Karel Vereycken: Guten Morgen, Maître Hélène
Féron-Poloni. Danke, daß Sie uns dieses Interview gewähren. Sie sind
teilhabende Rechtsanwältin des Pariser Anwaltsbüros Lecoq Vallon & Associés
und leiten die gerichtliche Verteidigung mehrerer Kommunen und interkommunaler
Versorgungsunternehmen, die Opfer der sogenannten „toxischen“ Kredite wurden.
Hélène Féron-Poloni: Die Angelegenheit der
toxischen Kredite ist der Skandal der vergangenen Jahre. Es handelt sich
um ein Finanzproblem, das die tagtägliche Realität unserer Städte und Bürger
betrifft.
Während der 1990er Jahre und Anfang 2000 stellte Dexia fest,
daß die kommunale Nachfrage nach neuen Krediten im Abnehmen begriffen war, denn
viele Gemeinden hatten sich mittlerweile mit der von ihnen benötigten
Infrastruktur versehen. Man braucht nicht vier oder fünf Gemeinschaftshäuser,
man braucht nur eins, und sobald es errichtet ist, bezahlt man den Kredit ab
und die Sache ist erledigt.
Dexia hatte dann die Idee, „mit Hilfe von etwas Altem etwas
Neues zu machen“ und seine Ertragslage dadurch zu verbessern, daß es den
Gemeinden „Schuldenmanagement“, wie sie es nannte, verkaufte. Eine Gemeinde
z.B., die einen ausstehenden Kredit von, sagen wir, 3 Mio. Euro bei Dexia
hatte, den sie im Laufe der nächsten zehn Jahre vollständig abgezahlt hätte,
wurde von Dexia dahin gedrängt, den Kredit von 3 Mio. mit einem neuen Kredit zu
refinanzieren, was als eine Methode zum Verdienen zusätzlichen Geldes
präsentiert wurde, und zwar durch das, was wie geringere Zinsen aussah. Der
erste Trick bei der Aufnahme eines neuen Kredits, der dem Kapital hinzugefügt
wird, das man noch von dem vorhergehenden Kredit schuldet, ist die Verlängerung
der Rückzahlungsdauer (von 20 auf 30 Jahre). Am Ende eines alten Kredits wird
hauptsächlich das Kapital zurückgezahlt, während beim Abschluß eines neuen
Kreditvertrags zunächst die Zinsen des Kredits an die Bank bezahlt werden und
weniger das Kapital als solches.
In einer zweiten Phase der Geschäftssondierung bei den
Gemeinden würde Dexia ihnen sagen: „Das können wir sogar noch besser. Sie
können noch höhere Gewinnspannen auf die Zinsen Ihres Kredits realisieren, wenn
Sie aktiv an den Finanzmärkten teilnehmen: indem Sie zum Spieler auf den
Finanzmärkten werden - wie das geht, werde ich Ihnen nicht erklären, doch keine
Angst, wir werden uns um alles kümmern, wir haben eine Lösung und statt 4%
Zinsen auf ihre Kredite zu zahlen, werden wir Ihnen einen jährlichen Zinssatz
von 3,5% besorgen.“ Natürlich war für die Bürgermeister - die versuchen, die
Gemeindesteuern so gering wie möglich zu halten - dieser Vorschlag
verständlicherweise verführerisch, doch gleichzeitig, und das stellen wir heute
fest, verstanden die meisten von ihnen nicht, was sie da zum Teufel nochmal
unterzeichneten.
So brachte Dexia ab 2000 eine riesige Anzahl von Leuten
dazu, sogenannte „strukturierte Kredite“ abzuschließen, die sich später in
„giftige Kredite“ verwandelten, weil Kommunen gar nicht in der Lage sind, diese
finanziellen Verpflichtungen zu bezahlen.
In diesen strukturierten Krediten existiert ein rein
finanzieller Mechanismus, eine „Currency Exchange Option“ (Währungskursoption),
die die Kommune an Dexia zu verkaufen hat. Dafür bietet Dexia dann, aber nur
für die Anfangsjahre, einen geringeren Zinssatz auf ihren Kredit an. Dexia
räumt der Kommune also einen Kredit mit geringeren Zinsen als denen des
Vorgängerkredits ein und damit wird die Kommune von einem Kredit profitieren,
der von der Wette abhängt, die durch die Währungskursoption definiert ist, die
sie über Dexia auf den Märkten verkauft hat, mit der Hoffnung, dass die Wette
günstig ausgeht.
