Friedrich Schiller Denkmal
Friedrich Schiller




Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

     Konferenz in Flörsheim, November 2012   

George Tsobanoglou
Präsident des Forschungsausschusses der Internationalen Soziologischen Gesellschaft für Sozialtechniken und -praxis
Professor an der Soziologischen Fakultät der Universität der Ägäis in Mytilini, Griechenland

 

Schriftlicher Beitrag


Die Dynamik der griechischen Krise

Zunächst danke ich dem Schiller-Institut für diese äußerst anregende Konferenz, und insbesondere Dean Andromidas, der es ermöglicht hat, daß ich hierher kommen konnte. Ich will gleich zur Sache kommen. Offenbar haben wir in Bezug auf Griechenland eine sehr komplizierte Lage. Es kommt Verschiedenes zusammen, was man anpacken könnte, vieles von dem, was hier gestern und heute diskutiert und vorgestellt wurde: zur Frage der Entwicklung, zum Problem der Infrastruktur und zur Bedeutung der Einführung eines neuen Finanzsystems, das definitiv nicht spekulativer Natur ist wie der Kasinokapitalismus, dessen Wirkung Griechenland jetzt zu spüren bekommt. Ich will versuchen, mich kurz zu halten.

Eine der nachgewiesenen Tatsachen in der Welt der Sozialwissenschaften ist, daß Entwicklung sozial sein muß, d.h., daß das soziale Kapital sehr wichtig ist, damit es auch ökonomisches Kapital gibt. Deshalb haben die Weltbank und die weltweiten Institutionen in den letzten 25 Jahren anerkannt, daß wirtschaftliche Entwicklung unmöglich ist ohne die Entwicklung des sozialen Kapitals, was auch kulturelles Kapital, Bildung und politisches Kapital mit einschließt. Das muß man berücksichtigen, wenn man sieht, was derzeit in Griechenland geschieht - was für eine wirtschaftliche Entwicklung wir derzeit „genießen“.

Zweitens: Wenn wir von einem System von Staaten reden, was die Europäische Union ja zu sein behauptet, dann muß man verstehen, daß die Stärke einer Kette der Stärke ihres schwächsten Gliedes entspricht. Griechenland ist Teil der Kette, und genau in dem, was derzeit in Griechenland geschieht, wird die Stärke der Europäischen Union geprüft. So zeigt die Unsicherheit der Lage nicht bloß die Fragilität, sondern möglicherweise auch das Ende einer Politik, die bisher versagt hat.

Drittens muß man in Bezug auf Griechenland berücksichtigen, daß eine besondere Lage besteht, nämlich in Hinsicht auf die sogenannte „verborgene Gesellschaft“. Die meisten oder jedenfalls viele Mittelmeerstaaten hatten, als sie in die EU eintraten, vorher eine Militärherrschaft erlebt, insbesondere Portugal, Spanien und Griechenland. Es waren außergewöhnliche Staaten - und das gilt natürlich in gewisser Weise auch für Süditalien -, außergewöhnlich in dem Sinne, daß es viele informelle Strukturen gibt, die parallel zum Staat existieren.

Daher gab es bei dem, was wir erlebten, eine sehr schwache Analyse und Repräsentation der Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft. Das ist nicht Schweden, es ist etwas ganz anderes. Deshalb war der Beitritt zur Europäischen Union anstelle der üblichen rechtlichen Untersuchungen mit verschiedenen Integrationsmechanismen, sozialen Studien und sozialen Analysen verbunden, weil man das als Teil des Charakters des Staates betrachtete. So begannen die Institutionen und Analysen der bürgerlichen Gesellschaft langsam zu wachsen. Katalonien ist ein Beispiel dafür, auch der Süden Italiens.

In Griechenland geschah dies nicht. Die Opposition gegen das Militärregime wollte Sozialwissenschaften haben, um die Institutionen einer sozialen Gesellschaft zu dokumentieren und zu organisieren, z.B. ein Sozialsystem, Sozialhilfe und soziale Organisation. Dazu kam es aber in Griechenland eigentlich nicht.

