Kunst und Wissenschaft müssen die Politik inspirieren
Von Maëlle Mercier
Maëlle Mercier sprach bei der Pariser Konferenz des
Schiller-Instituts am 14. Juni über die Philosophie und das Werk von Jean
Jaurès.
Guten Tag. Ich spreche für eine Gruppe junger Aktivisten, die sich im
Hinblick auf die aktuellen Herausforderungen mit [dem französischen Historiker
und Politiker] Jean Jaurès beschäftigt haben. Wir hatten dabei jenen
entscheidenden Moment des 20. Jahrhunderts im Blick, in dem Jaurès nicht nur
umgebracht wurde, sondern auch die Menschheit in eine neue Barbarei abglitt -
in den Krieg der Schützengräben und Ideologien.
Meine Damen und Herren, warum sind wir hier heute zusammengekommen? Was ist
die Grundlage des Bestrebens der BRICS-Länder, ein neues Paradigma zu erzeugen
und ganz reale Infrastrukturprojekte zu schaffen, die mit atemberaubendem
Tempo auf der ganzen Welt entstehen?
Dahinter steht lediglich eine Idee - eine [materiell betrachtet] winzige
Idee, die aber trotz ihrer Winzigkeit Menschen mitreißt, Berge versetzt und
schon bald auch, durch die Neue Seidenstraße des Weltraums und das
Mondprogramm, das Universum verändern wird!
Diese Idee hätte jedoch niemals in den pragmatischen „Seelen“ oder im
„realistischen“ Denken unserer westlichen Politiker keimen können.
Warum? Weil sie vorprogrammiert sind, im Rahmen eines vorgegebenen Systems
zu denken, seiner Geopolitik, seinen Schulden, seinen Verträgen und seinen
Machtverhältnissen - wer herrscht und beherrscht wird. Sie urteilen nur nach
dem, was sie „sehen“, nach dem, was es schon gibt oder schon gegeben hat.
Ohne Phantasie, ohne die Kraft des Geistes, also ohne die Fähigkeit, uns
über die Gegenwart und über die Materie hinwegzusetzen, wird es keine Zukunft
geben.
Die Herausforderung für unsere Zivilisation besteht daher darin, ihr ihr
„Ideal“, ihre „Unendlichkeit“ zurückzugeben. Das ist eine schwierige Aufgabe
in dieser materialistischen, gewalttätigen und sexualisierten Gegenkultur, die
den Menschen zum Tier reduziert, das nur von seinen Leidenschaften und seinen
Sinneswahrnehmungen bestimmt wird; gerade hier in Frankreich, im Land des
cartesianischen Zweifels, wo die einzige Alternative zum Bestialischen
keineswegs „das Ideal“ ist, sondern das Gefängnis der impotenten, abstrakten
Mathematik und Analyse - die Franzosen sind ja bekannt dafür, über alles zu
meckern, alles zu kommentieren, aber nichts zu tun!
Kurz, um den Menschen ihre ganze Menschlichkeit und die Fähigkeit
zurückzugeben, die Zukunft zu gestalten, muß wieder eine Harmonie zwischen
Emotionen und Verstand entstehen und die Vorstellungskraft wiederbelebt
werden.
Das ist die Rolle der Kunst (von Friedrich Schiller wunderbar dargestellt),
der Philosophie und der Wissenschaft (Leibniz), doch läßt sich dieses Ziel
auch durch die Politik realisieren?
Ja! Und der Beweis dafür ist der philosophische Kampf von Jean Jaurès, der
von Leibniz und Schiller inspiriert wurde.
Bekanntermaßen wurde Jean Jaurès ermordet, weil er versucht hatte, den
Ersten Weltkrieg zu verhindern. In diesem Krieg zerstörten sich die Großmächte
selbst, obgleich sie, wie heute, kurz davor standen, eine neue Allianz, ein
neues Modell für Frieden und Fortschritt zu bilden, worin das Britische Empire
eine Bedrohung für seine Macht sah.
Tatsächlich hatten Frankreich, Rußland und Deutschland, dank einiger ihrer
führenden Persönlichkeiten wie Gabriel Hanotaux oder Sergej Witte, durch den
Bau der Transsibirischen Eisenbahn und zuvor schon der Berlin-Bagdad-Bahn
bereits die Grundlagen der Neuen Seidenstraße gelegt.
