Friedrich Schiller Denkmal
Friedrich Schiller




Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

     Konferenz in Flörsheim, November 2012   

Maître Hélène Féron-Poloni
Anwältin und vertritt in mehreren Verfahren französische Städte, Gemeinden und öffentliche Einrichtungen, die aufgrund der Ratschläge ihrer Banken Opfer toxischer Kredite wurden.
 

Interview


„Verträge wurden nur dazu geschaffen der Finanzwelt Profite zu garantieren“

Karel Vereycken: Guten Morgen, Maître Hélène Féron-Poloni. Danke, daß Sie uns dieses Interview gewähren. Sie sind teilhabende Rechtsanwältin des Pariser Anwaltsbüros Lecoq Vallon & Associés und leiten die gerichtliche Verteidigung mehrerer Kommunen und interkommunaler Versorgungsunternehmen, die Opfer der sogenannten „toxischen“ Kredite wurden.

Hélène Féron-Poloni: Die Angelegenheit der toxischen Kredite ist der Skandal der vergangenen Jahre. Es handelt sich um ein Finanzproblem, das die tagtägliche Realität unserer Städte und Bürger betrifft.

Während der 1990er Jahre und Anfang 2000 stellte Dexia fest, daß die kommunale Nachfrage nach neuen Krediten im Abnehmen begriffen war, denn viele Gemeinden hatten sich mittlerweile mit der von ihnen benötigten Infrastruktur versehen. Man braucht nicht vier oder fünf Gemeinschaftshäuser, man braucht nur eins, und sobald es errichtet ist, bezahlt man den Kredit ab und die Sache ist erledigt.

Dexia hatte dann die Idee, „mit Hilfe von etwas Altem etwas Neues zu machen“ und seine Ertragslage dadurch zu verbessern, daß es den Gemeinden „Schuldenmanagement“, wie sie es nannte, verkaufte. Eine Gemeinde z.B., die einen ausstehenden Kredit von, sagen wir, 3 Mio. Euro bei Dexia hatte, den sie im Laufe der nächsten zehn Jahre vollständig abgezahlt hätte, wurde von Dexia dahin gedrängt, den Kredit von 3 Mio. mit einem neuen Kredit zu refinanzieren, was als eine Methode zum Verdienen zusätzlichen Geldes präsentiert wurde, und zwar durch das, was wie geringere Zinsen aussah. Der erste Trick bei der Aufnahme eines neuen Kredits, der dem Kapital hinzugefügt wird, das man noch von dem vorhergehenden Kredit schuldet, ist die Verlängerung der Rückzahlungsdauer (von 20 auf 30 Jahre). Am Ende eines alten Kredits wird hauptsächlich das Kapital zurückgezahlt, während beim Abschluß eines neuen Kreditvertrags zunächst die Zinsen des Kredits an die Bank bezahlt werden und weniger das Kapital als solches.

In einer zweiten Phase der Geschäftssondierung bei den Gemeinden würde Dexia ihnen sagen: „Das können wir sogar noch besser. Sie können noch höhere Gewinnspannen auf die Zinsen Ihres Kredits realisieren, wenn Sie aktiv an den Finanzmärkten teilnehmen: indem Sie zum Spieler auf den Finanzmärkten werden - wie das geht, werde ich Ihnen nicht erklären, doch keine Angst, wir werden uns um alles kümmern, wir haben eine Lösung und statt 4% Zinsen auf ihre Kredite zu zahlen, werden wir Ihnen einen jährlichen Zinssatz von 3,5% besorgen.“ Natürlich war für die Bürgermeister - die versuchen, die Gemeindesteuern so gering wie möglich zu halten - dieser Vorschlag verständlicherweise verführerisch, doch gleichzeitig, und das stellen wir heute fest, verstanden die meisten von ihnen nicht, was sie da zum Teufel nochmal unterzeichneten.

So brachte Dexia ab 2000 eine riesige Anzahl von Leuten dazu, sogenannte „strukturierte Kredite“ abzuschließen, die sich später in „giftige Kredite“ verwandelten, weil Kommunen gar nicht in der Lage sind, diese finanziellen Verpflichtungen zu bezahlen.

