Juni 2007 Jugendbewegung

„Moses Mendelssohn war kein Heiliger,
seine Größe lag in seinem Mensch sein“

Von Toni Kästner

Moses Mendelssohn kämpfte zusammen mit seinem Freund Lessing für die Ideen von Leibniz und für die Emanzipation der Juden und der Menschen insgesamt. Damit wurde er zum Wegbereiter der deutschen Klassik.

Der Lehrer und der Schüler

Der Lehrer: Du willst die Buße verschieben - Wohl! So lang es dir gefällt.

Nur bessre dich einen Tag vor deinem Tode!

Der Schüler: Weiß ich den Tag, wann ich sterben werde!

Der Lehrer: Wenn du diesen nicht weißt, so ist kein andrer Rat, als heute noch anzufangen

(aus Mendelssohns Proben Rabbinischer Weisheit)

G. W. Leibniz wurde 1646 am Ende des 30jährigen Kriegs geboren und widmete sein Leben dem Wiederaufbau der europäischen Kultur und Wissenschaftstradition, was nicht nur innerhalb Europas, sondern auf der ganzen Welt zu einem Aufschwung führte. Leibniz konkretisierte zum ersten Mal, warum der Mensch die Fähigkeit besitzt, sich in Kunst und Wissenschaft zu betätigen. Durch die Beschäftigung mit dem menschlichen Geist entwickelte er das Konzept der Glückseligkeit und zeigte so  den Weg, den die Menschheit einzuschlagen hat, wenn sie ihre Kinderkrankheiten wie Hungersnöte und Armut besiegen will.

Wie weit seine Ideen verbreitet waren, beweist am besten die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, deren gesamtes Gesetzesgebäude sich aus dem Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit herleitet. Das ist kein Zufall, wie manche glauben mögen, sondern ein direkter Bezug auf das Konzept von Leibniz, wonach ein Staat nur dann längerfristig existieren kann, wenn er den Fähigkeiten der Menschen gerecht wird.

Dies kann jeder einsehen, der sich einmal mit den Gründervätern der USA auseinander gesetzt hat. Doch damals wie heute gibt es eine Fraktion, die versucht, diese Ideen von der Bevölkerung fernzuhalten - aus Angst, ihre eigenen Machtstrukturen zu verlieren, wenn sich die Menschheit entwickeln würde. Leibniz starb 1716 mit 70 Jahren, und seine Gegner begannen sofort, seine Ideen zu attackieren.

Die verlogensten dieser Gegner waren die Anhänger der Clique um Maupertius und Voltaire in Berlin und Paris, die unter dem Deckmantel scheinbarer Leibnizscher Schlagwörter Ideen verbreiteten, die bei genauerer Betrachtung aber anti-leibnizianisch waren. Dies geschah durch Ausschreibungen der Akademie der Wissenschaften zu gewissen Themen, die Ideen von Leibniz betrafen.

Diese Akademie war zwar ursprünglich von Leibniz gegründet worden, aber nun war sie in seine Fürsprecher und seine Gegner gespalten. 1729 wurde dann der Mann geboren, der einer von Leibniz’ größten Verteidigern und damit auch zum Gründer der deutschen Klassik werden sollte, die die ganze Welt veränderte: Moses Mendelssohn. 

Keine einfachen Umstände

1729 geboren, wuchs Moses Mendelssohn in einer Zeit auf, die vom Kampf um Leibniz’ Ideen geprägt war. Doch davon war im jüdischen Ghetto von Dessau, in dem Moses heranwuchs, nichts zu spüren. Damals wurden die Juden in Westeuropa nicht als Staatsbürger angesehen, sondern nur als eine unliebsame Gruppe von Menschen, die lediglich dazu tauge, dem Staat Geld einzubringen. So war es den Juden in Deutschland nur erlaubt, in den Ghettos der Städte zu leben, was zu einer kompletten Absonderung der Juden von der übrigen Bevölkerung des Staates führte.

In den Ghettos entstand eine Kultur, in der sich das geistige Leben darauf reduzierte, die Tora, die heilige Schrift, oder die Kabbala, die Lehren der jüdischen Mystik, auswendig zu lernen. Das höchste, was ein Jude damals anstreben konnte, war, Rabbiner oder Arzt zu werden, jede andere Art von höherer Bildung oder andere Berufe waren ihm verschlossen.

