S C H I L L E R J A H R

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F R I E D R I C H   S C H I L L E R

Die Schillerfeste 2000:
Mainz-Wiesbaden: Die Gegenwart und die eigene Torheit

Die Dichterpflänzchen boten mit Gedanken und Texten von Mendelssohn, Lessing und Schiller ein ungewöhnliches und für die Zuschauer sehr anregendes Programm.

Die Schillerfeste der Dichterpflänzchen in Mainz und Wiesbaden sind schon zur schönen Tradition geworden, anders kann man sich den regen Zulauf von jeweils 120 Gästen, den die Veranstaltungen dieses Jahr fanden, kaum erklären. Dabei ließ der Titel "Die Bestimmung des Menschen" nun nicht gerade leichte Kost erwarten. Doch offenbar suchen viele Zeitgenossen noch etwas außerhalb des von "Big Brother" und Seifenopern geprägten Fernsehens.

Was ist der Mensch, was soll er sein? Ist er ein etwas kultivierteres Tier oder - ganz zeitgenössisch aktuell - ein hochkomplizierter Computer, dessen Funktionsweise wir lediglich noch nicht richtig verstehen? Solche Fragen wurden an diesem Abend von Philosophen und Dichtern erörtert. Gabriele Liebig, die Verfasserin des Programms, hatte Moses Mendelssohn, Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Schiller zu einer Art Talk-Show eingeladen, bei der sie selbst die Fragen stellte und moderierte. Die Versammlung wurde immer wieder von der "Gegenwart" unterbrochen, die gleich zu Beginn der Runde kundtat, daß sie ganz anderer Meinung sei als das Schiller-Institut, daß alles, was die Dichterpflänzchen präsentierten, viel zu unmodern und langweilig sei. Die Gegenwart, das Hier und Heute zähle, und die wolle sie vertreten. Nun gut; so saß denn auch die Gegenwart mit am Tisch.

Der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn, der Großvater des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy, wurde zu seiner Zeit der "deutsche Sokrates" genannt. Zusammen mit seinem Freund Lessing griff er mächtig in eine damals hitzig geführte Debatte über das Wesen des Menschen ein. Was sollte so einmalig an ihm sein? Wenn er geboren wird, ist er hilfloser und elender als die meisten Tiere. Doch gleich "arbeitet schon die gesamte Natur, ihn vollkommener zu machen", damit er seinen Schöpfer erkenne und strebe, ihm ähnlicher zu werden, meinte Mendelssohn. Dies rief prompt den Protest der Gegenwart hervor. Seele, Religion, Gott, das seien Erfindungen des menschlichen Gehirns, weil wir noch nicht begriffen hätten, wie dieser Computer denn eigentlich funktioniere.

Mit derlei Argumenten der mechanischen Aufklärung habe er sich schon vor 250 Jahren herumgeschlagen, erzählte Lessing, nachdem der Franzose La Mettrie mit seinem Buch L'homme machine, "Der Mensch als Maschine", die Gemüter aufgewühlt hatte. Er sei zu der Einsicht gelangt, daß der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen und deshalb bestimmt sei, seine geistigen Fähigkeiten auszubilden und nach Wahrheit zu suchen. Doch was ist Wahrheit, wie kann man wissen, was wahr ist? Stellt sich die Wahrheit nicht für jeden anders dar? Nicht erst seit der Frankfurter Schule ist die Haltung, es gäbe keine Wahrheit, sondern nur Meinungen, die sich in jedem Kopf anders darstellten, weit verbreitet. Aber wenn es die Wahrheit nicht gibt, warum sollte man dann nach ihr suchen? "Und wer aufhört, nach der Wahrheit zu suchen, der verliert bald alle Kriterien für Gut und Böse. Diese entsetzliche Beliebigkeit ist im Effekt genauso schlimm wie der finsterste Aberglaube", schimpfte Lessing.

Und schon war man mit der nächsten Frage konfrontiert: Was ist Religion? "Gott ist tot!", tönte die Gegenwart. Gott sei lediglich ein Phantasiegebilde der Menschen, was man schon daraus ersehen könne, daß es nicht nur "Gott", sondern auch "Jehova" und "Allah" gebe. Das rief wieder Lessing auf den Plan: Sie sind alle drei Abbild des Einen, wie Nathan in der Ringparabel wunderbar erklärt.

Komödie und Tragödie

Eine Erörterung über Erziehung und die Bedeutung des Theaters schloß sich an. Lessing vertrat lebhaft die Meinung, die Bestimmung der Tragödie sei, "unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, (zu) erweitern". Und das nicht nur in einem konkreten Fall, sondern "sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß." Der mitleidigste Mensch sei der beste Mensch, weil er großmütig sei.

