Auf einer parischen Steinplatte findet sich die Legende über Archilochos eingraviert, der einst im Auftrag seines Vaters eine Kuh zum Markte treibt. Eine Gruppe vorbeikommender Frauen fragt ihn, ob er die Kuh verkaufen wolle. Sie bieten ihm einen wohlfeilen Preis, den er annimmt. Kaum hat er bejaht, sind die Frauen und die Kuh verschwunden, aber zu seinen Füßen liegt eine Lyra. Diese beiden Charakterzüge in sich faßt er zusammen:
Ich aber bin ein Diener des Fürsten Enyalios3
Und versteh' mich auf der Musen anmutige Gabe.4 (Gedicht I)
Archilochos lebt in einer Zeit des Übergangs, einer Epoche politischer wie geistiger Umwälzung. Die alten patriarchalischen und aristokratischen Lebensformen, die den Rahmen der Epik jener Zeit bilden, lösen sich immer weiter auf. In den Handelsstädten kommt der Stand der Händler und Kaufleute hoch, die nach den Privilegien des Adels streben. Der Kampf um die gesellschaftliche Vormacht wird sich noch über mehr als 200 Jahre hinziehen. Reichgewordene Kaufleute und Händler übernehmen als sogenannte Tyrannen die Macht. Es beginnt die Expansion der Griechen nach Unteritalien und Sizilien, zum Schwarzen Meer, nach Ägypten, Spanien und Südfrankreich.
Gegenbewegung zu Homer
Die geographische Erweiterung des Horizonts fördert auch eine Bewußtseinserweiterung der Künstler. Sind bisher die Rhapsoden nur für das "empfänglich" gewesen, was ihnen die Musen eingeben ("Singe mir, Muse ..."), treten mit der neuen Zeit Dichterpersönlichkeiten in den Vordergrund, die Altes ersetzen. Neues bricht sich Bahn, unverstellt und von großer Vielfalt. Während die Epik die Leistungen der Vergangenheit feiert, präsentiert sich die Lyrik eines Archilochos als eine Dichtung der Gegenwart mit seiner nüchternen, unpathetischen Sprache.
Archilochos' Gedichte lehnen das Mythische der Zeit Homers ab, verwerfen das Heroische und geben die beschreibende Form auf. Ihn lassen die Abenteuer und Amouren der Götter im Grunde gleichgültig, aber in XXXVIII (s.o.) zeigt er sich erschüttert, daß das Unmögliche, das Undenkbare (von den Göttern gesteuert) möglich geworden ist, d.h. im "Kosmos"5 gibt es seither keine Berechenbarkeit und keine Zuverlässigkeit mehr, wenn sich alles von zuunterst nach zuoberst verkehren kann. Deshalb ist auch das Verhältnis des Menschen zu den Göttern neu zu bewerten.
Die Unbeständigkeit des menschlichen Lebens ist für Archilochos das Thema in vielen seiner Gedichte. Es ist auch Ausdruck seines eigenen unsteten Lebens, seines eigenen Denkens und Empfindens, die Unsicherheit (als Soldat mal hier, mal dort) ist allgegenwärtig, deshalb sollte man die Dinge so nehmen, wie sie sind, ohne zu resignieren oder gar zu verzweifeln. Denn er hat das Gesetz (s.o. XXXIX) erkannt, unter dem alle Menschen stehen, die Erkenntnis des "Rhythmus" und des "nicht zu sehr". Dieses "nicht zu sehr" hilft den Griechen, sich mit den Grundbedingungen des Lebens abzufinden, genauso wie die klare Erkenntnis einer allgemeinen Gesetzlichkeit des Kosmos, hier des "Rhythmus", des Auf und Ab, das alle Sterblichen trägt. Der Mensch kann sich den Übeln entgegenstellen, indem er das Maß erkennt, die Ordnung, die über dem Dasein waltet. Es gilt, im Triumph nicht zu sehr zu frohlocken, in der Not nicht zu verzweifeln, sondern auszuharren, zu ertragen, durchzustehen.
Nicht nur Heraklit (um 500 v.Chr.) war Homer und Archilochos gegenüber kritisch eingestellt6, aber Archilochos war über Jahrhunderte einem breiteren Publikum bekannt. Er hat u.a. auf Alkaios (ca. 620), Anakreon (580-495) und Simonides (556-468) Einfluß genommen. Mit den Archilochoi widmet ihm der Komödiendichter Kratinos (484-419) ein ganzes Stück, und Platon bezeichnet ihn in der Politeia (365c) sogar als "sophotaton" (den Weisesten). Bei den Römern hat er Lucilius (ca. 180 v.Chr.) und Horaz (65-8 v.Chr.) beeinflußt.
Hartmut Damrau
Anmerkungen
1. Die Numerierung der Gedichte folgt der Reihenfolge der Sammlung Archilochos. Gedichte, hrsg. von Kurt Steinmann, Insel Verlag, Frankfurt-Main/Leipzig, 1998.
2. Alle Gedichte wurden übersetzt von Hartmut Damrau.
3. Enyalios (oder Enyeus) ist als Kriegs- und Schlachtendämon seit der mykenischen Zeit bekannt und wird in der Ilias (7,166; 9,668) mit dem von Thrakien kommenden Ares (Ilias 2,110 "Diener des Ares") verbunden.
4. Diener der Musen und Krieger zu sein, wünscht sich im Homerischen Götterhymnus Apollon (V. 131), der kurz nach seiner Geburt mit seinem "mein sei die Lyra und der gekrümmte Bogen" seine Bestimmung, seinen "Daimon" ausdrückt.
5. Im Altgriechischen steht "Kosmos" für die Ordnung der Welt, dafür, daß alles an seinem rechten Platz ist.
6. "Der werte Homer sollte von den Wettkämpfen ausgeschlossen und ihm eine Ohrfeige gegeben werden, ebenso auch Archilochos." B42, S.16: Heraklit. Fragmente. Griechisch/Deutsch, hrsg. von Bruno Sell, Patmos 2004.
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