Eine weitere Folge der Gettoisierung der Kultur war, daß man damals in den Ghettos hebräisch nur in Verbindung mit der Religion sprach, und die Umgangssprache für alles andere Jiddisch war.1 Die jiddische Sprache war aber zu jener Zeit noch sehr unterentwickelt, man konnte in dieser Sprache keine höheren Ideen ausdrücken und schrieb gegebenenfalls hebräisch, was aber wiederum der Großteil der Bevölkerung nicht verstehen konnte, weil es meist nur im Zusammenhang mit dem Sabbat gesprochen wurde.

So wurden die Juden Opfer dessen, was W. Humboldt später so beschreibt: „Was man nicht ausdrücken kann, kann man auch nicht denken.“ Mit anderen Worten, die Juden Europas wurden damals durch ihre äußeren Umstände in ein geistiges Gefängnis gezwungen, aus dem man nicht so leicht entrinnen konnte.

Gleichzeitig mußten sie immer fleißig Steuern und andere Abgaben leisten, deren Irrsinnigkeit teilweise keine Grenzen zu kennen schien. So wurden die Juden von Friedrich dem Großen dazu verpflichtet, für eine festgelegte Summe Porzellan zu kaufen, das ihnen zugeschickt wurde, sie sich also nicht einmal aussuchen durften. Dies erklärt, warum sich jahrzehntelang zwölf Porzellanaffen im Besitz der Familie Mendelssohn befanden, die sich wohl kaum irgend jemand freiwillig gekauft hätte.

Doch dies war nicht das einzige Gesetz, das die Juden benachteiligte. Einige Gesetze waren bereits zu Mendelssohns Zeit über 300 Jahre alt. So war es beispielsweise nach einem Beschluß aus dem 14 Jh. einem Rabbi verboten, seine Schüler vor dem 25. Lebensjahr in Philosophie zu unterrichten. Wenn man bedenkt, daß damals das Alter beim Eintritt in das Berufsleben bei 16 Jahren oder noch darunter lag, kann man sich vorstellen, daß die wenigsten dann mit 25 Jahren noch Zeit hatten, sich mit Philosophie zu befassen. So waren die Lebensbedingungen für die normale jüdischen Bevölkerung des 18 Jh. wirtschaftlich und geistig sehr schlecht.

Mendelssohns Jugend

Dies nur vorweg, um zu zeigen, in welchem Klima Moses aufwuchs, denn das soll uns als Ausgangspunkt dienen, um darüber zu reflektieren, wie einer der größten Deutschen trotz solcher Schwierigkeiten seinen Weg ging, und daß es nicht die schlimmen äußeren Umstände sind, die einen Menschen zum Handeln antreiben, sondern die Begegnung mit den eigenen schöpferischen Fähigkeiten.

Schon früh entdeckte Moses, daß es mehr im Leben gibt als ein stupides „So wie es immer war, wird es auch immer bleiben“. Denn obwohl sein Vater wollte, daß er Händler wird, entschied sich Moses mit 14 Jahren, lieber dem Menschen, der in ihm den schöpferischen Götterfunken entfacht hatte, nach Berlin zu folgen.

Dieser Mensch war Rabbi Fränkel, der seit frühester Jugend sein Lehrer in der Talmudschule gewesen war. Dort hatte Fränkel - trotz der bestehenden Gesetze - seinem jungen Schüler, der einer der wenigen Jungen war, die hebräisch nicht nur lesen, sondern auch die Grammatik dieser Sprache beherrschen wollten, mit den philosophischen und religiösen Werken des großen jüdischen Denkers Moses Maimonides konfrontiert. Moses berichtet später seinen Freunden, er glaube, daß er seinen Buckel nur Maimonides zu verdanken habe, weil er nächtelang über dessen Werken saß und studierte.

Als nun Rabbi Fränkel 1743 nach Berlin berufen wurde, gab es für Moses nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder der Süßigkeit der Wahrheit, die er durch Fränkel und Maimonides gekostet hatte, zu entsagen und sich dem Ghettoleben anzupassen - oder dem süßen Geschmack zu folgen und alle Konsequenzen dieser Entscheidung, ob gut oder schlecht, zu tragen.

