S C H I L L E R J A H R

2 0 0 5

F R I E D R I C H   S C H I L L E R

Die Schillerfeste 1997:
Alt-Mölln: "Nehmt hin die Welt..."

Wiesbaden: Einblick in die Dichterwerkstatt
Wiesbaden: Einblick in die Dichterwerkstatt

Die Dichterpflänzchen feierten den 238. Geburtstag des großen Dichters mit einem Programm über das berühmte "Balladenjahr 1797".

150 Gäste ließen sich am 8. November 1997 im Biebricher Schloß in Wiesbaden von dem Programm der Dichterpflänzchen, das dieses Mal der 200. Wiederkehr des Balladenjahres gewidmet war, zu einer lyrischen Zeitreise entführen. Dabei wurden nicht nur zehn von den elf großen Balladen, die Schiller und Goethe in diesem Jahr schrieben, vorgetragen, sondern auch aus dem Briefwechsel zwischen den beiden und deren engstem Umkreis gelesen, worin man verfolgen kann, wie die Gedichte entstanden sind und wie sie von den Zeitgenossen aufgenommen wurden. So lernt man die Gedichte, die man nur als vollkommenes Kunstwerk sieht, in ihrem Entstehungsprozeß kennen, kann verfolgen, wie die beiden Künstler um die reine Idee, den schönsten Ausdruck, die vollkommene Form gerungen haben. Dadurch werden sie einem noch wertvoller.

Zu diesem Zweck ließen die Dichterpflänzchen Schiller und Goethe wiederauferstehen. Die beiden Dichterfürsten führten ihre Diskurse aktuell im Biebricher Schloß, hin und wieder griffen Wilhelm von Humboldt und Christian Gottfried Körner, zwei enge Freunde Schillers, in diese Diskussion ein. Dadurch entstand ein lebendiges Bild nicht nur der Balladen, sondern man lernte gleichzeitig die vier Briefeschreiber näher kennen und erhielt überdies einen Einblick in diese Zeitepoche. Die zahlreichen Balladen, die in diesem Jahr entstanden sind, waren ein Ergebnis einer ausführlichen Debatte über Inhalt und Form, die die beiden Dichter seit geraumer Zeit führten, denn hier gesellen sich dramatische, epische und lyrische Elemente zusammen.

Die beiden Dichterfreunde befanden sich bald in einem regelrechten Wettstreit: Zwischen Ende Mai und August 1797 dichteten Goethe fünf und Schiller gar sechs große Balladen. Goethe hatte mit dem Schatzgräber den Anfang gemacht. Schiller erkannte sofort die autobiographischen Züge dieses Gedichts: "Übrigens belustigt es mich, diesem kleinen Stücke die Geistesatmosphäre anzumerken, in der Sie gerade leben mochten, denn es ist ordentlich recht sentimentalisch schön!" Goethe hatte sich ein Los bei der Hamburger Lotterie bestellt und sich Hoffnungen auf den Hauptgewinn, einen schlesischen Gutshof, gemacht. Doch er gelangte schnell zu der Einsicht, daß das ein nutzloses Vorhaben war. Die Vernunft, in dem Gedicht von einem schönen Knaben, der eine volle Schale trägt, dargestellt, kehrt zurück und bringt den Schatzgräber von seinem törichten Aberglauben ab.

Goethe schreibt nun binnen zwei Wochen die Legende, Die Braut von Korinth und Der Gott und die Bajadere, Schiller dichtet die große Ballade Der Taucher. Humboldt lobt in einem Brief an Schiller vom 9. Juli die gesamte Komposition als "überaus rührend" und merkt dann kritisch an: "Da alle Schilderungen in Ihrem Taucher eine so große Wahrheit haben, so wollte ich, daß Sie die Molche und Salamander aus dem Grunde des Meers wegbrächten. Sie sind zwar Amphibien, wohnen indes nie in der Tiefe und mehr nur in Sümpfen. Mit den Drachen kann man schon liberaler umgehn, da sie mehr ein Geschöpf der Fabel und der Phantasie sind."

Schiller konnte rasch darauf sein "kleines Nachstück zum Taucher", den Handschuh, der interessierten Öffentlichkeit präsentieren, die bereits auf die Balladen aufmerksam geworden war. Die literarische Welt, die auf die beiden Dichter spätestens seit den Xenien nicht mehr gut zu sprechen war, munkelte oder besser hoffte auf einen regelrechten Wettkampf, bei dem der eine den anderen auszustechen versuche. Ihre Hoffnungen wurden enttäuscht. Schiller und Goethe standen nicht in Konkurrenz, sondern in fruchtbarer Wechselbeziehung, die beide zu neuen Werken beflügelte. Goethe schätzte Schillers Balladen sehr hoch, und er verteidigte sie gegen jegliche Kritik, auch gegenüber Schiller selbst. So schreibt er z.B. an Körner am 20. Juli:

    "Sie haben durch Schillern erfahren, daß wir uns im Balladenwesen und Unwesen herumtreiben. Die seinigen sind ihm, wie Sie schon wissen, sehr geglückt; ich wünsche, daß die meinigen einigermaßen darneben stehen dürfen: er ist zu dieser Dichtart in jedem Sinne mehr berufen als ich."