Aber schon damals türmten sich Sturmwolken am Horizont auf - erst über
Frankreich, bevor sie in den 30er Jahren nach Italien und Deutschland
weiterzogen. Das waren die gleichen Wolken, von denen Jaurès einst sagte: „Der
Kapitalismus trägt den Krieg mit sich, wie die Wolken das Gewitter.“
Das malthusianische Menschenbild
Im Jahr 1859, als Jaurès geboren wurde, erschien das Buch Über die
Entstehung der Arten. Darin entwickelte der Brite Charles Darwin seine
bekannte Evolutionslehre. Aber stellt nicht diese Theorie vom Überleben des
Stärkeren die perfekte Rechtfertigung des oligarchischen Prinzips sozialer
Aussonderung dar, auf das der britische Liberalismus und Malthusianismus so
stolz sind?
Schon kurz zuvor hatte Gobineau, ein Franzose, sein Buch Über die
Ungleichheit der Menschenrassen veröffentlicht.
Somit kam am Ende des 19. Jahrhundert in verschiedenen intellektuellen
Kreisen die Modeerscheinung auf, „Rassen“ nach der äußeren Erscheinung der
Menschen zu beschreiben.
So lieferte der linke französische Anthropologe Vacher de Lapouge, der es
liebte, die Schädel der Menschen auszumessen, um die These seines Buches
Der Arier und seine soziale Rolle zu belegen, bereits die wichtigsten
Argumente für die Nazis: „Es gibt keine Menschenrechte, genausowenig wie es
Rechte für Gürteltiere gibt (...) oder für das Rind, das man essen kann. Es
gibt nur die Kraft. Nichts gegen Brüderlichkeit, aber wehe denen, die dabei
verlieren! Das Leben erhält sich allein durch den Tod. Um zu leben, muß man
essen, und töten, um zu essen.“
Was ist die gemeinsame Grundlage aller dieser Lehren, die in jenen Jahren
in Frankreich entstanden und den perfekten Nährboden für den Antisemitismus
und den antideutschen Revanchismus schufen?
Es war die starre, materialistische Sicht des Menschen, der nur durch den
eigenen Körper, seine organische Materie und seine physischen Beziehungen zur
Welt - einer vollkommen willkürlichen Welt - bestimmt ist. Der menschliche
Geist und damit seine Fähigkeit, Dinge zu verändern, zu entdecken oder zu
schaffen, wurden völlig negiert.
Dieser Zustand hat sich durch die Vorherrschaft des Positivismus noch
verschlimmert, einer Lehre, die von dem Franzosen Auguste Comte begründet
wurde. Er teilte die Geschichte in vorgegebene Zeitalter ein und schloß die
Rolle des menschlichen Willens und der Ideen aus. Laut Comte gab es zwei
Zeitalter: die theologische Ära des Mittelalters und die metaphysische Ära der
Renaissance. Dann folgte das moderne, rationale Zeitalter: Das Zeitalter des
Positivismus, in dem eine von der Aufklärung übernommene sogenannte
Wissenschaft herrschte.
Diese objektive Wissenschaft, vorangetrieben von Newton und Descartes,
hätte endlich verstanden, daß die Welt vollkommen von der Materie abhängig sei
und es keinen höheren Sinn, keinen Gott und keine Harmonie gäbe. In diesem
Chaos wäre nichts verständlich außer durch Annäherung und indem man sich auf
Tatsachen stützt, die man sich durch Sinneswahrnehmung angeeignet hat.
Kurz, da es keine Ideen gibt, könne man die Ursachen nicht bestimmen und
folglich sei man auch unfähig, Entdeckungen zu machen - nicht einmal die
Gravitation, die für unsere Augen unsichtbar ist! Und man könne die Welt nicht
verändern.
Für die Arbeiterparteien und das politische Umfeld von Jaurès bedeutete
dieses Denken eine starke Behinderung - bei linken und revolutionären Parteien
eigentlich unglaublich!
Jules Ferry beispielsweise, der in Frankreich als Gründer des säkularen
Bildungswesens gefeiert wird, sagte: „Man leistet keinen Widerstand gegen das,
was ist; man kann in der gesellschaftlichen Praxis das, was sein könnte, nicht
an die Stelle dessen setzen, was ist. Die Konzentration des Kapitals ist eine
klare Tatsache... man kämpft nicht gegen diese allgemeine Tendenz, die wie
eine mechanische Kraft wirkt - ein unmöglicher und lächerlicher Kampf (Die
positive Philosophie, 1867).
Das gleiche gilt für die Marxisten, die eine materialistische Auffassung
der Geschichte vertreten. Nach ihrer Logik sind alle Individuen und das
Proletariat nur objektive Kräfte, die am Klassenkampf teilhaben, der über sie
hinausgeht.