In diesen strukturierten Krediten existiert ein rein finanzieller Mechanismus, eine „Currency Exchange Option“ (Währungskursoption), die die Kommune an Dexia zu verkaufen hat. Dafür bietet Dexia dann, aber nur für die Anfangsjahre, einen geringeren Zinssatz auf ihren Kredit an. Dexia räumt der Kommune also einen Kredit mit geringeren Zinsen als denen des Vorgängerkredits ein und damit wird die Kommune von einem Kredit profitieren, der von der Wette abhängt, die durch die Währungskursoption definiert ist, die sie über Dexia auf den Märkten verkauft hat, mit der Hoffnung, dass die Wette günstig ausgeht.

Vereycken: Wollen Sie damit sagen, die Kommunen wurden zu Spielern des globalen Finanzkasinos gemacht?

Féron-Poloni: Absolut. Die Kommune wird durch den Verkauf der Währungskursoption an Dexia faktisch zum Bürgen einer Wette, daß ein bestimmter Wechselkurs zwischen zwei Währungen - das waren oft der Euro und der Schweizer Franken - seinen gegebenen Wert behalten würde. Die Kommune würde sagen: „Ich nehme diesen Kredit und wette darauf, daß der Euro niemals unter den Wert von 1,44 SFr fallen wird.“ Gleichzeitig gibt es auf den Finanzmärkten Finanzfirmen, die in einer viel besseren Position als die Kommune für die Beurteilung des Wertes dieser Wette sind, und sie schließen gegenteilige Wette ab! Sie gehen davon aus, daß angesichts der Finanzkrise, die spätestens 2007 begann, der Schweizer Franken gegenüber dem Euro im Kurs steigen wird, so daß weniger als 1,44 SFr gebraucht werden, um 1 Euro zu kaufen. Die Konsequenz für die Kommune, wenn sie einen Kredit zu 3,5% Zinsen bei Dexia aufnimmt, ist die Garantie von Seiten der Bank, daß die Zinsen in den beiden ersten Jahren nicht steigen werden. Wenn jedoch der Wechselkurs zwischen Euro und Schweizer Franken sich zu Ungunsten der Kommune ändert, was ab dem dritten Jahr möglich ist, dann werden die Zinsen für den Kredit explodieren. Und genau das passierte vielen Kommunen in Frankreich.

2011 trat die Gemeinde Sassenage an mich heran. Damals hatten sie zwei Kredite abzuzahlen, was auch heute noch der Fall ist. Einer war aus dem Jahr 2009 und der andere von 2010. Der Betrag beider Kredite beläuft sich jeweils auf etwas mehr als 4 Mio. Euro, was das ausgeliehene Kapital betrifft. Das sind „strukturierte Kredite“. Der Index, um den es dabei geht, ist der Wechselkurs zwischen Euro und Schweizer Franken, und damit die Kredite ihre ursprünglichen Raten von 3,5% und 3,7% behalten, wurde gewettet, daß für einen Euro weniger als 1,44 Schweizer Franken erforderlich wären. Diese Paritätsgrenze wurde 2011 überschritten. Derzeit erreichen die Zinsraten für Sassenage 15% pro Jahr! Natürlich wurde die Stadt von Dexia kontaktiert, um eine Lösung für diese Situation zu finden. Die erste dieser Lösungen, wenn man feststellt, daß eine veränderliche Zinsrate explodiert, ist es, zu erwägen, daß man den gesamten Kredit in der vorgesehenen Art und Weise zurückzahlt. Aber die Struktur der Anleihen bewirkt, daß die finanzielle Entschädigung, die man bezahlen muß, um aus diesen Krediten herauszukommen, größer ist als das noch zurückzuzahlende Kapital.

Um eine Anleihe von 4 Mio. Euro zurückzuerstatten, müßte Sassenage mehr als 8 Mio. Euro auftreiben - d.h. die vier Millionen des ursprünglichen Kapitals und mehr als vier Millionen an Kompensation für die erwartete Verzinsung. Warum? Weil, wie schon gesagt, die strukturierten Anleihen den Verkauf einer Devisentauschoption auf den Finanzmärkten erfordert; es gibt ein Finanzunternehmen, das diese Option von der Stadt gekauft hat und das den Gegenwert des Kontraktes verlangt, weil der Wert des Schweizer Frankens gegenüber dem Euro angestiegen ist. Und um aus dem Vertrag herauszukommen, muß die Stadt die Gegenpartei für den Verkauf der Option bezahlen, der schon Monate oder vielleicht Jahre zuvor erfolgte.