Nach einigem Hin und Her folgte Moses seinem Lehrer zu Fuß von Dessau nach Berlin, 143 km ins Ungewisse. Das war damals nicht nur eine sehr beschwerliche Reise, es war auch sehr gefährlich, wenn man Jude war, denn man lief Gefahr, geschlagen, schikaniert oder gar umgebracht zu werden. Moses wußte nicht einmal, ob die Berliner Behörden ihn überhaupt in die Stadt lassen würden.

In Berlin angekommen und aufgenommen, traf Moses Dr. Gumpertz, der ihn in die Ideen Leibniz einführte und ihn später mit G. E. Lessing, der sein lebenslanger Freund wurde, bekannt machte. Moses schrieb, er habe damals versucht, in allen Bereichen zumindest ein Grundlagenwissen zu erlangen, obwohl ihm das sehr schwer gefallen sei, weil er keine wirklichen Lehrer hatte. Denn für Juden waren die normalen Schulen und Universitäten tabu. So wandete er sich später um so stärker der Philosophie und vor allem den Ideen von Leibniz zu. Als er dann auch noch durch Gumpertz’ Vermittlung in Lessing einen Gleichgesinnten gefunden hatte, und beide zusehen mußten, wie die Akademie der Wissenschaften begann, gegen die von ihnen so bewunderten Ideen von Leibniz vorzugehen, mußten sie handeln.

Man hatte seit 1710 seitens der britischen Royal Society versucht, Leibniz’ Ideen in Vergessenheit geraten zu lassen und sie durch die Ideen seiner Gegner zu verdrängen. 1740 war die Akademie der Wissenschaften in Berlin das letzte Bollwerk der Anhänger von Leibniz, das nun anfing, auseinander zu fallen. 1748 war es dann soweit: Bei einem Preisausschreiben der Akademie erhielt ein Aufsatz, von dem Euler freudig behauptete, er sei die beste Widerlegung der Monadologie von Leibniz, den ersten Preis. Ein paar Jahre später gewann dann ein Aufsatz von Pope, der Leibniz’ Konzept der Besten aller möglichen Welten widerlegen sollte.

Nun konnten Mendelssohn und Lessing nicht mehr schweigen. Anonym verfaßten sie - mit 21 und 22 Jahren - unter dem Titel „Pope, ein Metaphysiker!“ eine Verteidigungsschrift für Leibniz’ Ideen; sie stellten Pope bloß und Leibniz’ Ehre wieder her. So begann die lebenslange Freundschaft zwischen Mendelssohn und Lessing, die durch ihre Beiträge den Grundstein für die deutsche Klassik legten - der dritten großen Blütezeit der Menschheit nach der griechischen Klassik und der italienischen Renaissance.

Kampf gegen Rousseau

Mendelssohn griff in mehreren seiner Schriften Rousseaus Kernaussagen an. Rousseau, dessen Ideen später die Französische Revolution beeinflussen sollten, war fest überzeugt, daß alles sittlich Schlechte nur durch die schönen Künste und die Wissenschaften entstehe, da diese die kulturelle Dekadenz beförderten. Mit diesen und ähnlichen Aussagen zielte er auf die Schöngeisterei und Schwelgerei ab, die natürlich den Verfall einer Kultur beschleunigen.

In diesem Punkt gab Mendelssohn ihm auch recht, aber er fügte hinzu, daß dies immer der Fall sei, wenn man schöne Dinge ohne Verstand behandle, und daß wir lieber versuchen sollten, Verstand in die schönen Künste und die Wissenschaften zu bringen, statt sie zu verdammen, denn die Möglichkeiten, die sich uns durch Kunst und Wissenschaft eröffneten, zu verdammen, sei dasselbe, wie das Menschsein selbst zu verdammen.

Weiter meinte Rousseau, es habe in der Geschichte Staaten gegeben, die auch ohne Wissenschaft und schöne Künste eine sehr tugendhafte Bevölkerung besaßen, und nannte als Beispiel ausgerechnet den Stadtstaat Sparta, dessen Bevölkerung sich durch barbarische Wildheit definierte und deren Lebensumstände bis heute sprichwörtlich sind. Daher zog er den Schluß, daß der wilde Mensch, der nichts anderes kenne als Mitleid, der beste sei, und daß wir versuchen sollten, diesen reinen, ursprünglichen Zustand des Nichtwissens wieder zu erlangen.

