Programm zu Schillers Geburtstag 1999

Wie groß wird da der Mensch, wie klein das Schicksal!

Wie jedes Jahr laden wir Sie herzlich dazu ein, mit uns den Geburtstag unseres großen Dichters Friedrich Schiller zu feiern. Diejenigen, die uns schon länger kennen, wissen, daß wir seit über einem Jahrzehnt die Tradition der Schillerfeiern aus dem letzten Jahrhundert fortführen. Im Jahre 1859 waren die Feiern zum Geburtstag des deutschen "Freiheitsdichters" die ersten öffentlichen politischen Veranstaltungen, die nach der gescheiterten Revolution von 1848 stattfanden.

Die Dichterpflänzchen haben im letzten Jahr unter dem Titel "Friede sei ihr erst Geläute" Schillers Gedicht "Das Lied von der Glocke" vorgestellt. Im Jahr davor hieß unser Programm "Dieses ist nun einmal das Balladenjahr"; es zeigte, wie Schiller und Goethe in freundschaftlichem Wettstreit die schönsten deutschen Balladen schufen.

Unser heutiges Programm heißt "Wie groß wird da der Mensch, wie klein das Schicksal!" Wir werden darin versuchen, Ihnen Schillers gerade für die heutige Zeit so wichtiges Menschenbild vorzustellen und - wenn Sie dafür offen sind - es auch in Ihrem Herzen einzupflanzen.

Friedrich Schiller wurde vor 240 Jahren geboren, und es wird seine letzte Geburtstagsfeier in diesem Jahrhundert sein, welches sogar ein ganzes Jahrtausend abschließt. Was Schiller anläßlich des Wechsels zum19. Jahrhundert - also vor 200 Jahren - sagte, gilt auch heute noch.

Der Antritt des neuen Jahrhunderts

Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden,
Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?
Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,
Und das neue öffnet sich mit Mord.
 
Und das Band der Länder ist gehoben,
Und die alten Formen stürzen ein;
Nicht das Weltmeer hemmt des Krieges Toben,
Nicht der Nilgott und der alte Rhein.
 
Zwo gewalt'ge Nationen ringen
Um der Welt alleinigen Besitz,
Aller Länder Freiheit zu verschlingen
Schwingen sie den Dreizack und den Blitz.
 
Gold muß ihnen jede Landschaft wägen,
Und wie Brennus in der rohen Zeit
Legt der Franke seinen ehrnen Degen
In die Waage der Gerechtigkeit.
 
Seine Handelsflotte streckt der Brite
Gierig wie Polypenarme aus,
Und das Reich der freien Amphitrite
Will er schließen wie sein eignes Haus.
 
Zu des Südpols nie erblickten Sternen
Dringt sein rastlos ungehemmter Lauf,
Alle Inseln spürt er, alle fernen
Küsten - nur das Paradies nicht auf.
 
Ach, umsonst auf allen Länderkarten
Spähst du nach dem seligen Gebiet,
Wo der Freiheit ewig grüner Garten,
Wo der Menschheit schöne Jugend blüht.
 
Endlos liegt die Welt vor deinen Blicken,
Und die Schiffahrt selbst ermißt sie kaum,
Doch auf ihrem unermeßnen Rücken
Ist für zehen Glückliche nicht Raum.
 
In des Herzens heilig stille Räume
Mußt du fliehen aus des Lebens Drang,
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,
Und das Schöne blüht nur im Gesang.

 

Hoffnung

Es reden und träumen die Menschen viel
Von bessern künftigen Tagen,
Nach einem glücklichen goldenen Ziel
Sieht man sie rennen und jagen,
Die Welt wird alt und wird wieder jung,
Doch der Mensch hofft immer Verbesserung!
 
Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,
Sie umflattert den fröhlichen Knaben,
Den Jüngling lockt ihr Zauberschein,
Sie wird mit dem Greis nicht begraben,
Denn beschließt er im Grabe den müden Lauf,
Noch am Grabe pflanzt er - die Hoffnung auf.
 
Es ist kein leerer schmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirn des Toren.
Im Herzen kündet es laut sich an,
Zu was Besserm sind wir geboren!
Und was die innere Stimme spricht,
Das täuscht die hoffende Seele nicht.

 

Wir leben in einer stürmischen Zeit. Und in stürmischen Zeiten braucht man Orientierung. Da ist es ganz natürlich, daß man nach einem Leuchtturm Ausschau hält, nach jemandem, der ist wie Friedrich Schiller.

Welche gewalttätigen Vorgänge haben wir in diesem Jahrhundert erlebt und was steht uns noch bevor? Zwei Weltkriege liegen hinter uns, und auch das neue Jahrtausend "öffnet sich mit Mord". Im Balkan ist der Krieg wieder direkt vor unsere Haustüre gerückt. Vor zehn Jahren gab uns die "friedliche Revolution" die Hoffnung auf eine historische Chance für Europa und darauf, daß mit dem Ende des "kalten Krieges" die Atomkriegsgefahr endlich gebannt sei. Und heute? Statt blühender Länder in Osteuropa greift wirtschaftliches und politisches Chaos um sich. Rußland ist eine in ihrer Existenz gefährlich bedrohte Atommacht. Neue Konflikte entstehen: Asien, Lateinamerika, Afrika versinken in wirtschaftlicher Not, Krieg und Seuchen. Und unsere wirtschaftliche Sicherheit? Hier Schuldenberge, die selbst mit eiserner Sparen nie mehr abgebaut werden können, rückläufige Güterproduktion, weniger Arbeitsplätze, Kürzung von Sozialleistungenen und Renten, dort Globalisierung, Spekulation und Kursfeuerwerke an den Aktienbörsen. Das Weltfinanzsystem ist außer Kontrolle geratenen. Wie viele Menschen fühlen sich klein und haben Angst vor der Zukunft und einem schlimmen Schicksal, dem sie sich aufgeliefert fühlen.

Deshalb Schiller! Er war vor allem eines: Er war groß! Sein Freund Goethe sagt es so treffend: "Er glänzt uns vor, wie ein Komet entschwindend, / Unendlich Licht mit seinem Licht verbindend." Dieses Licht suchen wir, so "bleibt er unser", und so können wir in stürmischer Zeit genau wie Schiller groß und liebevoll handeln.

Schiller bezeichnete das nun folgende Gedicht als "Schnurre", es macht sich über die Habgier der Welt, aber auch über den Dichter lustig, der nicht nur in höheren Sphären schweben darf, sondern mit beiden Beinen auf der Erde stehen muß.

 

Die Teilung der Erde

Nehmt hin die Welt! Rief Zeus von seinen Höhen
Den Menschen zu; nehmt, sie soll euer sein.
Euch schenk' ich sie zum Erb' und ew'gen Lehen;
Doch teilt euch brüderlich darein.
 
Da eilt, was Hände hat, sich einzurichten,
Es regte sich geschäftig jung und alt.
Der Ackermann griff nach des Feldes Früchten,
Der Junker birschte durch den Wald.
 
Der Kaufmann nimmt, was seine Speicher fassen,
Der Abt wählt sich den edlen Firnewein,
Der König sperrt die Brücken und die Straßen
Und sprach: der Zehente ist mein.
 
Ganz spät, nachdem die Teilung längst geschehen,
Naht der Poet, er kam aus weiter Fern';
Ach, da war überall nichts mehr zu sehen,
Und alles hatte seinen Herrn.
 
Weh mir! So soll denn ich allein von allen
Vergessen sein, ich, dein getreuster Sohn?
So ließ er laut der Klage Ruf erschallen
Und warf sich hin vor Jovis Thron.
 
Wenn du im Land der Träume dich verweilet,
Versetzt der Gott, so hadre nicht mit mir.
Wo warst du denn, als man die Welt geteilet?
Ich war, sprach der Poet, bei dir.
 