Unter diesen Umständen ist Fortschritt unmöglich und wird sogar entschieden
abgelehnt. 1911 brachten es die Anhänger von Charles Maurras, einem extrem
rechten Nationalisten, und Georges Sorel, der sich selbst als Marxist
bezeichnete, auf den Punkt: „Um die Zivilisation zu retten, ist das erste
Ungeheuer, das man töten muß, der Glaube an den Fortschritt, an den
Optimismus, ... der die unheilvolle Farce der Französischen Revolution 1789
hervorgebracht hat.“
Unter diesen Umständen kann man sich nur schwer eine andere Lösung als den
Kampf aller gegen alle um den Lebensraum vorstellen. Das sollte uns gerade
heute zu denken geben, da die Politik uns das Märchen der erneuerbaren
Energien auftischt und das Nullwachstum damit begründet, daß die Schaffung
neuer Ressourcen unmöglich sei.
Die Realität der sinnlichen Welt
Im Namen des Fortschritts, und um der Welt und den Menschen ihr Recht auf
Unsterblichkeit sowie ihr Recht auf eine produktive Zukunft wiederzugeben,
führte Jaurès seinen politischen und philosophischen Kampf gegen den
aufkeimenden Faschismus.
In seiner Doktorarbeit De la réalité du monde sensible („Über
die Realität der sinnlichen Welt“), die Jaurès unter Anleitung eines
Philosophen aus der Leibniz-Tradition ausarbeitete, attackierte er die
Positivisten und Materialisten, aber ebenso die „Idealisten“ und
„Formalisten“, die er als genauso gefährlich ansah, da die Idealisten die
Realität als vage Illusion ablehnten und die Formalisten diese auf ein
„trockenes logisches Konstrukt“ reduzierten.
Sein Ziel war es, nicht den ideologischen, sondern den wissenschaftlichen
Charakter des Fortschritts als integralen Bestandteil der Natur und des
menschlichen Wesens aufzuzeigen. Er wies nach, daß es eine ständige
Wechselwirkung zwischen Leben und Denken, zwischen Ideen und Dingen gibt, was
die ständige Schaffung immer höherer Seinsformen ermöglicht.
Jaurès schreibt: „Für alles Lebende stellt sich das Problem des Unendlichen
in vollem Umfang, in welcher Periode des Universums es auch entstanden ist...
Die Summe der Bewegungen in der Welt ist ein handelndes Unendliches, in dem
die Mathematik keinen Platz hat. Man darf das Universum und seine Bewegungen
und Energien nicht als ein endloses Faß betrachten... Hier sind es nicht die
Ressourcen, nach denen die Ausgaben bemessen werden, sondern die Unendlichkeit
der Arbeit, die geleistet werden muß, um für eine entsprechende Unendlichkeit
der Ressourcen zu sorgen.“ - Ein deutlicher Angriff auf die Vertreter der
Austeritätspolitik, die heute in Washington und Brüssel regieren.
Dies deckt sich voll und ganz mit seinem politischen und parlamentarischen
Kampf, demzufolge „jedes Individuum das Recht hat, sich ganz zu entwickeln.
Jeder hat daher das Recht, von der Menschheit all das zu verlangen, was seine
Bemühungen fördert“ (Sozialismus und Leben). Und tatsächlich hat Jaurès
die Idee nationaler Kreditschöpfung, einer öffentlichen Bank, die
Zahlungsmittel ausgibt, um den zukünftigen Produktionsbedarf der Nation zu
decken - was schließlich in den „glorreichen 30 Jahren“ nach dem Zweiten
Weltkrieg verwirklicht wurde -, gegen den Kapitalismus und die Wucherer
verteidigt.
Wir wollen eine weitere Passage seiner Doktorarbeit betrachten, die aus
philosophischer Sicht sehr polemisch, aber von grundlegender Bedeutung ist.
