Friedrich Schiller Denkmal
Friedrich Schiller




Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

     Konferenz in Flörsheim, November 2012   

Professor Wilhelm Hankel
früherer Chefökonom der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW)
 

Schriftlicher Beitrag

Hat der Euro eine Überlebenschance?

Sehr verehrte Damen und Herren, die Lage in Europa kann man wohl am besten mit dem Wort eines sehr alten englischen Dichters beschreiben: „Ist es gleich Wahnsinn, so hat es doch Methode“ - Hamlet, 2. Akt.

Warum steckt Europa und vor allem die Eurozone in solch einem Schlamassel?

Zunächst einmal - wir haben es in den bisherigen Reden gehört -, sind fast alle Staaten des südlichen Teils der Eurozone bankrott, vollkommen bankrott. Das gleiche gilt für ihre Banken. Aber offiziell wollen die Regierungen und Manager ihren Bankrott nicht eingestehen, sie sagen: „Wir sind nicht bankrott, das ist der Zustand der Währung.“ Aber das ist einer der größten Etikettenschwindel, den ich in meinem sehr langen Leben gesehen habe. Der Euro ist nicht in Gefahr, der Euro ist nicht bankrott - nur das Geld, das in den Euro investiert wurde, nur die falsch angelegten Gelder und Vermögenswerte, die in dieser Währung ausgewiesen sind. Und wenn man sich die realen Fakten und Zahlen betrachtet, dann sieht man schier unglaubliche Größenordnungen: Die Gesamtsumme der dokumentierten Schulden des südlichen Teils der Eurozone wird auf 12 bis 13 Billionen Euro geschätzt. Das ist das Vierfache des deutschen BIP. Das Vierfache! Und die Frage ist: Wie soll man das abtragen, wie soll man das zurückzahlen?

Ich denke, es läßt sich nicht abtragen und zurückzahlen, schon aus einem sehr einfachen Grund: Um diese Schulden zurückzubezahlen, braucht man als Land, als makroökonomische Einheit, Exportüberschüsse: Exportüberschüsse in der Größenordnung von 12 bis 13 Billionen Euro - für eine Gruppe von Ländern, die noch nie Exportüberschüsse hatten und mit Importüberschüssen in fast der gleichen Größenordnung leben. Das kann also nicht in realen Werten zurückgezahlt werden, weil man diese Gruppe von Ländern nicht einfach von Importwirtschaften zu Exportwirtschaften umstrukturieren und sanieren kann.

Eine ähnliche Lage gab es in den dreißiger Jahren, vor 80 Jahren, mit Deutschland und dem Goldstandard. Erst nach dem Schwarzen Freitag, in den dreißiger Jahren, kam die Frage auf: Kann ein - wegen der Kriegsreparationen - überschuldetes Land wie das damalige Deutschland seine Volkswirtschaft insgesamt in eine Überschußwirtschaft umstrukturieren? Es gab damals eine berühmte Debatte zwischen John Maynard Keynes und dem schwedischen Ökonomen Ohlin - die Transferdebatte -, und das Resultat war: Eine Volkswirtschaft hat nur dann eine Chance, eine Gläubigernation zu werden und ihre Schulden zurückzuzahlen, wenn man in der Lage ist, die Volkswirtschaft umzustrukturieren. Das konnte man damals für Deutschland ausschließen, und das kann man heute genauso für den südlichen Teil der Eurozone ausschließen.

Der einzige Weg, dieses Problem zu bewältigen, liegt also im Finanzsektor, und dieser einzige Weg besteht darin, die Schulden zu streichen. Aber dieser Weg ist offiziell blockiert durch die unheilige Allianz der Regierungen und Banken, die behaupten: „Es sind nicht unsere Schulden, es liegt an der Währung“ - was ein völliger Etikettenschwindel ist.