Vereycken: Wollen Sie damit sagen, die
Kommunen wurden zu Spielern des globalen Finanzkasinos gemacht?
Féron-Poloni: Absolut. Die Kommune wird durch
den Verkauf der Währungskursoption an Dexia faktisch zum Bürgen einer Wette,
daß ein bestimmter Wechselkurs zwischen zwei Währungen - das waren oft der Euro
und der Schweizer Franken - seinen gegebenen Wert behalten würde. Die Kommune
würde sagen: „Ich nehme diesen Kredit und wette darauf, daß der Euro niemals
unter den Wert von 1,44 SFr fallen wird.“ Gleichzeitig gibt es auf den
Finanzmärkten Finanzfirmen, die in einer viel besseren Position als die Kommune
für die Beurteilung des Wertes dieser Wette sind, und sie schließen gegenteilige
Wette ab! Sie gehen davon aus, daß angesichts der Finanzkrise, die spätestens
2007 begann, der Schweizer Franken gegenüber dem Euro im Kurs steigen wird, so
daß weniger als 1,44 SFr gebraucht werden, um 1 Euro zu kaufen. Die Konsequenz
für die Kommune, wenn sie einen Kredit zu 3,5% Zinsen bei Dexia aufnimmt, ist
die Garantie von Seiten der Bank, daß die Zinsen in den beiden ersten Jahren
nicht steigen werden. Wenn jedoch der Wechselkurs zwischen Euro und Schweizer
Franken sich zu Ungunsten der Kommune ändert, was ab dem dritten Jahr möglich
ist, dann werden die Zinsen für den Kredit explodieren. Und genau das passierte
vielen Kommunen in Frankreich.
2011 trat die Gemeinde Sassenage an mich heran. Damals
hatten sie zwei Kredite abzuzahlen, was auch heute noch der Fall ist. Einer war
aus dem Jahr 2009 und der andere von 2010. Der Betrag beider Kredite beläuft
sich jeweils auf etwas mehr als 4 Mio. Euro, was das ausgeliehene Kapital
betrifft. Das sind „strukturierte Kredite“. Der Index, um den es dabei geht,
ist der Wechselkurs zwischen Euro und Schweizer Franken, und damit die Kredite
ihre ursprünglichen Raten von 3,5% und 3,7% behalten, wurde gewettet, daß für
einen Euro weniger als 1,44 Schweizer Franken erforderlich wären. Diese
Paritätsgrenze wurde 2011 überschritten. Derzeit erreichen die Zinsraten für
Sassenage 15% pro Jahr! Natürlich wurde die Stadt von Dexia kontaktiert, um
eine Lösung für diese Situation zu finden. Die erste dieser Lösungen, wenn man
feststellt, daß eine veränderliche Zinsrate explodiert, ist es, zu erwägen, daß
man den gesamten Kredit in der vorgesehenen Art und Weise zurückzahlt. Aber die
Struktur der Anleihen bewirkt, daß die finanzielle Entschädigung, die man
bezahlen muß, um aus diesen Krediten herauszukommen, größer ist als das noch
zurückzuzahlende Kapital.
Um eine Anleihe von 4 Mio. Euro zurückzuerstatten, müßte
Sassenage mehr als 8 Mio. Euro auftreiben - d.h. die vier Millionen des
ursprünglichen Kapitals und mehr als vier Millionen an Kompensation für die
erwartete Verzinsung. Warum? Weil, wie schon gesagt, die strukturierten
Anleihen den Verkauf einer Devisentauschoption auf den Finanzmärkten erfordert;
es gibt ein Finanzunternehmen, das diese Option von der Stadt gekauft hat und
das den Gegenwert des Kontraktes verlangt, weil der Wert des Schweizer Frankens
gegenüber dem Euro angestiegen ist. Und um aus dem Vertrag herauszukommen, muß
die Stadt die Gegenpartei für den Verkauf der Option bezahlen, der schon Monate
oder vielleicht Jahre zuvor erfolgte.
Vereycken: Ist es Dexia selbst, das diese
Optionen verkauft, oder ist da ein weiteres Finanzunternehmen beteiligt?