Es entwickelten sich viele religiöse Institutionen, wie die Sozialtheologie, aber die Sozialwissenschaften - wie beispielsweise die Soziologie, die Sozialgeographie, Psychologie, Demographie und die Sozialstatistik - sind nur sehr schwach entwickelt und werden von den großen Universitäten des Landes, etwa in Thessaloniki oder Athen, nicht betrieben. Athen ist die einzige Hauptuniversität in Europa ohne soziologische Fakultät und ohne geographische Fakultät. Die Psychologie ist Teil der Pädagogik, und das umfaßt vieles, was man für die Sozialverwaltung, die sozialen Aspekte des Staates braucht, im Unterschied zur Polizei oder ähnlichem. Gleichzeitig existieren etwa die Kriminologie oder die Rechtssoziologie praktisch gar nicht. Das sind aber wesentliche Elemente für eine soziale Regierungspolitik.

Praktisch wurde dieses Fehlen etwas ausgeglichen, aber es wurde niemals darüber diskutiert, und es gab bei uns viele andere Berufe, die sich mit dem sozialen Europa befaßten. Aber die griechischen Kommunalverwaltungen sind wahrscheinlich die einzigen, die keinen Etat für Sozialausgaben haben. Wenn ein Bürgermeister Geld ausgeben will, um den Armen eine Mahlzeit zu geben, hindern ihn Vorschriften der griechischen Verwaltung. Er muß das entweder der Kirche überlassen oder er muß das Geld aus dem Etat für den Straßenbau nehmen. Die sozialen Bedürfnisse werden also auf etwas Physisches reduziert.

Diese verkehrten Verhältnisse haben natürlich eine Anomalie geschaffen, denn wenn alles Soziale unter einem physischen Apparat zusammengefaßt wird, dann gibt es praktisch keine Belege für ein existierendes Sozialsystem. Deshalb ist Armut in Griechenland ein bloßes literarisches Konzept. Natürlich kann jeder eine arme Person beschreiben, aber es gibt keine institutionelle Grundlage dafür. In der Europäischen Union gibt es wohl andere Einrichtungen, wie z.B. ein Grundeinkommen, aber in Griechenland ist das eine Fiktion. Wenn man hier 30% Armut und eine Jugendarmut von 35% hat, dann ist die Vorstellung sehr schwer durchzusetzen, daß man beispielsweise billigere Preise für Milch braucht und Milch in den Schulen austeilen muß, weil das eine Grundversorgung ist. Die Armut zeigt sich durch die Unterstützung der Bildung über das Schulsystem, und die Bereitstellung von Nahrungsmitteln ist wesentlich, um tatsächlich zu verstehen, was Armut ist, und sie ist Teil eines Sozialsystems!

Aber in Griechenland konnte das überhaupt nicht sichtbar werden. Wir haben also die Eurostat-Statistik, daß ein Drittel der Bevölkerung arm ist, aber eigentlich befaßt sich nur die Kirche mit der Armut, durch private Hilfe, durch private und freiwillige Nahrungsmittelspenden beispielsweise der Supermärkte, was privat verwaltet wird. So gibt es beispielsweise eine Fernsehstation namens Sky, die einem Schiffseigner gehört, der so ähnlich handelt wie eine philanthropische Einrichtung aus dem 19. Jahrhundert. Aber genau so arbeitet das soziale Europa in Griechenland.

Soziale Einrichtungen müssen schließen

Was haben wir jetzt, und warum geschieht es?

Die Schulden in Griechenland lagen bei 120% des BIP, als die Krise begann. Derzeit liegen sie bei 190%. Gleichzeitig wurden 25% des Reichtums des Landes ausgelöscht, und wir haben eine erzwungene Verringerung der Überschüsse, die dann das Land verlassen. Im Grunde wird bei den Rettungspaketen Griechenland nur wie ein leeres Gefäß benutzt, das die Schulden bezahlen und eine Menge an Profiten an äußere Quellen abführen wird.

Ich sollte wohl ein bißchen näher darauf eingehen, was ich hier als „Überschüsse“ bezeichne. In der feudalen Ära trieben die Landbesitzer die Pacht von ihren Bauern natürlich mit Gewalt ein. Hier haben wir einen besonderen Unterschied. Was ist der Überschuß?