Den Höhepunkt des Programms bildete die wunderbare Ballade Die Kraniche des Ibykus, die Schiller Mitte August fertigstellte. Da sich Goethe auf Reisen befand, wird dieses Gedicht ausschließlich im Briefwechsel diskutiert. Hier kann man den Dichtern in die Werkstatt sehen, kann den Entstehungsprozeß der Ballade verfolgen, beobachten, wie das Werk entstand, durch die Kritik des anderen verbessert wurde und langsam seine endgültige Gestalt annahm. Gleichzeitig ist die Diskussion um diese Ballade ein gutes Beispiel dafür, wie die beiden Dichter zusammenarbeiteten, wie eng und wie überaus fruchtbar ihr Bund war. Am 17. August schickt Schiller die Kraniche an Goethe. Dieser antwortet umgehend und gibt eine Reihe detaillierte Vorschläge, wie die Komposition verändert werden sollte, um die Wirkung auf den Zuhörer zu steigern (Brief vom 22. bis 24. August):

    "Die Kraniche des Ibykus finde ich sehr gut geraten, der Übergang zum Theater ist sehr schön, und das Chor der Eumeniden am rechten Platze... Nun auch einige Bemerkungen: 1.) der Kraniche sollten, als Zugvögel, ein ganzer Schwarm sein, die sowohl über den Ibykus als über das Theater wegfliegen, sie kommen als Naturphänomene und stellen sich so neben die Sonne und andere regelmäßige Erscheinungen. Auch wird das Wunderbare dadurch weggenommen, indem es nicht eben dieselben zu sein brauchen, es ist vielleicht nur eine Abteilung des großen, wandernden Heeres und das Zufällige macht eigentlich, wie mich dünkt, das Ahndungsvolle und Sonderbare in der Geschichte. 2.) Dann würde ich nach dem 14. Verse, wo die Erinnyen sich zurückgezogen haben, noch einen Vers einrücken, um die Gemütsstimmung des Volkes, in welche der Inhalt des Chors sie versetzt, darzustellen und von den ernsten Betrachtungen der Guten, zu der gleichzeitigen Zerstreuung der Ruchlosen übergehen, und dann den Mörder zwar dumm, roh und laut, aber doch nur dem Kreise der Nachbarn vernehmlich, seine gaffende Bemerkung ausrufen lassen, daraus entständen zwischen ihm und den nächsten Zuschauern Händel, dadurch würde das Volk aufmerksam usw. Auf diesem Weg, so wie durch den Zug der Kraniche, würde alles ganz ins Natürliche gespielt und nach meiner Empfindung die Wirkung erhöht, da jetzt der 15. Vers zu laut und bedeutend anfängt und man fast etwas anderes erwartet. Wenn Sie hie und da an den Reim noch einige Sorgfalt wenden, so wird das übrige leicht getan sein. Und ich wünsche Ihnen auch zu dieser wohlgeratnen Arbeit Glück.

    Frankfurt, den 23. August
       Zu dem, was ich gestern über die Ballade gesagt, muß ich noch heute etwas zu mehrerer Deutlichkeit hinzufügen: Ich wünschte, da Ihnen die Mitte so sehr gelungen, daß Sie auch noch an die Exposition einige Verse wendeten, da das Gedicht ohnehin nicht lang ist. Meo voto würden die Kraniche schon von dem wandernden Ibykus erblickt, sich als Reisenden, verglich er mit den reisenden Vögeln, sich als Gast, mit den Gästen, zöge daraus eine gute Vorbedeutung. Und rief alsdann unter den Händen der Mörder die schon bekannten Kraniche, seine Reisegefährten, als Zeugen an. Ja, wenn man es vorteilhaft fände, so könnte er diese Züge schon bei der Schiffahrt gesehen haben. Sie sehen, was ich gestern schon sagte, daß es mir darum zu tun ist, aus diesen Kranichen ein langes und breites Phänomen zu machen, welches sich wieder mit dem langen verstrickenden Faden der Eumeniden, nach meiner Vorstellung, gut verbinden würde. Was den Schluß betrifft, habe ich gestern schon meine Meinung gesagt."

Schiller ist dankbar für diese Anregungen; er greift sie sofort auf und gibt dem Gedicht die Gestalt, die wir heute kennen. Er schickt die veränderte Ballade mit einem Brief, der auf den 7. und 8. September datiert ist, an Goethe:

"Mit dem Ibykus habe ich nach Ihrem Rat wesentliche Veränderungen vorgenommen, die Exposition ist nicht mehr so dürftig, der Held der Ballade interessiert mehr, die Kraniche füllen die Einbildungskraft auch mehr und bemächtigen sich der Aufmerksamkeit genug, um bei ihrer letzten Erscheinung, durch das Vorhergehende, nicht in Vergessenheit gebracht zu sein." Nur Goethes Vorschlag, den Ausruf der Mörder im Theater sich langsam unter dem Publikum verbreiten zu lassen, entspricht er nicht und erklärt Goethe ausführlich, warum er sich anders entscheiden mußte.

Diese herrliche Ballade fand den ungeteilten Beifall des Publikums. Auch Humboldt, der sich in der griechischen Antike ausgesprochen heimisch fühlte, war von den Kranichen begeistert. Er rühmt besonders den Eumenidenchor und die herrliche Sprache und gesteht: "Bei diesem Chor eigentlich noch mehr und noch etwas Höheres gefühlt zu haben, als bei dem Griechischen des Aischylos, so nah Sie auch diesem geblieben sind."

So ging es auch dem Publikum bei der Schillerfeier. Diese herrlichen Balladen haben in den 200 Jahren nichts von ihrer Wirkung eingebüßt, im Gegenteil. Sie sprechen uns ebenso unmittelbar an wie zur Zeit ihrer Entstehung, rühren wahr und tief. So wurde denn auch am Ende des Programms die Hoffnung geäußert, daß wenn es - in hoffentlich nicht mehr allzu ferner Zukunft - wieder große Dichter von dem Format eines Schiller oder Goethe geben wird, sie auf diese Balladen des Balladenjahres zurückgreifen werden, wie Schiller und Goethe auf die griechische Klassik zurückgegriffen haben.

rtb