Natürlich war das der Gegenwart viel zu "anstrengend"; Tragödie sei "out", Unterhaltung sei gefragt. Das Theater solle erfreuen und unsere Seele erweitern, schaltete sich der Dramatiker Schiller ein. Auf der Bühne sehen wir Menschen agieren, Menschen mit ihren Fehlern und Schwächen, geradeso wie wir selber sind. Hier können wir über unsere Schrullen lachen und über unsere Fehler urteilen, ohne daß wir uns direkt angegriffen fühlen müssen. So werden wir gebessert, ohne belehrt zu werden. Und selbst wenn wir nicht gebessert werden, so werden wir wenigstens mit uns selber besser bekannt gemacht. In der Tragödie lernen wir fremde Schicksale kennen und sehen, wie der jeweilige Held daran zerbricht oder an seinem Unglück wächst.

Lessings Biographie ist ein solches Beispiel. Erst spät hatte er in Eva König sein Lebensglück kennengelernt, dann dauerte es Jahre, bis die vielen Widrigkeiten, die eine Heirat immer wieder hinausschoben, überwunden waren. Schließlich heirateten sie, doch das Glück währte nur ein Jahr. Eva König starb an den Folgen der Geburt des ersten Sohnes, dem nur einen Tag zu leben vergönnt war. Die beiden Briefe, die Lessing an seinen Freund Eschenburg schrieb, erschüttern zutiefst. Wenn man bedenkt, daß er nach diesem Schicksalsschlag sein größtes Schauspiel Nathan der Weise schrieb, das ein Appell für Mitmenschlichkeit und Toleranz darstellt, ist man sprachlos. In der großen Szene zwischen Nathan und dem Klosterbruder, in der Nathan erzählt, wie die Christen seine Frau und seine sieben Söhne ermordeten und wie er kurze Zeit später das Waisenkind Recha bekam, verarbeitet er sein hartes Schicksal. Er nimmt es als von Gott gegeben an und wächst damit über sich selbst hinaus.

Dies war der Höhepunkt des Programms, und selbst die Gegenwart mußte zugeben, daß Lessing wohl "doch so etwas wie eine Seele" gehabt haben müsse. Wenn man der Ansicht ist, daß das Leben nur Spaß machen sollte, dann wird einen solch ein Schicksalsschlag vernichten, das war jedem im Publikum so klar wie der Gegenwart. Das ist einer jener Momente, wo "uns das Schicksal erhebt, wenn uns das Schicksal zermalmt". "Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen", sagte Schiller, wir sollen uns dem Vollkommenen immer ähnlicher machen. Und das Unvermeidliche, das wir nun einmal wegen der Natur der Sache nicht ändern können, annehmen.

Ein Bedürfnis der Zeit

Mit Auszügen aus Schillers Gedicht Die Künstler wurden die großen Themen, die am runden Tisch philosophisch erörtert worden waren, noch einmal in Versen behandelt und auf eine höhere Ebene gehoben. Denn Wissenschaft, Religion und Philosophie setzen jeweils nur bestimmte Anlagen in uns in Tätigkeit, wohingegen die schöne Kunst den ganzen Menschen erfaßt und bewegt. Gedichte und Fabeln von Lessing und Schiller, die zwischen die philosophischen Diskurse gestreut waren, taten das gleiche: Sie spiegelten das soeben Gehörte oder führten das Gesagte weiter aus; gleichzeitig gewährten sie dem Zuhörer eine kleine Pause, Atem zu schöpfen und sich neu zu sammeln. Sechs Lieder von Beethoven, die von Sängern, welche von der Lohmann-Stiftung gefördert werden, vorgetragen wurden, rundeten das Programm ab und machten es zu einem äußerst erhebenden und erhellenden Abend.

Das Publikum war begeistert. Offenbar ist die Erörterung solcher Sinnfragen ein dringendes Bedürfnis unserer Zeit. Einige waren ausgesprochen dankbar für den Rückhalt und die Bestätigung, die sie an diesem Abend fanden. Die Einsprüche der Gegenwart gegen den hohen Anspruch der Ideen drückten aus, was wohl so mancher in diesem Augenblick gedacht haben wird. Die unmittelbaren Reaktionen zeigten das überdeutlich. Man war dankbar, daß ein anderer sich exponierte, und indem man über die Gegenwart lachte, lachte man gleichzeitig über seine eigene Torheit.

Rosa Tennenbaum