigetragen hat, schon vor 300 Jahren die besondere Partnerschaft Frankreichs zu diesem Land zu gründen.

Diese Jesuiten waren die Gesandten einer Arbeitsgruppe, die Jean Baptiste Colbert an der Akademie der Wissenschaften in Paris um den Direktor des Pariser Observatoriums Jean Dominique Cassini gebildet hatte. Das Ziel dieser Gruppe war es, mit Hilfe der Astronomie exakte geographische Karten zu erstellen und das große wissenschaftliche und praktische Unternehmen jener Zeit, nämlich die Längenbestimmung für die Hochseeschiffahrt, zu bewältigen.

Für diese Untersuchungen mußte man Wissenschaftler in verschiedene Teile der Welt entsenden, um so viele Daten wie möglich zu sammeln. Die Mission der fünf französischen Jesuiten in China diente der Ergänzung der Reisen der Akademiemitglieder Jean Picard nach Uraniborg in Dänemark, Jean Riché nach Cayenne, Varin zur Gorée-Insel und den Antillen, die dem gleichen Ziel dienten.

Leibniz und Colbert veranlaßten diese Reise für eine Frage, die Leibniz brennend interessierte. In seiner Korrespondenz über Rußland beschreibt er dieses wissenschaftliche Projekt im Detail und bezeichnet es als eine seiner drei Prioritäten. Er ruft dazu auf, solche Experimente auch in Rußland durchzuführen, insbesondere in der Nähe des Nordpols. Die Leitung dieses Teams wurde Pater Fontaney anvertraut, der bereits mit anderen prominenten Akademikern wie dem dänischen Wissenschaftler Ole Römer und Christian Huyghens, der die Akademie leitete, zusammenarbeitete.

Als sie 1685 nach China segelten, führten die Jesuiten in ihren Koffern die von Cassini erstellten Tabellen der Jupitermonde sowie etwa 30 Instrumente mit sich. Darunter waren die modernsten ihrer Zeit, z.B. zwei Geräte von Ole Römer: ein mechanisches Planetarium, das mit Hilfe von Spezialfedern zu jeder gegebenen Stunde alle Bewegungen der Planeten und der Sterne anzeigen konnte, und ein Eklipsorium, mit dem man das Jahr, den Monat oder Teil des Monats bestimmen konnte, in dem es zu Sonnen- oder Mondfinsternissen kommen würde.

Leibniz war über die Korruption im damaligen Europa so verzweifelt, daß er vorschlug, „daß man Missionare der Chinesen zu uns schickt, die uns Anwendung und Praxis einer natürlichen Theologie lehren könnten“ - was würde er dann wohl über die heutige Lage sagen? Im Vergleich zu China, das gewaltige Fortschritte gemacht hat, und Rußland, das seinen Weltmachtstatus zurückgewonnen hat, spielt Europa heute die Rolle des kranken Mannes.

Ich denke aber, daß der Aufbau der Neuen Seidenstraße, der BRICS und der Eurasischen Union einen Aufschwung auch in Frankreich und Europa hervorrufen kann. Am Rande des Abgrunds, am Abgrund eines neuen Weltkrieges, muß Frankreich seinen Traum der Freiheit schleunigst erneuern und diese Entwicklungen als Hebel nutzen, um wieder ein Europa der Vaterländer aufzubauen - für mehr Fortschritte in den Wissenschaften, den Küsten und für seine Völker.

Eine solche Änderung wird davon abhängen, was wir nach dieser Konferenz tun!