Vereycken: Ist es Dexia selbst, das diese Optionen verkauft, oder ist da ein weiteres Finanzunternehmen beteiligt?

Féron-Poloni: Dieser Mechanismus wurde von Dexia niemals erläutert. Die Bank hat der Stadt niemals gesagt: „Ich kaufe Ihre Devisentauschoption.“ Aber wir wissen, daß sie das getan haben, weil Finanzexperten diese strukturierten Anleihen untersucht haben. Wir wissen heute mit Sicherheit, daß Dexia diese Devisentauschoption gekauft und weiterverkauft hat. Durch diese Aktivität machte die Bank Gewinne an diesen Anleihekontrakten. Sie kaufte die Optionen den Städten sehr billig ab und verkaufte sie dann mit einer substantiellen Profitmarge auf den Finanzmärkten.

Die Stadt, das muß hier hervorgehoben werden, hatte blindes Vertrauen in Dexia. Und so intervenierte Dexia jedesmal, wenn es Schwierigkeiten mit der Anleihe gab, um zu sehen, wie die Sache geregelt werden konnte.

Es war Dexia, das der Stadt jedesmal eine neue Lösung verkaufte, um sie davor zu bewahren, daß sie empörende Zinsen zahlen mußte. Aber bei den Lösungen, die Dexia jedes Jahr verkaufte, blieb der Stadt als einzige Möglichkeit, nicht zu viele Zinsen zu bezahlen, daß sie jedesmal größere Risiken auf den Finanzmärkten einging.

Dexia mißbrauchte die Unwissenheit der Stadt in Fragen strukturierter Anleihen. Sie können kein einziges Dokument finden, sei es ein Kontrakt oder ein Wechsel, in dem Dexia einer Stadt erklärt, daß sie dadurch zu einem Verkäufer einer Devisentauschoption auf den Finanzmärkten auf der Grundlage des Wechselkurses zwischen Euro und Schweizer Franken wird. Diese Information ist nirgendwo enthalten. Und noch dazu, ist zu bemerken - und in diesem Fall haben wir schriftliche Dokumente -, behauptete Dexia, daß der Schweizer Franken als eine Fluchtwährung außerordentlich stabil sei, während es tatsächlich in der Natur von Fluchtwährungen liegt, daß sie außerordentlich wechselhaft sind! Und wenn Dexia so gut dabei abschnitt, diese Optionen weiterzuverkaufen - denn auf diese Weise machte sie ihre Profite an diesen strukturierten Krediten -, dann lag das daran, daß auf den Finanzmärkten, während Dexia ihren Kunden sagte, der Schweizer Franken sei eine sehr stabile Währung, viele Unternehmen auf das Gegenteil wetteten, die sagten: „Nein, nein, nein, das wird nicht funktionieren! Wenn man bedenkt, wie sich die Krise seit 2007 entwickelt hat, und wenn man die Engagements ansieht, die ich in Schweizer Franken eingegangen bin, dann muß ich mich definitiv gegen das Währungsrisiko zwischen dem Euro und dem Schweizer Franken schützen!“

Und siehe da, Dexia verkaufte jede Menge Devisentauschoptionen für den Wechselkurs zwischen Euro und Schweizer Franken! Heute kann man von einem Quasibankrott sprechen, d.h., wenn der französische und der belgische Staat nicht eingegriffen hätten, um sie zum zweiten Mal zu stützen - wir reden hier über mehr als 10 Mrd. Euro Stützungsgelder für Dexia -: Diese Bank ist so gut wie bankrott, aber wenn man sieht, was sie mit ihren eigenen Kunden getan hat, dann kann man nicht sagen, daß diese Bank gut gemanagt wäre.

Vereycken: Der Fall von Sassenage wurde vom regionalen Rechnungshof untersucht. Sagen Sie uns mehr darüber.