Enormes Inflationspotential

Die Frage ist jetzt, was die Konsequenz davon sein wird, daß es unmöglich ist, diese Schulden zurückzuzahlen und der einzige rationale Weg, nämlich sie zu streichen, blockiert ist. Das bringt mich zur Politik der Euro-Rettung. Diese Politik, den Euro zu retten, ist der zweite Akt in der Tragödie des Herrn Hamlet. Sie bedeutet nämlich einerseits für die nicht überschuldeten Länder im Norden des Währungsraumes, daß sie eine Menge Geld brauchen, um die Schulden zu übernehmen. Und dieses Geld kommt im Moment wie in den letzten zwei bis drei Jahren von der Europäischen Zentralbank. Was wir in den letzten dreieinhalb Jahren gesehen haben, ist ein Überangebot neuen, elektronischen Geldes, geschaffen vom System der Europäischen Zentralbank, auf verschiedenen Wegen, die technisch sehr kompliziert sind, die sich aber folgendermaßen zusammenfassen lassen:

  • Fast eine Billion Euro mehr über das offene Refinanzierungsfenster für das europäische Bankensystem, bei einer Zinsrate zwischen 0% und 0,75%;

  • Beinahe eine weitere Billion über das sogenannte „Target“-System. „Target“ ist ein kompliziertes Wort als Abkürzung für etwas sehr einfaches: Die europäischen Zentralbanken haben untereinander jeweils offene Konten. Jede europäische Zentralbank kann von jeder anderen Geld bekommen. Die Zentralbanken Griechenlands, Spaniens und anderer Schuldnerstaaten haben über die EZB Geld bekommen, mehr oder weniger nur von den drei oder vier Ländern, die Überschüsse haben, nämlich Deutschland, den Niederlanden, Finnland und Österreich. Das ist die zweite Billion neu geschaffenen, elektronischen Geldes;

  • Die nächsten zwei Billionen sind mehr oder weniger Kredite der EZB in den kommerziellen Sektor. Die Bilanz der EZB wurde in den letzten beiden Jahren um mehr als zwei Billionen ausgeweitet;

  • Und der letzte Akt in diesem Programm der Geldschöpfung ist jetzt die Ankündigung von Herrn Draghi, daß er in unbegrenztem Ausmaß Anleihen überschuldeter Länder des Südens ankaufen wird.

    Einige meiner Kollegen und ich haben eine Beschwerde gegen diesen neuen Bruch des EU-Vertrages und der EZB-Statuten eingereicht, die Klage läuft seit dem 15. November. Und mein Beitrag zu dieser Beschwerde war sehr einfach, nämlich das Argument: Wenn diese neue Politik der EZB das ist, was sie vorschriftgemäß sein soll, nämlich Geldpolitik, Währungspolitik, aber keine Finanzierung der Staatshaushalte, dann muß der monetäre Gegenwert der Einnahmen aus sämtlichen Käufen der EZB „sterilisiert“ werden, damit die Verkäufer der Anleihen - Staaten und auch Banken - nicht an das Geld kommen. Es muß in den Konten der EZB eingefroren werden.

    Ich bin sehr gespannt, was unsere Richter zu dieser Idee sagen werden, aber ich bin mir sicher, sie werden das sagen, was sie seit 12 Jahren bei allen Beschwerden gesagt haben, die wir in diesem Fall geführt haben, nämlich: „Deutsche Richter sind keine Ökonomen. Sie sind nicht befugt, die wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen der Gesetzgebung zu prüfen“ - was, wie Sie sich vorstellen können, eine unmögliche Position ist. Schließlich ist ein Verfassungsrichter kein Anwalt oder Notar; er muß neue Paragraphen und neue Gesetze nicht nur in formaler Hinsicht, sondern in sachlicher Hinsicht prüfen: Was sind die Auswirkungen in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht? Welche Schäden hat ein solcher neuerlicher Bruch der Verfassung und der europäischen Verträge zur Folge? Aber in der Hinsicht haben wir es in Deutschland - mehr oder weniger hoffnungslos - mit einer bloß formalen, keiner echten Gesetzgebung und Rechtssprechung zu tun.

    Es stellt sich jetzt dieses Problem: Allen vorliegenden Fakten und Zahlen zufolge - einer gewaltigen Geldschöpfung auf der einen Seite, gegenüber mehr oder weniger Nullwachstum der Realwirtschaft auf der anderen - besteht ein sehr, sehr großer Überhang an Geld im Verhältnis zum real geschaffenen Mehrwert. Das bedeutet Inflation - mindestens das Potential für eine Inflation in unbegrenztem Ausmaß.