In Griechenland denkt man nicht an die Kosten der sozialen Reproduktion, beispielsweise was die Gesundheit oder die Grundhilfe für ältere Menschen angeht, etwa durch Renten, oder für alle diejenigen, die nicht versichert sind - 30% der griechischen Bevölkerung sind nicht versichert. Dinge wie Krankenversicherung oder die Versicherung für arme Kinder. Kinder müssen geimpft werden. Im letzten Jahr hatten offenbar 5000 Kinder in Athen kein Geld, damit man sie impfen konnte, was lächerlich ist.

Das, was man die biologischen und sozialen Grundbedürfnisse nennen kann, ist also komplett privatisiert! Und all das wird nun im Namen der Sparpolitik gestrichen!

Im Frühjahr wurde im Rahmen des Schuldenschnitts mit der Beteiligung des Privatsektors öffentlichen Einrichtungen Geld weggenommen - so meiner Universität, die gar keine private Einrichtung ist. Sie haben 80% unseres Forschungsbudgets genommen, um die Schuldenlast der Banken zu erleichtern! Sie nahmen Geld von Sozialeinrichtungen, Geld, das sie angelegt hatten, viele private Sozialeinrichtungen, die sich um behinderte Kinder kümmern, beispielsweise in Piräus und viele andere in anderen Teilen Griechenlands. Sie mußten Steuern auf ihren Besitz zahlen, obwohl sie ihre Dienstleistungen durch Mieteinnahmen finanzieren, und werden jetzt von der Regierung besteuert. Ich kenne jemand, der bei einer solchen Einrichtung arbeitet, und von ihm weiß ich, daß sie 600.000 Euro bezahlen mußten, so als wären sie ein normales Wirtschaftsunternehmen! Die Tatsache, daß es sich um eine gemeinnützige Einrichtung für arme, behinderte Kinder handelte, spielte gar keine Rolle!

Das gleiche geschah mit behinderten Kindern im ganzen Land. Man nahm ihnen die Mittel, das Geld, das ihnen zur Verfügung steht, um Nahrungsmittel zu beschaffen oder Unterricht durchzuführen! Eine Initiative in Athen, die seit 70 Jahren bestand, mußte letzten Monat ihre Arbeit einstellen; sie können die Bedürfnisse der Menschen nicht mehr erfüllen, weil sie Steuern bezahlen müssen!

Man macht also keinen Unterschied bei sozialen Einrichtungen. Auch wenn es sich um private Einrichtungen handelt, die sich um die Bedürfnisse von Menschen in Not kümmern, werden sie behandelt, als arbeiteten sie für den Profit. Es ist also eine große Heuchelei, wenn die Europäische Union eine große „Mitteilung“ verfaßt, die am 18. April vorgelegt wurde, die Mitteilung 183, in der sie erklärt, was sie alles für Griechenland tut! Und in einem Abschnitt dieser Erklärung heißt es: „Griechenland könnte sein derzeit ungenutztes Potential der Sozialwirtschaft, den freiwilligen Sektor, durch Unterstützung aus dem europäischen Sozialfonds nutzen, der eine wichtige Unterstützung darstellt, um neue Arbeitsplätze zu schaffen und der wachsenden Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen nachzukommen.“ Das ist lächerlich! Das hat absolut keine Wirkung auf den Sozialsektor. In Griechenland ist der Sozialsektor eine Anekdote! Die sozialen Einrichtungen können nicht arbeiten!

Stellen Sie sich vor, was geschieht, wenn man in einer solchen Krise dem freiwilligen, gemeinnützigen Sektor nicht erlaubt, seine Ressourcen einzusetzen, weil man ihn besteuert, als handele es sich um private, auf den Profit ausgerichtete Unternehmen! Genossenschaftliche Hotels werden besteuert wie private, auf Profit ausgerichtete Hotels, und das in Gebieten, die extrem arm und unterentwickelt sind! Die Sozialwirtschaft wird also zur privaten Wirtschaft, deren Besitz privatisiert und besteuert wird. Es ist eine Katastrophe.