Mein Auge hing an deinem Angesichte,
An deines Himmels Harmonie mein Ohr;
Verzeih dem Geiste, der, von deinem Lichte
Berauscht, das Irdische verlor!
 
Was tun? Spricht Zeus, - die Welt ist weggegeben,
Der Herbst, die Jagd, der Markt ist nicht mehr mein.
Willst du in meinem Himmel mit mir leben,
So oft du kommst, er soll dir offen sein.

 

Für Schiller war Kunst kein Selbstzweck, und schon gar nicht reine Unterhaltung. Nein, nur durch die Kunst kann der Mensch lernen, sein Schicksal zu meistern, und nur Kunst, die das auch wirklich zu leisten vermag, verdient diesen Namen. Er schrieb den Künstlern deshalb ins Stammbuch: "Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, / Bewahret Sie! / Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!"

Das größte Kunstwerk ist für Schiller die Errichtung des freien Staates. Und er sagte, er sehe sich "durch die Zeitumstände nachdrücklich aufgefordert.., sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen". An dieser Aufgabe mißt er die schönen Künste. Das ist das Thema des folgenden Gedichts, worin Schiller auf eine Episode aus der Odyssee anspielt:

 
Shakespeares Schatten

Dichter:
Endlich erblickt' ich auch die hohe Kraft des Herakles,
Seinen Schatten. Er selbst, leider, war nicht mehr zu sehn.
Ringsum schrie, wie Vögelgeschrei, das Geschrei der Tragöden
Und das Hundegebell der Dramaturgen um ihn.
Schauerlich stand das Ungethüm da. Gespannt war der Bogen,
Und der Pfeil auf der Sehn' traf noch beständig das Herz.
Schatten:
"Welche noch kühnere That, Unglücklicher, wagest du jetzo,
Zu den Verstorbenen selbst niederzusteigen ins Grab!" -
Dichter:
Wegen Tiresias' mußt' ich herab, den Seher zu fragen,
Wo ich den alten Kothurn fände, der nicht mehr zu sehn.
Schatten:
"Glauben sie nicht der Natur und den alten Griechen, so holst du
Eine Dramaturgie ihnen vergeblich herauf." -
Dichter:
O, die Natur, die zeigt auf unsern Bühnen sich wieder,
Splitternackend, daß man jegliche Rippe ihr zählt.
Schatten:
"Wie? So ist wirklich bei euch der alte Kothurnus zu sehen,
Den zu holen ich selbst stieg in des Tartarus Nacht?" -
Dichter:
Nichts mehr von diesem tragischen Spuk. Kaum einmal im Jahre
Geht dein geharnischter Geist über die Bretter hinweg.
Schatten:
"Auch gut! Philosophie hat eure Gefühle geläutert,
Und vor dem heitern Humor fliehet der schwarze Affect."
Dichter:
Ja, ein derber und trockener Spaß, nichts geht uns darüber;
Aber der Jammer auch, wenn er nur naß ist, gefällt.
Schatten:
"Also sieht man bei euch den leichten Tanz der Thalia
Neben dem ernsten Gang, welchen Melpomene geht?"
Dichter:
Keines von Beiden! Uns kann nur das Christlich-Moralische rühren
Und was recht populär, häuslich und bürgerlich ist.
Schatten:
"Was? Es dürfte kein Cäsar auf euren Bühnen sich zeigen,
Kein Achill, kein Orest, keine Andromacha mehr?" -
Dichter:
Nichts! Man sieht bei uns nur Pfarrer, Commerzienräthe,
Fähndriche, Secretärs oder Husarenmajors.
Schatten:
"Aber, ich bitte dich, Freund, was kann denn dieser Misere
Großes begegnen, was kann Großes denn durch sie geschehn?" -
Dichter:
Was? Sie machen Kabale, sie leihen auf Pfänder, sie stecken
Silberne Löffel ein, wagen den Pranger und mehr.
Schatten:
"Woher nehmt ihr dann aber das große, gigantische Schicksal,
Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt?" -
Dichter:
Das sind Grillen! Uns selbst und unsre guten Bekannten,
Unsern Jammer und Noth suchen und finden wir hier.
Schatten:
"Aber das habt ihr ja alles bequemer und besser zu Hause;
Warum entfliehet ihr euch, wenn ihr euch selber nur sucht?" -
Dichter:
Nimm's nicht übel, mein Heros, das ist ein verschiedener Casus:
Das Geschick, das ist blind, und der Poet ist gerecht.
Schatten:
"Also eure Natur, die erbärmlichste, trifft man auf euren
Bühnen, die große nur nicht, nicht die unendliche an?"
Dichter:
Der Poet ist der Wirth und der letzte Actus die Zeche;
Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.

 
Diese "Parodie" auf den Zustand der Kunst trifft für heute mindestens genauso gut wie zu Schillers Zeit. Wie banal ist doch die Talkshow und die TV-Serie, die Sie erst kürzlich sahen. Wie klein und verroht das Theaterstück, welches Sie zuletzt konsumierten. Nicht wahre Kunst, sondern bloße Unterhaltung ist heute die Maxime - Unterhaltung, die wie eine Droge die rauhe Wirklichkeit vergessen machen soll.

Das Gedicht ist jedoch nicht nur eine Kritik an dem bedauerlichen Zustand der heutigen Kunst, sondern es lenkt den Blick auf das wesentliche aller großen tragischen Dichtung. Sie braucht "das große, gigantische Schicksal, / Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt"! Diese wahre Kunst unterhält den Menschen nicht nur, sondern sie verändert, sie veredelt ihn.

"Denn nur der große Gegenstand vermag / Den tiefen Grund der Menschheit aufzuregen; / Im engen Kreis verengert sich der Sinn, / Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken." So sagt Schiller in seinem Prolog zu Wallenstein und vom Theater fordert er, daß es "unsere Seele" mit "herrlichen Empfindungen, Entschlüssen, Leidenschaften schwellt" und uns "göttliche Ideale... zur Nacheiferung ausstellt...: Wie groß wird da der Mensch, wie klein und verächtlich das gefürchtete und unüberwindliche Schicksal!"

Schiller möchte, daß jeder wie ein freier König sei. Aber wie ist das möglich? Das darf doch nicht nur eine schöne Idee bleiben! Wie kann das in der Gesellschaft verwirklicht werden? Dieser Frage wollen wir heute mit Schillers Hilfe nachgehen.

 

Aus Schillers Dissertation: "Philosophie der Physiologie"

§ 1 Bestimmung des Menschen

Soviel wird, denke ich, einmal fest genug erwiesen sein, daß das Universum das Werk eines unendlichen Verstandes sei und entworfen nach einem trefflichen Plane. So wie es jetzt... aus dem Entwurfe zur Wirklichkeit hinrann, und alle Kräfte wirken, und ineinander wirken, gleich Saiten eines Instruments tausendstimmig zusammenlaufend in eine Melodie: so soll der Geist des Menschen, mit Kräften der Gottheit geadelt, aus den einzelnen Wirkungen Ursachen und Absichten, aus dem Zusammenhang der Ursachen und Absichten all den großen Plan des Ganzen entdecken, aus dem Plan den Schöpfer erkennen, ihn lieben, ihn verherrlichen, oder kürzer, erhabner klingend in unseren Ohren: der Mensch ist da, daß er nachringe der Größe seines Schöpfers, mit ebendem Blick umfassend die Welt, wie der Schöpfer sie umfaßt - Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen. Unendlich zwar ist dies Ideal: aber der Geist ist ewig. Ewigkeit ist das Maß der Unendlichkeit, das heißt, er wird ewig wachsen, aber es niemals erreichen.