    Aber auf der anderen Seite, und das ist Teil des Wahnsinns dieser ganzen Politik, werden die Schuldner, die keinen Schuldenschnitt bekommen und keine Chance haben, ihre Schulden zurückzubezahlen, zum Sparen verpflichtet - zum Sparen in makroökonomischer Hinsicht, nämlich die Steuern zu erhöhen, die Einkommen zu senken und auf alle mögliche andere Art und Weise mehr für die Rückzahlung der Schulden auszugeben, und das noch aus einem kleineren BIP, was unmöglich ist (wie einige der bisherigen Redner für Spanien und sogar für Griechenland gezeigt haben, wie ich gehört habe). Es ist erniedrigend für die Menschen in diesen Ländern, wenn man sie drängt und zwingt, aus weniger Einkommen und Überlebenschancen mehr zu bezahlen. Aber das ist die Realität.

    Und wenn man heute die mediterrane Welt anschaut, dann sieht man völliges Chaos. Auf der nordafrikanischen, südlichen Seite, der islamischen Seite, ist eine rebellische Jugend, die für mehr Freiheiten und mehr Freiheit kämpft, und auf der anderen Seite, unserer Seite, der europäischen Seite, sieht man eine frustrierte Jugend ohne Chancen auf ein gutes Leben in der Zukunft. Das macht mich melancholisch, denn vor etwa zehn Jahren habe ich ein Buch darüber geschrieben, daß der Mittelmeerraum vor 2000 Jahren das Zentrum der Weltwirtschaft war. Aber jetzt ist dieses Zentrum der antiken Welt getrennt in zwei Regionen, die sich aus verschiedenen Gründen in Revolutionen befinden: Der eine Teil kämpft für mehr Freiheit, der andere für bessere Chancen im Leben im materiellen Sinn, die sie ja haben könnten, weil Europa kein Teil der unterentwickelten Welt ist.

    Staat und Währung müssen eine Einheit sein

    Was ist der Ausweg aus diesem Schlamassel? Gibt es Mittel dagegen? Ich denke, es gibt dafür zwei sehr einfache und sehr rationale Mittel, wenn man versteht, was das Grundproblem beim Euro und der Eurozone ist. Und das eigentliche Problem hinter dieser multinationalen Währung - einer Währung für anfangs 11 und inzwischen 17 Nationen - ist, daß eine Trennung zwischen einem Land, einem Staat auf der einen Seite und seiner Währung auf der anderen nicht möglich ist. Der Staat und seine Währung bilden eine Einheit, denn jeder Staat braucht eine Währung, um eine rationale Politik formulieren zu können - eine rationale Politik in Hinsicht auf die Beschäftigung, die sozialen Werte, die strukturellen Ungleichgewichte -, und das kann er nur tun mit seiner eigenen Währung, seinen eigenen Zinsraten und seinen eigenen Regeln für den Bankensektor.

    Als Konsequenz dieses multinationalen Währungssystems, das wir in Europa geschaffen und eingeführt haben, ist der Euro für jedes Land, für jede Volkswirtschaft - es spielt da keine Rolle, ob im Norden oder im Süden - mehr oder weniger eine ausländische Währung. Es ist eine Fremdwährung, eine Währung wie ein Dollar für Europa, ein Renminbi für Europa oder ein Schweizer Franken für Europa oder irgendeine andere Währung. Und eine solche Dummheit hat es in den 3000 Jahren Währungsgeschichte, die ich studiert habe und kenne, noch nie gegeben.

    Der Ausweg ist also, diese Situation zu beenden und zur Identität von Währung und Staat zurückzukehren, und unsere Währung durch unsere nationale Gesetzgebung zu schützen, wie man immer getan hat, seit das Geld ein öffentliches Gut war - und das ist es schon eine sehr lange Zeit.

    Und was wird aus dem Euro? Ich denke, wir haben in einem solchen System eine reale Chance, daß er überlebt, was gut ist, damit unsere Politiker und Europafanatiker das Gesicht wahren können.

    Was könnte die Rolle des Euro in einem solchen System der Rückkehr zu nationalen Währungen sein? Sehr einfach: Wenn Sie sich an die sehr lange, hocherfolgreiche Geschichte der Integration der Währungen in Europa erinnern: Europa hatte seit dem Zweiten Weltkrieg mindestens drei sehr erfolgreiche Währungsarrangements mit seinen Nachbarn. Das erste war die Europäische Zahlungsunion direkt nach dem Krieg, in den Jahren 1947 bis 1957, die mit Hilfe der Vereinigten Staaten, mit Geldern aus der Marshallplan-Hilfe, geschaffen wurde. Diese Europäische Zahlungsunion wurde dann mit dem Beginn des gemeinsamen europäischen Marktes in das Europäische Währungsabkommen (EWA) überführt, denn der Start des gemeinsamen Marktes war auch der Start für den Kapitalmarkt im Nachkriegseuropa. Und weil daher eine bloße Zahlungsunion auf der Ebene der Zentralbanken nicht mehr ausreichte, wurde das EWA eingeführt, und es band die Geldmärkte in das System ein. Und dieses System wurde dann durch den europäischen Wechselkursmechanismus von 1979 abgelöst, das war eine Idee des damaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d’Estaing und des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, und der einzige Unterschied zum früheren System war die Einführung der Europäischen Währungseinheit, der European Currency Unit, abgekürzt ECU. Und Frankreich war sehr stolz auf diesen Namen, denn sie konnten sie „écu“ nennen, und Écu war der Name einer sehr alten Goldmünze Ludwigs XIV. vor 300 Jahren.