Eine Explosion ist möglich

Und diese Katastrophe hat einen globalen Charakter, denn ich denke, wenn jeder auf der Welt verstünde, was hier vor sich geht - das hat nichts damit zu tun, daß wir in Europa sind - wenn irgendwo auf der Welt so etwas geschieht, dann sollten die Menschen dagegen protestieren. Vielleicht kann man die Zeit unter Carlos Menem in Argentinien mit dem vergleichen, was derzeit in Griechenland im Namen der „europäischen Sparsamkeit“ geschieht.

Die soziale Antwort auf die Krise wird praktisch blockiert. Deshalb äußert sich die Krise in Griechenland ganz anders als vor Jahren in Zypern, als dort die türkische Armee einmarschierte. Damals entwickelten sich in Zypern soziale Hilfsinstitutionen. Die Reaktion vieler europäischer Länder auf diesen Angriff ist anders.

In Griechenland fehlen uns die Mittel, uns zu verteidigen. Warum? Weil wir auch ein äußerst korruptes politisches System haben. Es gibt viele Skandale. Niemand zahlt Steuern, tatsächlich wird die Steuerhinterziehung sogar von der Verwaltung organisiert. Wir haben bei unseren Steuern kein Mitspracherecht!

Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Als letzte Woche die Zahlen über die Armut veröffentlicht wurden, war die einzige Organisation, die auf diese Zahlen reagierte, eine private Einrichtung aus Österreich, die SOS-Kinderdörfer. Und noch eine von Niarchos gegründete private gemeinnützige Stiftung, das ist eine der großen sozialen Stiftungen in Griechenland, aber auch eine der großen Reeder-Familien. Die Reaktion war, daß sie planen, was sie gegen die Armut tun. Aber ich weiß, daß viele Griechen besondere Gelder als Sozialhilfe erhalten. Unsere Steuern wurden verdoppelt, man besteuert uns, um alle diese sozialen Krisen zu bekämpfen, aber das Geld fließt nicht dorthin, wo es hingehen soll! Wir werden vollkommen überrumpelt, weil das System nicht glaubwürdig ist. Sie haben überhaupt keine Glaubwürdigkeit. Dieses Geld wird gestohlen - wir wissen, wo es hingeht, es fließt mit Sicherheit aus dem Land, es ist ein Faß ohne Boden. Aber wir sind nicht digital, wir haben physische Grenzen, es gibt Grenzen dafür, wie lange man das fortsetzen kann!

Und ich sehe kommen, daß Griechenland explodieren könnte wie Argentinien 2001, wenn das so weitergeht, denn wir haben ein korruptes politisches System, wir werden durch Steuern völlig ausgeblutet, von denen, die es bezahlen könnten, und gleichzeitig kommen jeden Tag tausend neue Arbeitslose hinzu. Technisch betrachtet liegt die Arbeitslosigkeit bei 25%, aber da sind diejenigen nicht eingerechnet, die arbeiten, aber nicht bezahlt werden. Es gibt nämlich eine halbe Million Menschen, die arbeiten, aber nicht bezahlt werden, weil der Staat den Unternehmen Geld schuldet: 10 Milliarden schuldet der Staat griechischen Unternehmen, aber er wartet auf die Rettungspakete, um sie zu bezahlen. Aber das Rettungspaket wird nicht reichen, es ist nur ein halbes Prozent von dem, was der Staat bräuchte, um es in die reale Wirtschaft zu pumpen. Denn die Rettungsgelder gehen ja eigentlich nicht an Griechenland.

Gleichzeitig treiben die hohe Arbeitslosigkeit und die hohe Inflation die Menschen in die Verzweiflung. 150.000 Menschen haben das Land verlassen. 5000 griechische Ärzte sind in Deutschland, 25.000-50.000 Griechen suchen einen Job in Berlin. Überall stößt man auf Griechen, die versuchen, eine Arbeit zu finden, weil auch sie gezwungen waren, ihre Geschäfte zu schließen. In diesem Jahr haben 30% aller Unternehmen geschlossen!