Eine Seele,... die bis zu dem Grad erleuchtet ist, daß sie den Plan der göttlichen Vorsehung im ganzen vor Augen hat, ist die glücklichste Seele. Ein ewiges, ein großes, schönes Gesetz hat Vollkommenheit an Vergnügen, Mißvergnügen an Unvollkommenheit gebunden...

Aber ein ebenso schönes Gesetz, Nebenzweig des ersten, hat die Vollkommenheit des Ganzen mit der Glückseligkeit des Einzelnen, Menschen mit Menschen, ja Menschen mit Tieren durch die Bande der allgemeinen Liebe verbunden. Liebe also, der schönste, edelste Trieb in der menschlichen Seele, die große Kette der empfindenden Natur, ist nichts anders, als die Verwechslung meiner selbst mit dem Wesen des Nebenmenschen.

 
Als Schiller das schrieb, war er 19 Jahre jung. Dieser Grundidee seiner Weltanschauung ist er bis zum Ende seines viel zu kurzen Lebens treu geblieben: "Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen!" Und die Liebe zum Nächsten und der Natur ist es, die ihn auf diesem Weg zur Gottgleichheit leitet.

 

Aus Schillers "Philosophische Briefe"

Wenn ich hasse, so nehme ich mir etwas, wenn ich liebe, so werde ich um das reicher, was ich liebe. Verzeihung ist das Wiederfinden eines veräußerten Eigentums - Menschenhaß ein verlängerter Selbstmord; Egoismus die höchste Armut eines erschaffenen Wesens...

Es gibt Augenblicke im Leben, wo wir aufgelegt sind, jede Blume und jedes entlegene Gestirn, jeden Wurm und jeden geahndeten höheren Geist an den Busen zu drücken... Der Mensch, der es so weit gebracht hat, alle Schönheit, Größe, Vortrefflichkeit im Kleinen und Großen der Natur aufzulesen, und zu dieser Mannigfaltigkeit die große Einheit zu finden, ist der Gottheit schon viel näher gerückt. Die ganze Schöpfung zerfließt in seine Persönlichkeit. Wenn jeder Mensch alle Menschen liebte, so besäße jeder Einzelne die Welt.

Die Philosophie unsrer Zeiten - ich fürchte es- widerspricht dieser Lehre. Viele unserer denkenden Köpfe haben es sich angelegen sein lassen, diesen himmlischen Trieb aus der menschlichen Seele hinweg zu spotten, das Gepräge der Gottheit zu verwischen, und diese Energie, diesen edeln Enthusiasmus im kalten tödlichen Hauch einer kleinmütigen Indifferenz aufzulösen....

Aus einem dürftigen Egoismus haben sie ihre trostlose Lehre gesponnen, und ihre eigene Beschränktheit zum Maßstab des Schöpfers gemacht...

Aber Egoismus und Liebe scheiden die Menschheit in zwei höchst unähnliche Geschlechter, deren Grenzen nie ineinander fließen. Egoismus errichtet seinen Mittelpunkt in sich selber; Liebe pflanzt ihn außerhalb ihrer in die Achse des ewigen Ganzen. Liebe zielt nach Einheit, Egoismus ist Einsamkeit. Liebe ist die mitherrschende Bürgerin eines blühenden Freistaats, Egoismus ein Despot in einer verwüsteten Schöpfung.

 

Wie verwüstet ist doch die Seelenlandschaft unserer heutigen Gesellschaft. Fast überall Eigenliebe und Zynismus, fast nirgends wirkliche Lebensfreude. Immer nur "Spaß haben", aber nichts von der aus Menschenliebe und schöpferischem Schwung entspringenden Freude, die Schiller in seiner Ode "An die Freude" feiert und die Beethoven so herrlich vertont hat. Und dabei ist es doch für jeden Menschen so einfach, aus dieser Wüste des Hasses und der Selbstsucht zu entkommen. Jeder kann "die Angst des Irdischen von sich zu werfen," und aus diesem "engen dumpfen Leben entfliehen." Keiner braucht auf staatliche Verordnungen oder Anreize zum besseren Menschsein zu warten. Jeder kann sofort damit beginnen, das zu sein, was Schiller eine "schöne Seele" nennt.

 

Der Abschluß eines Briefes von Friedrich Schiller an Christian Körner

Ich will... Dir... Eine Geschichte erzählen.

"Ein Mensch ist unter Räuber gefallen, die ihn nackend ausgezogen und bei einer strengen Kälte auf die Straße geworfen haben.

Ein Reisender kommt an ihm vorbei; dem klagt er seinen Zustand und fleht ihn um Hilfe. Ich leide mit Dir, ruft dieser gerührt aus, und gern will ich Dir geben, was ich habe. Nur fordere keine anderen Dienste, denn Dein Anblick greift mich an. Dort kommen Menschen, gib ihnen diese Geldbörse, und sie werden Dir Hilfe schaffen.

- Gut gemeint, sagte der Verwundete, aber man muß auch das Leiden sehen können, wenn die Menschenpflicht es fordert. Der Griff in Deinen Beutel ist nicht halb so viel werth, als eine kleine Gewalt über Deine weichlichen Sinne."

Was war diese Handlung? Weder nützlich, noch moralisch, noch großmütig, noch schön. Sie war bloß passioniert, gutherzig aus Affect.

"Ein zweiter Reisender erscheint, der Verwundete erneuert seine Bitte. Diesem zweiten ist sein Geld lieb, und doch möchte er gern seine Menschenpflicht erfüllen. Ich versäume den Gewinn eines Guldens, sagt er, wenn ich die Zeit mit Dir verliere. Willst Du soviel, als ich versäume, von Deinem Gelde geben, so lade ich dich auf meine Schultern und bringe Dich in einem Kloster unter, das nur eine Stunde von hier entfernt liegt.

- Eine kluge Auskunft, versetzt der Andre. Aber man muß bekennen, daß Deine Dienstfertigkeit Dir nicht hoch zu stehen kommt. Ich sehe dort einen Reiter kommen, der mir die Hilfe umsonst leisten wird, die Dir nur um einen Gulden feil ist."

Was war nun diese Handlung? Weder gutherzig, noch pflichtmäßig, noch großmütig, noch schön. Sie war bloß nützlich.

"Der dritte Reisende steht bei dem Verwundeten still, und läßt sich die Erzählung seines Unglücks wiederholen. Nachdenkend und mit sich selbst kämpfend steht er da, nachdem der Andere ausgeredet hat. Es wird mir schwer werden, sagt er endlich, mich von dem Mantel zu trennen, der meinem kranken Körper der einzige Schutz ist, und Dir mein Pferd zu überlassen, da meine Kräfte erschöpft sind. Aber die Pflicht gebietet mir, Dir zu dienen. Besteige also mein Pferd, und hülle Dich in meinen Mantel, so will ich Dich hinführen, wo Dir geholfen werden kann.

-- Dank Dir, braver Mann, für Deine redliche Meinung, erwiderte jener, aber Du sollst, da Du selbst bedürftig bist, um meinetwillen kein Ungemach leiden. Dort sehe ich zwei starke Männer kommen, die mir den Dienst werden leisten können, der Dir sauer wird."

Diese Handlung war rein moralisch (aber auch nicht mehr), weil sie gegen das Interesse der Sinne, aus Achtung für's Gesetz unternommen wurde.

"Jetzt nähern sich die zwei Männer dem Verwundeten, und fangen an, ihn um sein Unglück zu befragen. Kaum öffnet er den Mund, so rufen beide mit Erstaunen: Er ist's! Es ist der nämlich, den wir suchen. Jener erkennt sie und erschrickt. Es entdeckt sich, daß beide ihren abgesagten Feind und den Urheber ihres Unglücks in ihm erkennen, und dem sie nachgereist sind, um eine blutige Rache an ihm zu nehmen. Befriedigt jetzt Euren Haß und Eure Rache, fängt jener an, der Tod, und nicht die Hilfe ist es, was ich von Euch erwarten kann.