Féron-Poloni: Dieser Mechanismus wurde von
Dexia niemals erläutert. Die Bank hat der Stadt niemals gesagt: „Ich kaufe Ihre
Devisentauschoption.“ Aber wir wissen, daß sie das getan haben, weil
Finanzexperten diese strukturierten Anleihen untersucht haben. Wir wissen heute
mit Sicherheit, daß Dexia diese Devisentauschoption gekauft und weiterverkauft
hat. Durch diese Aktivität machte die Bank Gewinne an diesen Anleihekontrakten.
Sie kaufte die Optionen den Städten sehr billig ab und verkaufte sie dann mit
einer substantiellen Profitmarge auf den Finanzmärkten.
Die Stadt, das muß hier hervorgehoben werden, hatte blindes
Vertrauen in Dexia. Und so intervenierte Dexia jedesmal, wenn es
Schwierigkeiten mit der Anleihe gab, um zu sehen, wie die Sache geregelt werden
konnte.
Es war Dexia, das der Stadt jedesmal eine neue Lösung
verkaufte, um sie davor zu bewahren, daß sie empörende Zinsen zahlen mußte.
Aber bei den Lösungen, die Dexia jedes Jahr verkaufte, blieb der Stadt als
einzige Möglichkeit, nicht zu viele Zinsen zu bezahlen, daß sie jedesmal
größere Risiken auf den Finanzmärkten einging.
Dexia mißbrauchte die Unwissenheit der Stadt in Fragen
strukturierter Anleihen. Sie können kein einziges Dokument finden, sei es ein
Kontrakt oder ein Wechsel, in dem Dexia einer Stadt erklärt, daß sie dadurch zu
einem Verkäufer einer Devisentauschoption auf den Finanzmärkten auf der
Grundlage des Wechselkurses zwischen Euro und Schweizer Franken wird. Diese
Information ist nirgendwo enthalten. Und noch dazu, ist zu bemerken - und in
diesem Fall haben wir schriftliche Dokumente -, behauptete Dexia, daß der
Schweizer Franken als eine Fluchtwährung außerordentlich stabil sei, während es
tatsächlich in der Natur von Fluchtwährungen liegt, daß sie außerordentlich
wechselhaft sind! Und wenn Dexia so gut dabei abschnitt, diese Optionen
weiterzuverkaufen - denn auf diese Weise machte sie ihre Profite an diesen
strukturierten Krediten -, dann lag das daran, daß auf den Finanzmärkten,
während Dexia ihren Kunden sagte, der Schweizer Franken sei eine sehr stabile
Währung, viele Unternehmen auf das Gegenteil wetteten, die sagten: „Nein, nein,
nein, das wird nicht funktionieren! Wenn man bedenkt, wie sich die Krise seit
2007 entwickelt hat, und wenn man die Engagements ansieht, die ich in Schweizer
Franken eingegangen bin, dann muß ich mich definitiv gegen das Währungsrisiko
zwischen dem Euro und dem Schweizer Franken schützen!“
Und siehe da, Dexia verkaufte jede Menge
Devisentauschoptionen für den Wechselkurs zwischen Euro und Schweizer Franken!
Heute kann man von einem Quasibankrott sprechen, d.h., wenn der französische
und der belgische Staat nicht eingegriffen hätten, um sie zum zweiten Mal zu stützen
- wir reden hier über mehr als 10 Mrd. Euro Stützungsgelder für Dexia -: Diese
Bank ist so gut wie bankrott, aber wenn man sieht, was sie mit ihren eigenen
Kunden getan hat, dann kann man nicht sagen, daß diese Bank gut gemanagt wäre.
Vereycken: Der Fall von Sassenage wurde vom
regionalen Rechnungshof untersucht. Sagen Sie uns mehr darüber.
Féron-Poloni: Man muß wissen, daß nach dem
französischen Recht Verträge, die zwischen zwei Personen abgeschlossen werden,
das Recht zwischen diesen beiden Personen bestimmen. Die Kommunen sind also
verpflichtet, Dexia zu bezahlen. Aber es gibt Ausnahmen. Wenn man den Kontrakt
als ungültig betrachtet, wenn der Kontrakt von Anfang an aufgrund des
Verhaltens, in diesem Fall eines Bankiers, ein Unrecht darstellt, dann muß es
die Möglichkeit geben, die Annullierung des betreffenden Vertrages zu
beantragen. Und dann interveniert der Richter, und nur der Richter kann einer
Kommune erlauben, ihren Verpflichtungen gegenüber einer Bank nicht
nachzukommen.