Technisch betrachtet, ist das Unternehmensklima das gleiche wie im Irak oder wie in Afghanistan. Ich meine, die Geschäftswelt glaubt nicht, daß man in Griechenland Geschäfte machen kann, und deshalb gibt es für sie keinen Grund, dort irgend etwas zu investieren. Selbst das Geld, das wir angeblich borgen sollen, wird nicht dazu verwendet, Infrastruktur aufzubauen. In die Bildung? Nein! Meine Universität ist geschlossen. Warum? Weil sie 40 Leute entlassen haben, die verschwinden sollen. Die lokale Bevölkerung ist im Streik, weil einfach herumgekürzt wird ohne irgendwelche Pläne, wie man Einrichtungen für den kollektiven Verbrauch schaffen kann, Einrichtungen, über die der Staat oder die Kommunen weiter arbeiten können - nicht bloß die sozialen Dienste, sondern überhaupt um Einrichtungen im Interesse der Allgemeinheit zu erhalten.

Sonderinteressen und Bankenelite

Im Grunde haben wir in Griechenland in den kommunalen Verwaltungen niemals wirklich ein System für das Gemeinwohl geschaffen. Wir hatten immer nur ein System von Sonderinteressen, und darin liegt das Problem. Diese Sonderinteressen haben ein Bündnis mit der herrschenden Bankenelite geschlossen, und jetzt schüren sie ein Feuer, statt es zu löschen, und das breitet sich aus. Griechenland ist also derzeit völlig lahmgelegt. Unabhängig davon, was am Montag geschehen wird [es stand die Entscheidung der Eurogruppe an, ob Griechenland weiteres Geld erhält], ist Griechenland in einem Notstand.

Und ich glaube natürlich alles, was hier über die Reform der Banken gesagt wurde. Glass-Steagall muß mit Griechenland beginnen, und ich denke, das muß ganz klar gesagt werden, denn wir leiden Not, wir sind der Inbegriff dessen, was beschrieben wurde, aber bei uns haben wir es in viel reinerer Form. Und diese Reinform bringt in gewissem Sinn das System um. Die Tatsache, daß wir keine Empfehlungen haben, weil die Berichte lax sind, ist auch ein Teil des Problems.

Ich könnte Ihnen eine Menge Tabellen über die Arbeitslosenzahlen zeigen, und was da abläuft. Der Arbeitsmarkt funktioniert nicht. Wir haben keinen Arbeitsmarkt. Wir hatten ein System des Nepotismus. Es gibt in Griechenland viele qualifizierte Leute, aber sie finden keine angemessene Arbeit. Die Vetternwirtschaft und das Fehlen einer Herrschaft von Begabten und Leistungsfähigen war Teil des Problems. Der frühere Premierminister Papandreou versprach, etwas zu tun, um mehr Verantwortlichkeit zu schaffen, aber das ist nie geschehen.

Wir haben also in Griechenland ein klassisches, traditionelles System, in dem Sonderinteressen über die Karrieren entscheiden. Deshalb ist das System in seiner Anwendung in Griechenland noch reiner, weil es keinen Widerstand gibt. Die qualifizierten Arbeitkräfte sind gegangen. Hätten wir nicht die Öffnung des Arbeitsmarktes in Europa gehabt, dann wäre Griechenland jetzt wie Ägypten oder Tunesien, daran besteht kein Zweifel, denn der Druck im Land wäre gleich. Aber die qualifizierten Arbeitskräfte, die die Veränderung bewirken könnten, gehen anderswohin, und dadurch wird Druck abgelassen, deshalb hatten wir nicht die Explosionen und Regimewechsel, wie sie andere Länder des Mittelmeerraums erlebt haben. Aber es gibt eine Grenze, wie lange das so weitergehen kann. Denn das Humankapital wird verbraucht.

Möglichkeiten für Griechenland

Mir scheint, daß Griechenland, weil es ein strategisches Land ist, viele Möglichkeiten hat. Es ist Europas Tor nach Asien. Die Wirtschaft ist jetzt keine transatlantische mehr, es ist eine eurasische Wirtschaft. Deshalb wurde meiner Einschätzung nach zwischen den Chinesen und den Deutschen, die die Europäische Union anführen, eine Absprache getroffen, wie man die Ressourcen verteilen und einige Verkehrsnetze aufbauen will. Und die Griechen hält man dabei vielleicht nicht für sehr nützlich.