Féron-Poloni: Man muß wissen, daß nach dem französischen Recht Verträge, die zwischen zwei Personen abgeschlossen werden, das Recht zwischen diesen beiden Personen bestimmen. Die Kommunen sind also verpflichtet, Dexia zu bezahlen. Aber es gibt Ausnahmen. Wenn man den Kontrakt als ungültig betrachtet, wenn der Kontrakt von Anfang an aufgrund des Verhaltens, in diesem Fall eines Bankiers, ein Unrecht darstellt, dann muß es die Möglichkeit geben, die Annullierung des betreffenden Vertrages zu beantragen. Und dann interveniert der Richter, und nur der Richter kann einer Kommune erlauben, ihren Verpflichtungen gegenüber einer Bank nicht nachzukommen.

Entsprechend dieses Ansatzes sind wir im Fall von Sassenage zum Landgericht in Nanterre gegangen und haben Dexia auf Ungültigkeit der Anleihen verklagt, die sie mit der Gemeinde Sassenage vereinbart hat. Parallel hierzu stellte die Gemeinde ihre Zinszahlungen auf diese Kredite ein. Lassen Sie mich klarstellen: Das Kapital wird weiterhin zurückgezahlt, aber nur das im jeweiligen Jahr fällige, aber die Zinszahlungen sind eingestellt. Das ist normal, wenn man bedenkt, wo diese Zinsen heute stehen. Die Stadt kann diese Zinsen nicht bezahlen, weil das ihren Haushalt völlig durcheinanderbringen würde.

Angesichts dieser Lage forderte Dexia den Präfekten auf, zu intervenieren. Der Präfekt bestellte den Bürgermeister zu sich und sagte ihm: „Sie werden diese Zinsen an Dexia bezahlen!“ Der Bürgermeister weigerte sich, das zu tun, und der Präfekt forderte daher den regionalen Rechnungshof des Distrikts auf, die Bezahlung dieser Zinsraten als Pflichtzahlungen vorzuschreiben.

Nun, entgegen aller Erwartungen Dexias hat der regionale Rechnungshof am 31. Mai 2012 ein Urteil gefällt, das der Gemeinde faktisch erlaubte, die Zinsen auf diese Anleihen solange nicht zu bezahlen, bis das Landgericht in Nanterre seine Gesamtentscheidung über die Beschwerden, insbesondere was die Ungültigkeit der Verträge angeht, gefällt hat. Das ist das erste Mal, daß ein regionaler Rechnungshof eine solche Entscheidung getroffen hat. Und diese Entscheidung ist wichtig, weil wir hier über ein Gericht für die öffentlichen Finanzen reden, das auf Angelegenheiten der kommunalen Investitionen spezialisiert ist, sodaß dieses Urteil besonderes Gewicht hat.

Vereycken: Nach all dem, was Sie gerade gesagt haben, müssen Sie wohl mit Leuten wie uns übereinstimmen, die eine völlige Trennung fordern zwischen den Geschäftsbanken, die das Recht haben, Haushalte, Unternehmen und kommunale Verwaltungen zu finanzieren, aber denen das Recht genommen wird, sich auf den Finanzmärkten zu engagieren, und den Investmentbanken auf der anderen Seite, die, wenn sie riskante Wetten eingehen, auch ihre eigenen Verluste tragen sollten.

Féron-Poloni: Die Frage der giftigen Kredite ist wirklich nur eine Illustration der Tatsache, daß in den letzten 20 Jahren, etwa Verträge über Finanzprodukte, die die Finanzunternehmen ihren Kunden verkaufen, nur dazu geschaffen wurden, um der Finanzwelt Profite zu garantieren, aber in keiner Weise ihren Kunden. Seien es Investments, Anlagen oder Kredite wie die an diese Kommunen: der Kunde glaubte, ein gutes Geschäft zu machen und vielleicht etwas Geld für seine Gemeinde zu gewinnen oder die Ausgaben zu reduzieren, und war sich nicht darüber im Klaren, daß die Profitabilität nur für das Finanzunternehmen garantiert war. Es ist wie in einem Kasino: Wenn man das Spiel gewinnen will, dann darf man nicht im Kasino spielen, man muß es besitzen.

Vereycken: Ja, aber wenn die gesamte Gesellschaft dem Kasino ausgeliefert wird, dann rennen wir gegen die Wand!

Féron-Poloni: Es ist klar, daß das nicht wünschenswert ist, und wenn ich mich auf eine Seite stellen muß, dann stehe ich lieber auf Seiten der Kunden der Bank, als auf der Seite des finanziellen Establishments.

Vereycken: Vielen Dank!