Nachdem er sich zu Beginn des 3. Kapitels im Bereich des sehr Kleinen von den
Molekülen zu den Atomen herabbewegt hat, schließt er:
„Die Wissenschaft selbst, wenn sie nach der Ursache der materiellen
Bewegungen und dem letzten Element der Materie sucht, führt uns zu einer
Realität, in der nichts Materielles mehr vorhanden ist, was nicht mit den
Sinnen wahrgenommen werden kann, sondern nur für den Geist existiert.“
Jaurès vergleicht seine Untersuchung mit der von Virgil und Dante, die,
nachdem sie einen anderen Weg eingeschlagen haben, um den Tiefen der Hölle zu
entkommen, endlich die Sterne wiederentdecken, und fährt fort: „Geleitet von
der Wissenschaft sind wir immer weiter hinabgestiegen in die Tiefen der
Materie, und auch dort, in diesen gefährlichen Abgründen, wo man sich fragen
sollte, ob sich nicht alles in blinder Fatalität auflöst, fanden wir
überlagerte Bewegungen, Kreise und Strudel, und am anderen Ende dieses
Abgrundes entdeckten auch wir wieder die Sterne.“
Lassen Sie mich hier abschweifen zu dem großen Physiker Max Planck, dem wir
die Entdeckung des Wirkungsquantums verdanken. Das folgende schrieb er in den
1930er Jahren, als das materialistische und utilitaristische Menschenbild in
Deutschland seinen Höhepunkt erreichte, mit all den Schrecken, die damit
einhergingen:
„Als Physiker, der sein ganzes Leben der nüchternen Wissenschaft, der
Erforschung der Materie widmete, bin ich sicher von dem Verdacht frei, für
einen Schwarmgeist gehalten zu werden. Und so sage ich nach meinen
Erforschungen des Atoms dieses: Es gibt keine Materie an sich. Alle Materie
entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in
Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Alls zusammenhält.
Da es im ganzen Weltall aber weder eine intelligente Kraft noch eine ewige
Kraft gibt - es ist der Menschheit nicht gelungen, das heißersehnte Perpetuum
mobile zu erfinden - so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewußten
intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie.“
Kampf gegen den Materialismus
Tatsächlich sind wir, wenn wir darüber nachdenken, immer mit diesem Paradox
konfrontiert, und Jaurès zögerte nicht, dieses in einer Debatte mit Marx’
Schwiegersohn Paul Lafargue zu verwenden - eine Debatte, die unter dem Titel
„Materialismus und Idealismus im Konzept der Geschichte“ veröffentlicht
wurde.
Wie kann unser Gehirn neue Ideen, neue wissenschaftliche Entdeckungen
hervorbringen, wenn der Ursprung dieser Ideen nicht in den mechanischen Hebeln
der Materie oder in einzelnen chemischen Reaktionen zu finden ist?
Jaurès antwortete:
„Wenn ich diese Worte in diesem Moment ausspreche, so deshalb, weil die
Idee, die ich in dieser Minute zum Ausdruck bringe, letztendlich aus einer
vorherigen Idee und der Serie aller vorangegangenen Ideen hervorgegangen ist.
Aber auch deshalb, weil ich in der Zukunft erkennen will, was ich vor mir sehe
- ein Ziel, eine Absicht, einen Zweck; und deshalb wurde mein gegenwärtiger
Gedanke, auch wenn er scheinbar durch die Serie früherer Gedanken bestimmt
ist, auch durch eine Vorstellung von der Zukunft angeregt.
In der Geschichte ist es dasselbe: Man kann zwar alle historischen
Phänomene durch reine wirtschaftliche Evolutionen erklären, aber man kann sie
auch durch das unermüdliche und ständige Streben der Menschheit nach einer
höheren Seinsform erklären. Vor der Erfahrung der Geschichte, vor der
Ausbildung dieses oder jenes wirtschaftlichen Systems, trug die Menschheit
bereits eine vorgefaßte Idee der Gerechtigkeit und des Rechts in sich, und
dieses vorgefaßte Ideal strebt von einer Zivilisationsform zu einer höheren
Zivilisationsform.“
Ideen sind keine gesellschaftlichen Konventionen, bloße Erfindungen des
Geistes oder der menschlichen Gesellschaft. Sie sind keine von der realen Welt
losgelösten Dinge. Sie sind „natürlich“ in dem Sinne, daß sie vom Universum
durch den menschlichen Geist hervorgebracht werden, um die Aufgabe der
Schöpfung der Welt fortzusetzen.
Aber was ist diese Idee, die der BRICS und der Neuen Seidenstraße zugrunde
liegt? Es ist die Idee des Fortschritts, des Fortschritts über die Grenzen des
Unbekannten hinaus. Und wie wird er sichergestellt? Durch Kreativität und
menschliche Entdeckerkraft.
Wir müssen den Kampf von Jean Jaurès unbedingt gewinnen. Tun wir das nicht,
wird die Menschheit - und mit ihr die Welt - zerstört werden.