Sie benutzen das Land, und sie haben ein phantastisches Geschäft gemacht. Die Landwirtschaftsbank wurde für 95 Mio. Euro an eine private Bank verkauft. Die Idee war vor der Krise gewesen, eine öffentliche Bank zu gründen, die die Landwirtschaftsbank und die Postbank umfassen sollte, aber tatsächlich hat die Bankenlobby gewonnen! So wurde einer Privatbank, der Bank von Piräus, die noch vor sechs Monaten selbst nicht existenzfähig war, die Landwirtschaftsbank für einen Bruchteil ihres Wertes verkauft, ähnlich der größte Teil des privaten Landes, das ging aufgrund der Schuldenkrise an eine private Bank.

Griechenland hat, wie Sie vielleicht wissen, eine Menge Mineralien, es ist ein strategisches Land, es hat beispielsweise eine Menge Gold; es könnte der größte Goldproduzent Europas sein, dank kanadischer Investitionen. Es ist auch eine strategische Verbindung in Südeuropa und verbindet Asien mit Europa, mit Wien und dem Korridor nach Kiew und Moskau.

Und es hat noch etwas anderes, und damit will ich schließen: In der Mitte Griechenlands gibt es eine Region, die man Thessalien nennt. Das ist tatsächlich der erste Ort in Europa, wo jemals Brot gebacken wurde, vor Tausenden von Jahren, nahe Meteora, einem der Mönchsklöster auf den Felsenspitzen.

Thessalien war einmal der Grüngürtel Griechenlands und erzeugte Weizen, Tierfutter, Mais. In der Zeit der Europäischen Union wurde es in einen Baumwollgürtel verwandelt. Griechenland produziert wahrscheinlich mehr Baumwolle als Ägypten. Und ich vermute, der Plan war: „Wir müssen dann keine Baumwolle aus anderen Ländern wie Ägypten oder Syrien importieren.“ So wurde Griechenland zum größten Baumwollproduzenten Europas. Aber diese Megastruktur verursachte eine ökologische Katastrophe: Das Grundwasser ist so stark abgesunken, daß man jetzt bis zu 600 m in die Tiefe bohren muß, um Wasser zu finden. Dieser Teil Griechenlands ist jetzt wie die Niederlande, denn er liegt jetzt aufgrund dieses Problems der Absenkung 20 cm unter dem Meeresspiegel.

Gleichzeitig wollte man Ressourcen aus einem Fluß ableiten, dem Achelous, aus dem auch Athen mit Wasser versorgt wird. Es wurde viel Geld ausgegeben, um den Fluß umzulenken, um Wasser für die Baumwollproduktion nach Thessalien zu leiten, weil Baumwolle vier oder fünfmal mehr Wasser als andere Erzeugnisse braucht. Gleichzeitig importiert Griechenland Weizen, es importiert Viehfutter. Und zur gleichen Zeit wurden auch noch alle Fabriken geschlossen, die wir zur Verarbeitung von Baumwolle und Textilien hatten.

In dem Moment also, wo wir anfingen, Rohstoffe zu produzieren, haben wir aufgehört, sie zu verwenden. In Griechenland importieren wir die Kleidung aus anderen Ländern, wir haben keine Produktion. 90% unserer Kleidung werden inzwischen importiert. Wir sind also ein Land wie Indien im 19. Jahrhundert im Verhältnis zu England: Wir exportieren an globale Akteure Baumwolle, die dann verarbeitet und wieder nach Griechenland importiert wird. Gleichzeitig haben wir noch ein Umweltproblem.

Wir importieren eine Menge Nahrungsmittel, wie z.B. Weizen, wir importieren beispielsweise für 2,5 Mrd. Euro Fleisch aus Frankreich, weil wir auf diese Weise die Viehhaltung im eigenen Land ruiniert haben. Und gleichzeitig importiert unsere Tourismusbranche 80% der Nahrungsmittel, sie kommen aus anderen Ländern, weil wir ein Land geworden sind, das Rohstoffe liefert - nach Deutschland, nach Italien, in andere Länder. Sie verarbeiten unsere Nahrungsmittel und wir importieren sie. Wir werden also praktisch in ein Land der Dritten Welt verwandelt, weil wir Rohstoffe exportieren und Fertigwaren importieren.