- Nein, erwidert einer von ihnen, damit Du siehst, wer wir sind, und wer Du bist, so nimm diese Kleider und bedecke Dich. Wir wollen Dich zwischen uns in die Mitte nehmen und Dich hinbringen, wo Dir geholfen werden kann.

- Großmüthiger Feind, ruft der Verwundete voll Rührung, Du beschämst mich, und entwaffnest meinen Haß. Komm jetzt, umarme mich, und mache Deine Wohlthat vollkommen durch eine herzliche Vergebung.

- Mäßige Dich Freund, erwidert der andere frostig. Nicht weil ich Dir verzeihe, will ich Dir helfen, sondern weil Du elend bist.

- So nimm auch Deine Kleidung zurück, ruft der Unglückliche, indem er sie von sich wirft. Werde aus mir, was will. Eher will ich elendig umkommen, als einem stolzen Feind meine Rettung verdanken.

Indem er aufsteht und den Versuch macht, sich wegzubegeben, nähert sich ein fünfter Wanderer, der eine schwere Last auf dem Rücken trägt. Ich bin so oft getäuscht worden, denkt der Verwundete, und der sieht mir nicht so aus wie einer, der mir helfen wollte; ich will ihn vorübergehen lassen.

Sobald der Wanderer ihn ansichtig wird, legt er seine Bürde nieder. Ich sehe, fängt er aus eigenem Antriebe an, daß Du verwundet bist und Deine Kräfte dich verlassen. Das nächste Dorf ist noch fern und Du wirst Dich verbluten, ehe Du davor anlangst. Steige auf meinen Rücken, so will ich mich frisch aufmachen und Dich hinbringen.

- Aber was wird aus Deinem Bündel werden, das Du hier auf freier Landstraße liegen lassen mußt?

- Das weiß ich nicht, und das bekümmert mich nicht, sagt der Lastträger. Ich weiß aber, daß Du Hilfe brauchst und daß ich schuldig bin, sie Dir zu geben."

Herzliche Grüße von uns allen. Besinne Dich unterdessen, warum die Handlung des Lastträgers schön ist.

 

Während wir darüber nachdenken, warum diese Handlung schön ist, können wir gleichzeitig der Frage nachgehen, wie eine Gesellschaft entstehen kann, welche derartige schöne Handlungen begünstigt. Der Mensch ist gut! Daran gibt es keinen Zweifel. Wenn jedoch die Kultur egoistisch verdorrt und verödet ist, dann ist es für jeden einzelnen schwer sich zu entfalten. Deshalb können wir uns nicht einfach zurückziehen, sondern wir müssen die Bedingungen schaffen, die für das Gedeihen schöner Seelen förderlich sind. -- Wir wollen ja nicht, daß es uns ergeht wie dem Poeten bei der Teilung der Erde, der mit Aug und Ohr am Schönen hing, während die Welt ihren Lauf nahm.

Zu Schillers Lebzeit wurde die Frage der Schaffung eines freiheitlichen Staates anhand des erfolgreichen Aufstandes der Niederlande gegen die spanische Übermacht diskutiert. Goethe schrieb das Drama "Egmont", Ludwig van Beethoven schuf eine Bühnenmusik dafür. Schiller schrieb den "Don Carlos" und seine "Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung." In der Einleitung dazu sagt er uns das folgende:

 

Aus der Einleitung der "Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung"

Eine der merkwürdigsten Staatsbegebenheiten, die das sechzehnte Jahrhundert zum glänzendsten der Welt gemacht haben, dünkt mich die Gründung der niederländischen Freiheit. Wenn die schlimmen Taten der Ruhmsucht und einer verderblichen Herrschbegierde auf unsere Bewunderung Anspruch machen, wieviel mehr eine Begebenheit, wo die bedrängte Menschheit um ihre edelsten Rechte ringt, wo mit der guten Sache ungewöhnliche Kräfte sich paaren, und die Hilfsmittel entschlossener Verzweiflung über die furchtbaren Künste der Tyrannei in ungleichem Wettkampf siegen. Groß und beruhigend ist der Gedanke, daß gegen die trotzigen Anmaßungen der Fürstengewalt endlich noch eine Hilfe vorhanden ist, daß ihre berechnetsten Pläne an der menschlichen Freiheit zuschanden werden, daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen, heldenmütige Beharrung seine schrecklichen Hilfsquellen endlich erschöpfen kann. Nirgends durchdrang mich diese Wahrheit so lebhaft, als bei der Geschichte jenes denkwürdigen Aufruhrs, der die vereinigten Niederlande auf immer von der spanischen Krone trennte - und darum achtete ich es des Versuchs nicht unwert, dieses schöne Denkmal bürgerlicher Stärke vor der Welt aufzustellen, in der Brust meines Lesers ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken, und ein neues unverwerfliches Beispiel zu geben, was Menschen wagen dürfen für die gute Sache, und ausrichten mögen durch Vereinigung.

Es ist nicht das Außerordentliche oder Heroische dieser Begebenheit, was mich anreizt, sie zu beschreiben... Auch erwartete ich keine kolossalischen Menschen, keine der erstaunenswürdigen Taten, die uns die Geschichte vergangener Zeiten in so reichlicher Fülle darbietet... Das Volk, welches wir hier auftreten sehen, war das friedfertigste dieses Weltteils, und weniger als alle seine Nachbarn jenes Heldengeistes fähig, der auch der geringfügigsten Handlung einen höheren Schwung gibt. Der Drang der Umstände überraschte es mit seiner eigenen Kraft, und nötigte ihm eine vorübergehende Größe auf, die es nie haben sollte, und vielleicht nie wieder haben wird. Es ist also gerade der Mangel an Größe, was diese Begebenheit eigentümlich und unterrichtend macht, und wenn sich andere zum Zweck setzen, die Überlegenheit des Genies über den Zufall zu zeigen, so stelle ich hier ein Gemälde auf, wo die Not das Genie erschuf, und die Zufälle Helden machten.

 

Mit der Geschichte des Freiheitskampfes der Niederlande zeigt uns Schiller, was Menschen für die gute Sache erreichen können, wenn sie zusammenwirken. Wenn sie nicht isoliert in ihren Wohnzimmern sitzen und die Welt durch den Fernsehapparat betrachten, sondern als freie Bürger aktiv handeln und auch andere zum politischen Handeln bewegen.

In der Tragödie "Don Carlos" führt uns Schiller in diesen Freiheitskampf, und zwar direkt in die Höhle des Löwen - an den Hof des damals allmächtigen König Philip. Schiller zeigt uns, wie schwach dieser auf Egoismus aufgebaute Gewaltstaat im Grunde ist - trotz seiner Militärgewalt und seiner finanziellen Macht. Wir erleben in diesem Drama: Wo nicht die "Liebe die mitherrschende Bürgerin eines blühenden Freistaats" ist, da wird der "Egoismus ein Despot in einer verwüsteten Schöpfung." Die Gottgleichheit des Menschen wird geleugnet und stattdessen das Götzenbild eines Herrschers aufgestellt. Der bleibt aber nur ein Mensch. Inmitten von intrigierenden Hofschranzen ist dieser Mensch Philip von der Angst gequält, daß seine schöne Frau Elisabeth nicht ihn, sondern seinen Sohn aus erster Ehe, Don Carlos, liebt. Ja, es wird Philip sogar böswillig hinterbracht, sein Kind stamme gar nicht von ihm, sondern aus einem heimlichen Verhältnis zwischen der Königin und Don Carlos. Von Eifersucht und Unsicherheit gepeinigt stellt uns Schiller diesen scheinbar allmächtigen Despoten vor Augen.

 

Aus Don Carlos: Fünfter Auftritt.

Der König allein.