    Was ist der Unterschied zum System des Euro? Sehr einfach: Zunächst gab es in allen diesen früheren Systemen nationale Währungen und somit auch die Voraussetzungen dafür, daß die Staaten ihre eigene Politik formulieren und umsetzen, was sehr wichtig ist. Zweitens hatte man anstelle der EZB einen automatischen Mechanismus bei den Wechselkursen. Fast alle Währungen waren mit jeder anderen Währung durch einen Wechselkursmechanismus verbunden. Wenn ein Land eine gute Politik verfolgte, gab es eine Tendenz zur Aufwertung, und im entgegengesetzten Fall eine Tendenz zur Abwertung. Und eine der guten Folgen dieser Gefahr der Abwertung war es, Auslandsschulden zu vermeiden. In jenen Tagen waren Griechenland, Spanien und Italien nicht überschuldet, was Kredite von ihren Nachbarn angeht. Denn die Gefahr einer möglichen Abwertung - und Abwertungen gab es ziemlich oft - war das beste Mittel gegen zu viele Kredite aus der übrigen Welt, um eine Überschuldung zu vermeiden. Und das zweite Element des früheren Systems war die Notwendigkeit einer Rechnungseinheit zur Berechnung der Wechselkurse, und das war der ECU.

    Euro als Zweitwährung

    Was wird also die künftige Chance des Euro in einem revidierten System nationaler Währungen sein? Ein zweiter ECU zu sein! Warum nicht? Ein zweiter ECU unter dem Namen des Euro würde dem Euro eine enorme Attraktivität geben, denn eine Währung kann man abwerten, aber eine Verrechnungseinheit nicht. Da alle Währungen gegenüber der Einheit abwerten müssen, wäre die Einheit die einzige monetäre Größe, die einzige monetäre Einheit, die stabil ist - stabil per Definition. Wir könnten also einen stabilen Euro als Rechnungseinheit in einem System vieler Währungen in Europa haben. Das wäre die beste Lösung, der Euro als zweiter ECU.

    Aber wenn man ein noch stärkeres Symbol Europas haben will, gäbe es auch die Möglichkeit, der Einheit den Charakter einer richtigen Währung zu geben. Warum nicht? Warum sollte ein föderales Europa, ein Europa mit nicht nur 17, sondern 28 Nationen - warum sollte ein solches Europa nicht mit zwei Währungen leben können? Jeweils einer nationalen und einer supranationalen, nämlich einem Euro, nicht als Rechnungseinheit, sondern als parallele Währung zu allen bestehenden Landeswährungen in Europa? Selbst in einem solchen System wäre der Euro im Gegensatz zur Vergangenheit sehr stabil, denn jeder Trend zur Abwertung des Euro würde die Europäische Zentralbank, die diese Währung ausgibt, dazu zwingen, sie zu stärken. Wir hätten also das, was uns heute fehlt - in Europa, nicht in der Welt: einen Wettbewerb der Währungen. Und der Wettbewerb der europäischen Währungen mit einer weiteren Währung, dem Euro, würde natürlich das ganze System, nämlich den Euro und alle anderen Währungen, stabilisieren.

    Um zum Schluß zu kommen: Auch wenn dieser neue Euro ein weiterer Etikettenschwindel wäre - daß man nämlich sagt, wir haben einen Euro, obwohl wir den Euro nicht mehr haben -, hätte erstens der Euro in diesem Fall eine Überlebenschance, und dann könnten alle die dummen Regierungen in Europa sagen: „Wir haben nie vor den Kritikern kapituliert, wir konnten den Euro retten“ - zu einem guten Ziel, einem guten Zweck und einem allseitigen Happy End.

    Vielen Dank.