Und das ist die Lage unserer Agrarindustrie. Die griechischen Genossenschaften haben 100 Mrd. Euro bekommen, aber die meisten von ihnen sind sehr korrupt. Sie beschäftigten politische Kader und benutzten ausländische Arbeitskräfte für die Obsternte, und die Europäische Union bezahlte sie dafür, die Ernten zu vernichten, um die Bauern bei Laune zu halten oder weil die gleichen Lebensmittel im verarbeiteter Form aus anderen Ländern eingeführt wurden.

Es war also eine verrückte Situation, in der sich alle Subventionen negativ auswirkten. Wir haben ein fruchtbares Land, aber wir produzieren Nahrungsmittel, die wir nicht brauchen, und wir wurden zu einem Land der Dritten Welt! Und jetzt hat Griechenland als Resultat dieses Kollapses eine Nahrungsmittelkrise, denn im kommenden Jahr werden die Subventionen eingestellt! Es gibt eine Nahrungsmittelkrise, weil die Rohstoffe nicht mehr verarbeitet werden, die lokale Industrie wird durch Importe beliefert, und nirgends ist ein klares Ziel.

Und die Bereiche, die erfolgreich arbeiten, werden von der Regierung praktisch verschenkt! So wurde beispielsweise einer der größten Milchkonzerne Griechenlands, Dodoni, vom Wirtschaftsminister als „nicht überlebensfähig“ eingestuft, obwohl die Firma Gewinn machte, weil sie Feta-Käse in die ganze Welt exportiert, einen der echten Flaggenträger unter den griechischen Nahrungsmitteln. Das wurde an ein Unternehmen verkauft, das seinen Sitz auf den britischen Jungfern-Inseln hat! [Heiterkeit.] Was nichts damit zu tun hat.

Und die Leute in den Genossenschaften hatten das Geld zusammengebracht und sagten: „Schaut her, wir wollen einen Anteil kaufen, weil die Landwirtschaftsbank privatisiert wurde und jetzt alle erfolgreichen Genossenschaften verkauft werden müssen.“ Die Arbeiter wollten versuchen, die Genossenschaften selbst zu kaufen. Aber in vielen Fällen, in denen die Arbeiter eine Genossenschaft kaufen wollten, um sie dann selbst zu verwalten oder um alle verfügbaren Mittel einer europäischen Institution zu nutzen, wurde das blockiert! Jetzt haben 7000 Landwirte im Norden Griechenlands, die ärmsten in der Europäischen Union, die Fabrik besetzt, und sie wollen wissen, wer die Fabrik gekauft hat und warum er sie genau in dem Moment kaufte, als sie das Geld hatten, sie selbst zu kaufen.

Wir haben also etwas, was man durchaus als eine „wirtschaftliche Diktatur“ bezeichnen kann. Aber selbst wenn die Medien anscheinend so frei und flexibel sind, ist es doch erstaunlich, daß sie diese blinden Flecken haben, wenn es um Griechenland geht. Denn was in Griechenland abläuft, ist genau das, was Sie hier in den letzten beiden Tagen beschrieben haben, und es ist in vivo. Es vollzieht sich dort in reinster Form! Ich denke, deshalb sollte sich das Schiller-Institut noch stärker auf Griechenland konzentrieren, aber nicht als etwas, was nur Griechenland betrifft. Es ist genau das, wovor Sie die Menschen warnen, und genau das passiert, und es kann sich ausbreiten.

Ich möchte meinen Vortrag beenden, indem ich an Sie alle appelliere, daß wir in Bezug auf diese Lage noch deutlicher zusammenarbeiten sollten. Das ist keine Philanthropie gegenüber Griechenland. Ich glaube, daß alle Vorträge hier ehrlich und nicht bloß ein Theater waren. Sie glauben wirklich an das, was Sie hier gesagt haben. Auch wenn einige sich nicht darüber im klaren sind, daß diese Dinge jetzt geschehen. Es ist nicht etwas aus der Vergangenheit, es geschieht jetzt im Moment. Es ist nicht in der Zukunft, es geschieht jetzt, und diese Notlage ist ein völliges Versagen Europas: Es geschieht jetzt in diesem Augenblick in dem Land, das Europa seinen Namen gab.

Vielen Dank!