Jetzt gib mir einen Menschen, gute Vorsicht -
Du hat mir viel gegeben. Schenke mir
Jetzt einen Menschen. Du - du bist allein,
Denn deine Augen prüfen das Verborgne,
Ich bitte dich um einen Freund; denn ich
Bin nicht, wie du, allwissend. Die Gehilfen,
Die du mir zugeordnet hast, was sie
Mir sind, weißt du. Was sie verdienen, haben
Sie mir gegolten. Ihre zahmen Laster,
Beherrscht vom Zaume, dienen meinen Zwecken,
Wie deine Wetter reinigen die Welt.
Ich brauche Wahrheit - Ihre stille Quelle
Im dunkeln Schutt des Irrthums aufzugraben,
Ist nicht das Loos der Könige. Gib mir
Den seltnen Mann mit reinem, offnem Herzen,
Mit hellem Geist und unbefangnen Augen,
Der mir sie finden helfen kann - ich schütte
Die Loose auf; laß unter Tausenden,
Die um der Hoheit Sonnenscheibe flattern,
Den Einzigen mich finden.

Bloße Namen -
Nur Namen stehen hier, und nicht einmal
Erwähnung des Verdiensts, dem sie den Platz
Auf dieser Tafel danken - und was ist
Vergeßlicher, als Dankbarkeit? Doch hier...

Marquis von Posa? - Posa? - Posa? Kann
Ich dieses Menschen mich doch kaum besinnen!
Und zweifach angestrichen - ein Beweis,
Daß ich zu großen Zwecken ihn bestimmte!
Und, war es möglich? dieser Mensch entzog
Sich meiner Gegenwart bis jetzt? vermied
Die Augen seines königlichen Schuldners?
Bei Gott, im ganzen Umkreis meiner Staaten
Der einz'ge Mensch, der meiner nicht bedarf!
Besäß' er Habsucht oder Ehrbegierde,
Er wäre längst vor meinem Thron erschienen.
Wag' ich's mit diesem Sonderling? Wer mich
Entbehren kann, wird Wahrheit für mich haben.

 

Aus Don Carlos: Zehnter Auftritt.

Der König und Marquis von Posa.

Marquis. Sire!
Jüngst kam ich an von Flandern und Brabant. -
So viele reiche, blühende Provinzen!
Ein kräftiges, ein großes Volk - und auch
Ein gutes Volk - und Vater dieses Volkes,
Das, dacht' ich, das muß göttlich sein! - Da stieß
Ich auf verbrannte menschliche Gebeine -

(Hier schweigt er still; seine Augen ruhen auf dem König, der versucht, diesen Blick zu erwidern, aber betroffen und verwirrt zur Erde sieht.)

Sie haben Recht. Sie müssen. Daß Sie können,
Was Sie zu müssen eingesehen, hat mich
Mit schaudernder Bewunderung durchdrungen.
O schade, daß, in seinem Blut gewälzt,
Das Opfer wenig dazu taugt, dem Geist
Des Opferers ein Loblied anzustimmen!
Daß Menschen nur - nicht Wesen höhrer Art -
Die Weltgeschichte schreiben! - Sanftere
Jahrhunderte verdrängen Philipps Zeiten;
Die bringen mildre Weisheit; Bürgerglück
Wird dann versöhnt mit Fürstengröße wandeln,
Der karge Staat mit seinen Kindern geizen,
Und die Nothwendigkeit wird menschlich sein.

König. Wann, denkt Ihr, würden diese menschlichen
Jahrhunderte erscheinen, hätt' ich vor
Dem Fluch des jetzigen gezittert? Sehet
In meinem Spanien Euch um. Hier blüht
Des Bürgers Glück in nie bewölktem Frieden;
Und diese Ruhe gönn' ich den Flamändern.

Marquis (schnell).Die Ruhe eines Kirchhofs! Und Sie hoffen,
Zu endigen, was Sie begannen? hoffen,
Der Christenheit gezeitigte Verwandlung,
Den allgemeinen Frühling aufzuhalten,
Der die Gestalt der Welt verjüngt? Sie wollen -
Allein in ganz Europa - sich dem Rade
Des Weltverhängnisses, das unaufhaltsam
In vollem Laufe rollt, entgegenwerfen?
Mit Menscharm in seine Speichen fallen?
Sie werden nicht! Schon flohen Tausende
Aus Ihren Ländern froh und arm. Der Bürger,
Den Sie verloren für den Glauben, war
Ihr edelster. Mit offnen Mutterarmen
Empfängt die Fliehenden Elisabeth,
Und fruchtbar blüht durch Künste unsers Landes
Britannien. Verlassen von dem Fleiß
Der neuen Christen, liegt Granada öde,
Und jauchzend sieht Europa seinen Feind
An selbstgeschlagnen Wunden sich verbluten.

(Der König ist bewegt; der Marquis bemerkt es und tritt einige Schritte zurück.)

Sie wollen pflanzen für die Ewigkeit,
Und säen Tod? Ein so erzwungnes Werk
Wird seines Schöpfers Geist nicht überdauern.
Dem Undank haben Sie gebaut - umsonst
Den harten Kampf mit der Natur gerungen,
Umsonst ein großes königliches Leben
Zerstörenden Entwürfen hingeopfert.
Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten.
Des langen Schlummers Bande wird er brechen
Und wiederfordern sein geheiligt Recht.
Zu einem Nero und Busiris wirft
Er Ihren Namen, und - das schmerzt mich; denn
Sie waren gut.

König. Wer hat Euch dessen so
Gewiß gemacht?

Marquis (mit Feuer). Ja, beim Allmächtigen!
Ja - ja - ich wiederhol' es. Geben Sie,
Was Sie uns nahmen, wieder! Lassen Sie
Großmüthig, wie der Starke, Menschenglück
Aus Ihrem Füllhorn strömen - Geister reifen
In Ihrem Weltgebäude! Geben Sie,
Was Sie uns nahmen, wieder. Werden Sie
Von Millionen Königen ein König.

(Er nähert sich ihm kühn, und indem er feste und feurige Blicke auf ihn richtet.)

O, könnte die Beredsamkeit von allen
Den Tausenden, die dieser großen Stunde
Theilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben,
Den Strahl, den ich in diesen Augen merke,
Zur Flamme zu erheben! Geben Sie
Die unnatürliche Vergöttrung auf,
Die uns vernichtet! Werden Sie uns Muster
Des Ewigen und Wahren! Niemals - niemals
Besaß ein Sterblicher so viel, so göttlich
Es zu gebrauchen. Alle Könige
Europens huldigen dem spanischen Namen.
Gehn Sie Europens Königen voran.
Ein Federzug von dieser Hand, und neu
Erschaffen wird die Erde. Geben Sie
Gedankenfreiheit. -

 

Mit welcher Klarheit und Schönheit malt uns Schiller in diesen Worten Posas das Ideal des freiheitlichen Staates. Aber gleichzeitig öffnet er uns mit dieser Tragödie die Augen für eine wichtige Frage des praktischen politischen Handelns. Im 11. Brief zu Don Carlos weist Schiller auf den tragischen Fehler der Marquis hin. Posa will den Freund Carlos "retten wie ein Gott und eben dadurch richtet er ihn zugrunde. Daß er zu sehr nach seinem Ideal von Tugend in die Höhe und zu wenig auf seinen Freund herunterblickte, wurde beiden zum Verderben."

Schiller zündet in unserem Herzen die Liebe zu dem großen Ideal des freiheitlichen Staates an, aber gleichzeitig warnt er uns, daß unsere Liebe zu diesem Ideal uns nicht dazu verleiten darf, "willkürlich mit den Individuen zu schalten", denn "wahre Größe des Gemüts führt oft nicht weniger zu Verletzung fremder Freiheit, als der Egoismus."

