Dies lernt heute jedes Kind durch den "Thaleskreis" in der Schule. Wenn man nämlich auf dem Durchmesser AB eines beliebigen Kreises i Dreiecke ABCi zeichnet, deren dritter Punkt Ci auf dem Kreisumfang liegt, so sind alle diese Dreiecke rechtwinklig. Der Winkel ACiB ist bei jedem Dreieck 90°. (Im abgebildeten Theater sieht jeder Zuschauer von seinem Platz aus die Bühne in einem Winkel von 90°).

Wie kam Thales darauf? Er erkannte, daß alles, was Dreiecke betrifft, alle Sätze - wie zum Beispiel der, daß die Summe aller Winkel im Dreieck genau 180° ergibt - oder die Tatsache, daß bei der Konstruktion von Mittelsenkrechten sich diese alle in einem Punkt schneiden, immer durch den Kreis begründet sind, vor allem durch die dem Kreis innewohnende phänomenale Beziehung zwischen Umfang und Durchmesser. Dieses Verhältnis war denen, die es berechnen wollten, so unerklärlich und unverstehbar, daß man es einfach mit dem griechischen Buchstaben π bezeichnete. Denn π ist keine richtige "Zahl", d.h. kein ganzzahliges Verhältnis, sondern eines, das immer nur angenähert bezeichnet werden kann.
Dreihundert Jahre später untersuchte Archimedes dieses Verhältnis genauer. Und später legte der Renaissancedenker Nikolaus Cusanus dar, warum in diesem Verhältnis das Fundament aller menschlichen Weisheit und Erkenntniskraft zu finden ist. Cusanus zeigte darüber hinaus, daß diese Erkenntniskraft unbegrenzt ist und sogar scheinbar "unendliche" Dinge real und als "Eins" begreifen kann. Thales legte zu all dem den Grundstein, er erkannte als erster: Die menschliche Seele ist unsterblich. Die Untersuchung des Nikolaus Cusanus zeigt, wie weit vorausschauend die Gedanken des Thales über Dreieck und Kreis waren: Nikolaus baute seine Idee der "Quadratur des Kreises" nämlich auf dem gleichseitigen Dreieck als kleinstem Vieleck und dessen Um- und Inkreis auf (mehr dazu in der Geometrieserie "Über die Leidenschaft der Erkenntnis", Neue Solidarität Nr. 8-16/2001.)
Auch Pythagoras, der wie Thales in Milet wohnte und von ihm wohl den Auftrag erhielt, ebenfalls nach Ägypten zu reisen, untersuchte das Dreieck. Das kleinste Vieleck kann nämlich nur unter gewissen Bedingungen gebildet werden: Die Summe von jeweils zwei Seiten muß nämlich immer größer sein als die dritte, d.h. a + b > c, a + c > b sowie b + c > a. Aus den Seiten 3, 2 und 6 kann man z.B. gar kein Dreieck konstruieren. Das kann jeder selber nachvollziehen.
Warum ist aber nun in jedem rechtwinkligen Dreieck a2 + b2 = c2? Bis heute werden neue Beweise für dieses Phänomen, den "Lehrsatz des Pythagoras", gefunden. Doch das "Warum?" ist durch einen Beweis der Tatsache nicht erklärt.
Thales war auch der erste, der sich mit der Sternkunde befaßte, dem Dichter Kallimachos zufolge entdeckte er das kleine Bärengestirn. Eudemos berichtet, daß er zwei Schriften über die Sommersonnwenden und die Tagundnachtgleichen verfaßte. Außerdem teilte er das Jahr in 365 Tage und sagte Sonnenfinsternisse und Wendezeiten voraus. Ja, er fragte als erster überhaupt nach einem einsichtigen Grund für die Sonnenfinsternisse und fand ihn auch: daß dabei der Mond zwischen Sonne und Erde (er sagt "unter" die Sonne) tritt.
Sein Denken ist prometheisch, d.h. er sucht als erster nach für den Menschen einsichtigen und verständlichen Erklärungen der Erscheinungen. Vor ihm waren die Griechen zum Beispiel der Meinung, ein Erdbeben entstünde, wenn Poseidon seinen Dreizack gegen die Erde stößt. Thales entwickelte die Theorie, daß der Untergrund in Bewegung gerät, d.h. das Wasser, das die Erde trägt, wodurch sie ins Schwanken gerät, denn er glaubte, daß die Erde auf dem Wasser schwimme.
Mit Thales verbinden wir das unabhängige Bilden von Ideen und Hypothesen, das auf der menschlichen Erkenntnis der eigenen Geisteskraft beruht. An diese unendliche Kraft des eigenen Denkens und Erforschens aller "Warum?" appelliert Thales, wenn er sagt: "Erkenne Dich selbst".
Caroline Hartmann
Weiterführende Literatur
Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Felix Meiner, Philosophische Bibliothek, Bd. 53/4, Hamburg 1998.
Moritz Cantor, Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik, 4 Bde., Leipzig 1901-13, Nachdruck Sändig, Vaduz 2004.
Zur Übersicht der Ausgrabungen