Entsprechend dieses Ansatzes sind wir im Fall von Sassenage
zum Landgericht in Nanterre gegangen und haben Dexia auf Ungültigkeit der
Anleihen verklagt, die sie mit der Gemeinde Sassenage vereinbart hat. Parallel
hierzu stellte die Gemeinde ihre Zinszahlungen auf diese Kredite ein. Lassen
Sie mich klarstellen: Das Kapital wird weiterhin zurückgezahlt, aber nur das im
jeweiligen Jahr fällige, aber die Zinszahlungen sind eingestellt. Das ist
normal, wenn man bedenkt, wo diese Zinsen heute stehen. Die Stadt kann diese
Zinsen nicht bezahlen, weil das ihren Haushalt völlig durcheinanderbringen
würde.
Angesichts dieser Lage forderte Dexia den Präfekten auf, zu
intervenieren. Der Präfekt bestellte den Bürgermeister zu sich und sagte ihm:
„Sie werden diese Zinsen an Dexia bezahlen!“ Der Bürgermeister weigerte sich,
das zu tun, und der Präfekt forderte daher den regionalen Rechnungshof des
Distrikts auf, die Bezahlung dieser Zinsraten als Pflichtzahlungen
vorzuschreiben.
Nun, entgegen aller Erwartungen Dexias hat der regionale
Rechnungshof am 31. Mai 2012 ein Urteil gefällt, das der Gemeinde faktisch
erlaubte, die Zinsen auf diese Anleihen solange nicht zu bezahlen, bis das
Landgericht in Nanterre seine Gesamtentscheidung über die Beschwerden,
insbesondere was die Ungültigkeit der Verträge angeht, gefällt hat. Das ist das
erste Mal, daß ein regionaler Rechnungshof eine solche Entscheidung getroffen
hat. Und diese Entscheidung ist wichtig, weil wir hier über ein Gericht für die
öffentlichen Finanzen reden, das auf Angelegenheiten der kommunalen
Investitionen spezialisiert ist, sodaß dieses Urteil besonderes Gewicht hat.
Vereycken: Nach all dem, was Sie gerade gesagt
haben, müssen Sie wohl mit Leuten wie uns übereinstimmen, die eine völlige
Trennung fordern zwischen den Geschäftsbanken, die das Recht haben, Haushalte,
Unternehmen und kommunale Verwaltungen zu finanzieren, aber denen das Recht
genommen wird, sich auf den Finanzmärkten zu engagieren, und den
Investmentbanken auf der anderen Seite, die, wenn sie riskante Wetten eingehen,
auch ihre eigenen Verluste tragen sollten.
Féron-Poloni: Die Frage der giftigen Kredite
ist wirklich nur eine Illustration der Tatsache, daß in den letzten 20 Jahren,
etwa Verträge über Finanzprodukte, die die Finanzunternehmen ihren Kunden
verkaufen, nur dazu geschaffen wurden, um der Finanzwelt Profite zu
garantieren, aber in keiner Weise ihren Kunden. Seien es Investments, Anlagen
oder Kredite wie die an diese Kommunen: der Kunde glaubte, ein gutes Geschäft
zu machen und vielleicht etwas Geld für seine Gemeinde zu gewinnen oder die
Ausgaben zu reduzieren, und war sich nicht darüber im Klaren, daß die
Profitabilität nur für das Finanzunternehmen garantiert war. Es ist wie in
einem Kasino: Wenn man das Spiel gewinnen will, dann darf man nicht im Kasino
spielen, man muß es besitzen.
Vereycken: Ja, aber wenn die gesamte
Gesellschaft dem Kasino ausgeliefert wird, dann rennen wir gegen die Wand!
Féron-Poloni: Es ist klar, daß das nicht
wünschenswert ist, und wenn ich mich auf eine Seite stellen muß, dann stehe ich
lieber auf Seiten der Kunden der Bank, als auf der Seite des finanziellen
Establishments.
Vereycken: Vielen Dank!