Schiller läßt uns mit diesem Problem natürlich nicht allein. Er hat uns die Antwort in vielfältiger Weise gegeben. Wir werden sie in seiner großen Freundschaftsballade "Die Bürgschaft" und Schillers "Johanna von Orleans" später noch erfahren. Doch zuerst machen wir eine kurze Pause.

Marquis Posa hat gerade - vor unserer kurzen Pause - dem tryannischen König Philip das schöne Bild eines auf Freiheit gegründeten Staates ausgemalt. Und wir haben gesehen, daß die Errichtung dieses Staates Schillers höchstes Ziel ist, zu dessen Verwirklichung die wahre Kunst ein wesentliches Mittel sein muß. In seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" erläutert er diese Frage ausführlich, und auch in der nun folgenden großartigen "Freundschaftsballade" klingt diese Frage an. Es geht um Tyrannenmord, was damals, zur Zeit der Französischen Revolution, dem Zuhörer deutlicher war als uns heute.

 

Die Bürgschaft

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande;
ihn schlugen die Häscher in Bande.
"Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!"
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
"Die Stadt vom Tyrannen befreien!"
"Das sollst du am Kreuze bereuen."
 
"Ich bin", spricht jener, "zu sterben bereit
und bitte nicht um mein Leben;
doch willst du Gnade mir geben,
ich flehe dich um drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
ich lasse den Freund dir als Bürgen -
ihn magst du, entrinn ich, erwürgen."
 
Da lächelt der König mit arger List
und spricht nach kurzem Bedenken:
"Drei Tage will ich dir schenken.
Doch wisse: wenn sie verstrichen die Frist,
eh du zurück mir gegeben bist,
so muß er statt deiner erblassen,
doch dir ist die Strafe erlassen."
 
Und er kommt zum Freunde: "Der König gebeut,
daß ich am Kreuz mit dem Leben
bezahle das frevelnde Streben;
doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit.
So bleib du dem König zum Pfande,
bis ich komme, zu lösen die Bande."
 
Und schweigend umarmt ihn der treue Freund
und liefert sich aus dem Tyrannen,
der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint,
eilt heim mit sorgender Seele,
damit er die Frist nicht verfehle.
 
Da gießt unendlicher Regen herab,
von den Bergen stürzen die Quellen,
und die Bäche, die Ströme schwellen.
Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab -
da reißet die Brücke der Strudel hinab,
und donnernd sprengen die Wogen
des Gewölbes krachenden Bogen.
 
Und trostlos irrt er an Ufers Rand;
wie weit er auch spähet und blicket
und die Stimme, die rufende schicket -
da stößet kein Nachen vom sichern Strand,
der ihn setze an das gewünschte Land,
kein Schiffer lenket die Fähre,
und der wilde Strom wird zum Meere.
 
Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht,
die Hände zum Zeus erhoben:
"O hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht
die Sonne, und wenn sie niedergeht
und ich kann die Stadt nicht erreichen,
so muß der Freund mir erbleichen."
 
Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut,
und Welle auf Welle zerrinnet,
und Stunde an Stunde entrinnet.
Da treibt ihn die Angst, da faßt er sich Mut
und wirft sich hinein in die brausende Flut
und teilt mit gewaltigen Armen
den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.
 
Und gewinnt das Ufer und eilet fort
und danket dem rettenden Gotte;
da stürzet die raubende Rotte
hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,
den Pfad ihm sperrend, und schnaubet Mord
und hemmet des Wanderers Eile
mit drohend geschwungener Keule.
 
"Was wollt ihr? ruft er für Schrecken bleich,
"ich habe nichts als mein Leben,
das muß ich dem Könige geben!"
Und entreißt die Keule dem nächsten gleich:
"Um des Freundes willen erbarmet euch!"
Und drei mit gewaltigen Streichen
erlegt er, die andern entweichen.
 
Und die Sonne versendet glühenden Brand,
und von der unendlichen Mühe
ermattet sinken die Knie:
"O hast du mich gnädig aus Räubershand,
aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land,
und soll hier verschmachtend verderben,
und der Freund mir, der liebende sterben!"
 
Und horch! da sprudelt es silberhell
ganz nahe, wie rieselndes Rauschen,
und stille hält er, zu lauschen;
und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell
springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell,
und freudig bückt er sich nieder
und erfrischet die brennenden Glieder.
 
Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün
und malt auf den glänzenden Matten
der Bäume gigantische Schatten;
und zwei Wanderer sieht er die Straße ziehn,
will eilenden Laufes vorüber fliehn,
da hört er die Worte sie sagen:
"Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen."
 
Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß,
ihn jagen der Sorge Qualen;
da schimmern in Abendrots Strahlen
von ferne die Zinnen von Syrakus,
und entgegen kommt ihm Philostratus,
des Hauses redlicher Hüter,
der erkennet entsetzt den Gebieter:
 
"Zurück! du rettest den Freund nicht mehr,
so rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben.
Von Stunde zu Stunde gewartet' er
mit hoffender Seele der Wiederkehr,
ihm konnte den mutigen Glauben
der Hohn des Tyrannen nicht rauben."
 
"Und ist es zu spät und kann ich ihm nicht
ein Retter willkommen erscheinen,
so soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,
daß er Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht -
er schlachte der Opfer zweie
und glaube an Liebe und Treue."
 
Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor
und sieht das Kreuz schon erhöhet,
das die Menge gaffend umstehet;
an dem Seile schon zieht man den Freund empor,
da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
"Mich, Henker!" ruft er, "erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!"
 
Und Erstaunen ergreift das Volk umher,
in den Armen liegen sich beide
und weinen für Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer,
und zum Könige bringt man die Wundermär;
der fühlt ein menschliches Rühren,
läßt schnell vor den Thron sie führen.
 
Und blicket sie lange verwundert an;
drauf spricht er: "Es ist euch gelungen,
ihr habt das Herz mir bezwungen,
und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn -
so nehmet auch mich zum Genossen an.
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
in eurem Bunde der Dritte."

 

Der arglistige Tyrann wird bezwungen - nicht durch physische Gewalt, sondern durch eine ganz andere Macht. Damon opfert sein Leben nicht nur dem Freund - der scheint bereits unrettbar verloren -, sondern er opfert sich dem, was ihre Freundschaft groß und wertvoll macht. Genau das tat auch Marquis Posa. Wenn wir unser Leben unseren Freunden widmen und gleichzeitig für die ganze Menschheit leben, dann sind auch wir solche Menschen, aus denen "der Zufall Helden machen" kann.

 

Aus Schillers: "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?"

Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen, haben sich - ohne es zu wissen oder zu erzielen - alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben. Aus der Geschichte erst werden Sie lernen, einen Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben: kostbare, teure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden müssen! Und welcher unter Ihnen, bei dem sich ein heller Geist mit einem empfindenden Herzen gattet, könnte dieser hohen Verpflichtung eingedenk sein, ohne daß sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann? Ein edles Verlangen muß in uns entglühn, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mittel einen Beitrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen. Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet - etwas dazu steuern können Sie alle! Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan, zu der wahren Unsterblichkeit meine ich, wo die Tat lebt und weitereilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte.

 

Kolumbus

Steure mutiger Segler! Es mag der Witz dich verhöhnen,
Und der Schiffer am Steur senken die lässige Hand.
Immer, immer nach West! Dort muß die Küste sich zeigen,
Liegt sie doch deutlich und liegt schimmernd vor deinem Verstand.
Traue dem leitenden Gott und folge dem schweigenden Weltmeer,
Wär sie noch nicht, sie stieg jetzt aus den Fluten empor.
Mit dem Genius steht die Natur in ewigem Bunde,
Was der eine verspricht, leistet die andre gewiß.

 

Schillers dramatische Personen sind groß und edel, sie verändern die Geschichte. Sie leisten "einen Beitrag zu dem reichen Vermächtnis, welches sie von der Vorwelt erhielten" und "geben es vermehrt an die Folgewelt weiter". Das wohl herausragendeste Beispiel dafür ist Schillers Johanna von Orleans. Sie ist ein einfaches Hirtenmädchen und eine große Heldin.

Johannas Vater jedoch verhält sich wie der typische "kleine Mann" und rät angesichts der Kriegsnot: Haltet euch "nur an das Nächste! Lassen wir die Großen, / Der Erde Fürsten um die Erde losen; / Wir können ruhig die Zerstörung schauen." Das ist die alte Leier, die man tagtäglich hört: "Laßt uns nur auf das Nächste konzentrieren! - Was die Großen machen, können wir ohnehin nicht beeinflussen!" Dabei wird nicht einmal der Versuch unternommen, ja nicht einmal ernsthaft darüber nachgedacht, was denn zu tun sei. Mit stoischer Herzenskälte wird dem Untergang ganzer Nationen, ja des ganzen afrikanischen Kontinents zugeschaut.

Johanna ist ganz anders. Sie liebt ihr Volk, und sie ist mutig. So wird berichtet, daß sie mit einem "Tigerwolf stritt", und ihm "ein Lamm abrang, das er im blutigen Rachen schon davontrug". Nun sieht sie ihr Volk überfallen und in verzweifelter Lage. Der französische König Karl ist hoffnungslos und will vor der englischen Invasion kapitulieren. Die kriegsentscheidende Stadt Orleans steht unmittelbar vor dem Fall. Da entschließt sich das Hirtenmädchen zu der ungeheuer großen Aufgabe, ihr Land zu retten.

 

Die Jungfrau von Orleans: PROLOG, Vierter Auftritt

JOHANNA (allein)
Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften,
Ihr traulich stillen Täler lebet wohl!
Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln,
Johanna sagt euch ewig Lebewohl.
Ihr Wiesen, die ich wässerte! Ihr Bäume,
Die ich gepflanzet, grünet fröhlich fort!
Lebt wohl, ihr Grotten und ihr kühlen Brunnen!
Du Echo, holde Stimme dieses Tals,
Die oft mir Antwort gab auf meine Lieder,
Johanna geht und nimmer kehrt sie wieder!
 
Ihr Plätze aller meiner stillen Freuden,
Euch laß ich hinter mir auf immerdar!
Zerstreuet euch, ihr Lämmer auf der Heiden,
Ihr seid jetzt eine hirtenlose Schar,
Denn eine andre Herde muß ich weiden,
Dort auf dem blutgen Felde der Gefahr,
So ist des Geistes Ruf an mich ergangen,
Mich treibt nicht eitles, irdisches Verlangen.
 
Denn der zu Mosen auf des Horebs Höhen
Im feurgen Busch sich flammend niederließ,
Und ihm befahl, vor Pharao zu stehen,
Der einst den frommen Knaben Isais,
Den Hirten, sich zum Streiter ausersehen,
Der stets den Hirten gnädig sich bewies,
Er sprach zu mir aus dieses Baumes Zweigen:
"Geh hin! Du sollst auf Erden für mich zeugen.
 
In rauhes Erz sollst du die Glieder schnüren,
Mit Stahl bedecken deine zarte Brust,
Nicht Männerliebe darf dein Herz berühren,
Mit sündgen Flammen eitler Erdenlust,
Nie wird der Brautkranz deine Locke zieren,
Dir blüht kein lieblich Kind an deiner Brust,
Doch werd ich dich mit kriegerischen Ehren,
Vor allen Erdenfrauen dich verklären.
 
Denn wenn im Kampf die Mutigsten verzagen,
Wenn Frankreichs letztes Schicksal nun sich naht,
Dann wirst du meine Oriflamme tragen
Und wie die rasche Schnitterin die Saat,
Den stolzen Überwinder niederschlagen,
Umwälzen wirst du seines Glückes Rad,
Errettung bringen Frankreichs Heldensöhnen,
Und Reims befrein und deinen König krönen!"
 
Ein Zeichen hat der Himmel mir verheißen,
Er sendet mir den Helm, er kommt von ihm,
Mit Götterkraft berühret mich sein Eisen,
Und mich durchflammt der Mut der Cherubim,
Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen,
Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm,
Den Feldruf hör ich mächtig zu mir dringen,
Das Schlachtroß steigt und die Trompeten klingen.

 

Johanna zieht in die Schlacht, sie rettet Frankreich und gibt ihrem geliebten Volk den rechtmäßigen König wieder. Aber Schiller kommt es weniger auf den Kampf auf dem Schlachtfeld an. Er läßt uns in der Person der Johanna die Seelenkämpfe durchleben, die jeder große Mensch bestehen muß. Die Liebe zu ihrem Volk begeistert Johanna zu großen Taten. Sie greift wie ein Werkzeug Gottes in die Geschichte ein. Aber sie selbst bleibt Mensch. Das Volk, die Menschheit können wir lieben, aber wir treffen die Menschheit nie persönlich an, wir stehen immer nur einzelnen, individuellen Menschen gegenüber. Und so können wir das Band unserer Liebe zur Menschheit immer nur über die konkreten Mitmenschen knüpfen. Schiller bringt das in seinem Drama auf den Punkt, indem Johanna mitten in der Schlacht ihrem Gegner Lionel in die Augen schaut und so von Liebe für diesen Menschen ergriffen wird, daß sie den Feind - den sie gemäß ihrer Sendung erschlagen müßte - nicht zu töten vermag.

 

Die Jungfrau von Orleans; VIERTER AUFZUG, Erster Auftritt

JOHANNA.

Die Waffen ruhn, des Krieges Stürme schweigen,
Auf blutge Schlachten folgt Gesang und Tanz,
Durch alle Straßen tönt der muntre Reigen,
Altar und Kirche prangt in Festes Glanz,
Und Pforten bauen sich aus grünen Zweigen,
Und um die Säule windet sich der Kranz,
Das weite Reims faßt nicht die Zahl der Gäste,
Die wallend strömen zu dem Völkerfeste.
 
Und einer Freude Hochgefühl entbrennet,
Und ein Gedanke schlägt in jeder Brust,
Was sich noch jüngst in blutgem Haß getrennet,
Das teilt entzückt die allgemeine Lust,
Wer nur zum Stamm der Franken sich bekennet,
Der ist des Namens stolzer sich bewußt,
Erneuert ist der Glanz der alten Krone,
Und Frankreich huldigt seinem Königssohne.
 
Doch mich, die all dies Herrliche vollendet,
Mich rührt es nicht, das allgemeine Glück,
Mir ist das Herz verwandelt und gewendet,
Es flieht von dieser Festlichkeit zurück,
Ins britsche Lager ist es hingewendet,
Hinüber zu dem Feinde schweift der Blick,
Und aus der Freude Kreis muß ich mich stehlen,
Die schwere Schuld des Busens zu verhehlen.
 
Wer? Ich? Ich eines Mannes Bild
In meinem reinen Busen tragen?
Dies Herz, von Himmels Glanz erfüllt,
Darf einer irdschen Liebe schlagen?
Ich meines Landes Retterin,
Des höchsten Gottes Kriegerin,
Für meines Landes Feind entbrennen!
Darf ichs der keuschen Sonne nennen,
Und mich vernichtet nicht die Scham!
(Die Musik hinter der Szene geht in eine weich schmelzende Melodie über)

Wehe! Weh mir! Welche Töne!
Wie verführen sie mein Ohr!
Jeder ruft mir seine Stimme,
Zaubert mir sein Bild hervor!
 
Daß der Sturm der Schlacht mich faßte.
Speere sausend mich umtönten
In des heißen Streites Wut!
Wieder fänd ich meinen Mut!
 
Diese Stimmen, diese Töne,
Wie umstricken sie mein Herz,
Jede Kraft in meinem Busen
Lösen sie in weichem Sehnen,
Schmelzen sie in Wehmuts-Tränen!
(Nach einer Pause lebhafter)
 
Sollt ich ihn töten? Konnt ichs, da ich ihm
Ins Auge sah? Ihn töten! Eher hätt ich
Den Mordstahl auf die eigne Brust gezückt!
Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?
Ist Mitleid Sünde? - Mitleid! Hörtest du
Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit
Auch bei den andern, die dein Schwert geopfert?
Warum verstummte sie, als der Walliser dich,
Der zarte Jüngling um sein Leben flehte?
Arglistig Herz! Du lügst dem ewgen Licht,
Dich trieb des Mitleids fromme Stimme nicht!
 
Warum mußt ich ihm in die Augen sehn!
Die Züge schaun des edeln Angesichts!
Mit deinem Blick fing dein Verbrechen an,
Unglückliche! Ein blindes Werkzeug fodert Gott,
Mit blinden Augen mußtest dus vollbringen!
Sobald du sahst, verließ dich Gottes Schild,
Ergriffen dich der Hölle Schlingen!
(Die Flöten wiederholen, sie versinkt in eine stille Wehmut )
 
Frommer Stab! O hätt ich nimmer
Mit dem Schwerte dich vertauscht!
Hätt es nie in deinen Zweigen,
Heilge Eiche! mir gerauscht!
Wärst du nimmer mir erschienen,
Hohe Himmelskönigin!
Nimm, ich kann sie nicht verdienen,
Deine Krone, nimm sie hin!
 
Ach, ich sah den Himmel offen
Und der Selgen Angesicht!
Doch auf Erden ist mein Hoffen,
Und im Himmel ist es nicht!
Mußtest du ihn auf mich laden
Diesen furchtbaren Beruf,
Konnt ich dieses Herz verhärten,
Das der Himmel fühlend schuf!
 
Willst du deine Macht verkünden,
Wähle sie, die frei von Sünden
Stehn in deinem ewgen Haus,
Deine Geister sende aus,
Die Unsterblichen, die Reinen,
Die nicht fühlen, die nicht weinen!
Nicht die zarte Jungfrau wähle,
Nicht der Hirtin weiche Seele!
 
Kümmert mich das Los der Schlachten,
Mich der Zwist der Könige?
Schuldlos trieb ich meine Lämmer
Auf des stillen Berges Höh.
Doch du rissest mich ins Leben,
In den stolzen Fürstensaal,
Mich der Schuld dahinzugeben,
Ach! es war nicht meine Wahl!

 

Johanna wird diesen Seelenkampf bestehen, doch zunächst erscheint ihr Vater auf der Krönungsfeier und klagt sein eigenes Kind der Hexerei an. Keiner kann entscheiden, ob Johanna eine "Gottgesandte" ist oder ob sie eine "Hexe", ein Werkzeug böser Mächte ist. - Wie sollten sie auch? Alle sind zu klein und folgen viel zu kleinen Zwecken, als daß sie Johanna moralisch beurteilen könnten. - Johanna wird als Hexe verbannt. Sie ist allein und von allen verkannt und wird von den Engländern gefangen genommen. Im feindlichen Lager trifft sie erneut auf Lionel. Er bietet sich ihr als Retter an, aber Johanna sagt ihm nun, wenn er sie wirklich liebe, dann solle er seine Krieger aus Frankreich hinwegführen. Das Kriegsglück wendet sich wieder gegen Frankreich. Eine Entscheidungsschlacht tobt, der französische König wird gefangen genommen und die Schlacht scheint verloren. Da erwachsen Johanna Riesenkräfte, sie zerreißt - nun nicht mehr als blindes Werkzeug, sondern selbstbewußt - die Ketten der Gefangenschaft und führt Frankreich zum Sieg. Dabei wird sie selbst tödlich verwundet. Aber ihre große Lebensaufgabe hat sie verwirklicht und sie bleibt, wie Schillers herrliches Drama, für alle kommenden Generationen lebendig.

 

Die Jungfrau von Orleans; FÜNFTER AUFZUG, Vierzehnter Auftritt

 

JOHANNA (nachdem sie ihn lange starr angesehen).
Nein, ich bin keine Zauberin! Gewiß ich bins nicht...

(sieht heiter lächelnd umher).
Und ich bin wirklich unter meinem Volk.
Und bin nicht mehr verachtet und verstoßen?
Man flucht mir nicht, man sieht mich gütig an?
- Ja, jetzt erkenn ich deutlich alles wieder!
Das ist mein König! Das sind Frankreichs Fahnen!
Doch meine Fahne seh ich nicht- Wo ist sie?
Nicht ohne meine Fahne darf ich kommen,
Von meinem Meister ward sie mir vertraut,
Vor seinem Thron muß ich sie niederlegen,
Ich darf sie zeigen, denn ich trug sie treu...

(Sie steht ganz frei aufgerichtet, die Fahne in der Hand - Der Himmel ist von einem rosigten Schein beleuchtet)

Seht ihr den Regenbogen in der Luft,
Der Himmel öffnet seine goldnen Tore,
Im Chor der Engel steht sie glänzend da,
Sie hält den ewgen Sohn an ihrer Brust,
Die Arme streckt sie lächelnd mir entgegen.
Wie wird mir - Leichte Wolken heben mich -
der schwere Panzer wird zum Flügelkleide.
Hinauf - hinauf - Die Erde flieht zurück -
Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!

 

Aus Friedrich Schillers Vorrede zu "Die Braut von Messina"

...Alle Kunst ist der Freude gewidmet, und es gibt keine höhere und keine ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken. Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuß verschafft. Der höchste Genuß aber ist die Freiheit des Gemüts in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte.

Jeder Mensch zwar erwartet von den Künsten der Einbildungskraft eine gewisse Befreiung von den Schranken des Wirklichen; er will sich an dem Möglichen ergötzen und seiner Phantasie Raum geben... Aber er weiß selbst recht gut, daß er nur ein leeres Spiel treibt,.. und wenn er von dem Schauplatz wieder in die wirkliche Welt zurückkehrt, so umgibt ihn dieser wieder mit ihrer ganzen drückenden Enge, er ist ihr Raub wie vorher; denn sie selbst ist geblieben, was sie war, und an ihm ist nichts verändert worden. Dadurch ist also nichts gewonnen als ein gefälliger Wahn des Augenblicks, der beim Erwachen verschwindet...

Die wahre Kunst aber hat es nicht bloß auf ein vorübergehendes Spiel abgesehen; es ist ihr ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzten, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen, und dieses dadurch, daß sie eine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher Stoff auf ihm lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu rücken, in ein freies Werk unseres Geistes zu verwandeln und das Materielle durch Ideen zu beherrschen

 

Darin liegt die Größe Schillers, und dadurch erhebt er uns und macht uns groß. Er leitet uns an, "das Materielle durch Ideen zu beherrschen." Er verschafft uns wahre Freiheit durch seine Kunst. Und dann erfahren wir, "wie groß... der Mensch" ist und "wie klein... das gefürchtete Schicksal!"

Ja, wir können unserem Nächsten der gute Samariter sein, und wir können die besten Züge des Marquis Posa in uns verwirklichen. Wir können mutig der Tyrannei trotzen, wie der Freund Damon und wir können Nationen retten, wie das Hirtenmädchen Johanna von Orleans.

Und wenn wir das sind oder uns zumindest dazu auf den Weg machen, dann können wir das nächste Jahrtausend mit schöpferischer Freude gestalten. So entzünden wir den Götterfunken, der in jedem Menschen schlummert, und können Licht und Leitstern für unsere Mitmenschen werden - genau wie Friedrich Schiller für uns bis heute ein leuchtendes Vorbild geblieben ist.