Deshalb versuchte Rousseau, den Menschen auf wissenschaftliche Art zurück zu entwickeln und zu zeigen, daß alle Attribute, die wir dem Menschen als von Gott gegeben zuschreiben, nur seiner evolutionären Entwicklung folgten und ihn somit auch nicht grundsätzlich vom Tier unterschieden. Er sah beispielsweise die Geselligkeit des Menschen als etwas Schlechtes an, da diese ihm zufolge zur Dekadenz führe, zur Schöngeisterei, weil sie die Leute dazu antreibe, ihre Nasen in die schönen Künste zu stecken und Wissenschaft zu betreiben.

Sein Vorhaben gelang ihm fast - aber nur fast. Denn wenigstens eines mußte er dem wilden Menschen zugestehen: daß er von Anfang an von Gott die Möglichkeit, Mitleid zu empfinden, als Attribut erhalten habe.

Mendelssohn griff diesen Punkt auf und sagte: Mitleid? - Ein Mensch, der Mitleid empfindet, wird automatisch gesellig, weil sich Mitleid auf Liebe stützt. Liebe ist gegründet auf der Lust an Harmonie und Ordnung, und deswegen wünschen wir uns, daß dort, wo wir Vollkommenheit bemerken, sie dort auch wächst, wo wir sie bemerkt haben. Geschieht das nicht, erweckt dies bei uns eine Unlust, die wir Mitleid nennen. Das heißt, dort wo ein Mensch Mitleid empfindet, hat er auch ein Interesse an dem zu bemitleidenden Gegenstand.

Im Falle eines Menschen bedeutet dies, daß er ein Interesse hat, die Vollkommenheit eines anderen wachsen zu sehen. Wenn er sich dann auch noch entschließt, dieses Wachstum in dem jeweiligen anderen Menschen zu befördern, wird er fast von allein gesellig, und ein gesunder Mensch wird sich immer dafür entscheiden, einen anderen zu verbessern und gesellig zu werden.

Doch für Rousseau stellte sich das von Anfang an anders dar, denn er fragte sichWas haben wir in der Gesellschaft gewonnen? Der Stand der Geselligkeit ist mit gewissen körperlichen Schwachheiten, mit gewissen lasterhaften Neigungen behaftet, davon der natürliche Mensch befreit ist.Mendelssohn erwiderte darauf: „In dem gesitteten Leben entwickeln sich bei uns neue Kräfte und erlangen ihre Wirklichkeit, die im Stande der Wildheit nicht mehr als möglich gewesen sind.“ Doch Rousseau habe der Geselligkeit diesen Vorzug nicht abgesprochen, er habe ihn nur für schädlich gehalten, stellte Mendelssohn fest. Er hielt also die Kräfte, die der Mensch durch seine stetige Entwicklung erwirbt, für gefährlich und zerstörerisch.

 Auf diese Idee vom Menschen als einem Bazillus, der sich ständig ausbreiten will, sich aber selbst beschränken muß, damit er nicht seine eigene Petrischale zerstört und sich selbst vernichtet, entgegnete Mendelssohn:

„Eine jede Entwicklung unserer Kräfte ist eine Erweiterung unseres Daseins, denn je mehr Kräfte sich bei einem Dinge äußern, desto größer ist der Grad seiner Wirklichkeit. Wird nun unser Dasein erweitert, so kommen auch gewisse neue Schranken zum Vorschein, die vorher noch mit der bloßen Fähigkeit in der Grundbildung gleichsam zusammen gewickelt gelegen haben. Daher müssen notwendig neue Mängel, neue Schwachheiten entstehen, wenn wir unseren Zustand verbessern, wenn wir gesitteter werden. Soll uns dieses aber bewegen, die Verbesserung selbst zu unterlassen? Keineswegs! [...] Es muß also unser Dasein (und kann Rousseau dies in Zweifel ziehen?) immer noch mehr Gutes als Übles mit sich bringen. Es muß besser sein, daß wir samt unserer Mängel vorhanden sind, als wenn unsere Erschaffung unterbliebe wäre [...] Man klage den Schöpfer an oder lasse den Menschen Gerechtigkeit widerfahren.“

Am Ende seines Aufsatzes schreibt er zusammenfassend an seinen Freund Lessing:

„Bewundern Sie, bester Freund, die Harmonie der Wahrheit! Der geringste Keim der Menschlichkeit, das mitleidige Gefühl, das Rousseau dem Wilden eingestehen mußte, hat uns auf die Spur gebracht, ihn in alle seine Rechte wiederum einzusetzen und sich zügellos über den Stand der Tiere zu erheben.“

Übersetzung der Tora

Es war dieses Wissen um den fundamentalen Unterschied zwischen Mensch und Tier, das Moses Mendelssohn immer wieder dazu antrieb, nach Mitteln und Wegen zu suchen, die Menschheit zu verbessern und denen zu helfen, die sich allein nicht helfen konnten. So startete er ein Projekt, um die gesamte Bibel zu übersetzen, doch er schaffte nur die fünf Bücher Moses, welche die Tora bilden und die Grundlage des jüdischen Glaubens darstellen. Er übersetzte die Tora ins Deutsche, das selbst nicht seine Muttersprache war, das er also erst lernen mußte.

Wie gewissenhaft er beim Lernen dieser Sprache war, sieht man daran, daß Moses Mendelssohn wohl ein besseres Deutsch sprach, als man es bis dahin kannte, und das der Prosa eines Schillers in nichts nachstand.

Was ihn zu dieser Arbeit trieb, war die Überlegung, daß die Übersetzung es den Juden leichter machen sollte, sich in den Staat zu integrieren. Er wußte: Wenn zwei Völker in einem Staat leben und nicht dieselbe Sprache sprechen, kann nie eine Verständigung zustande kommen, und so gab es bald schon eine deutsche Tora, die in hebräischen Schriftzeichen geschrieben war, und kurz darauf auch eine in lateinischen Buchstaben.

Die hebräischen Schriftzeichen sollten den Juden helfen, zunächst erst einmal deutsch zu sprechen. So wollte Mendelssohn seinen Glaubensgenossen helfen und sie vom Joch der Gettoisierung befreien, damit sie volle Staatsbürger werden konnten. Gleichzeitig wirkte er auf die Politik Deutschlands und speziell Österreichs ein, auf Kaiser Joseph II. von Österreich und dessen Umfeld, in dem damals z. B. auch Mozart wirkte. Dies tat er immer nur mit dem einen Ziel der Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung - der jüdischen, wie der nicht jüdischen. Er betonte immer, daß nur dann das Beste entstehen könne, wenn man es den Juden ermögliche, mit den Deutschen in einen Dialog zu treten über die besten Aspekte ihrer Kulturen - und das gilt offensichtlich für den Dialog zwischen sämtlichen Kulturen.

Universelle Idee für alle Menschen

Moses Mendelssohn erarbeitete zusammen mit seinem Freund Lessing zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die universellen Prinzipien der menschlichen Empfindungen. Sie leisteten die Vorarbeit, auf der dann die bahnbrechenden Entdeckungen Friedrich Schillers fußten. Sie machten sich Gedanken darüber, was Schönheit sei, und wodurch etwas von einem bloß interessanten Gegenstand zum Gegenstand der Schönheit erhoben werde. Weiterhin ging es ihnen um die Fragen: Was ist Empfindung, warum empfinden wir Mitleid, und wie wird man erhaben?

Diese Fragen wollte sie aber nicht zum reinen Selbstzweck geklärt haben, sondern, um Prinzipien zu verstehen, die dabei helfen können, Institutionen wie das Theater und die Oper zu Instrumenten der Volksbildung zu machen. Denn schon damals begann den Menschen bewußt zu werden, daß eine wahre politische Veränderung nur von der Bevölkerung ausgehen kann, und daß dazu die Bevölkerung auf dem höchst möglichen Stand des Wissens ihrer Zeit stehen muß, da ihre revolutionären Kräfte sonst jederzeit von Gegenrevolutionären genutzt werden können, um Chaos statt Ordnung zu erzeugen, so wie es bei der Französischen Revolution - im Gegensatz zur Amerikanischen - geschah.

Schon Mendelssohns erstes Werk, der Phädon, mit dem er seinen Einstand als Philosoph feierte, zielte darauf ab, die Menschen zu verbessern. Dieser Dialog wurde im Original von Platon im 4. Jh. v.Chr. geschrieben und handelte von dessen Lehrer, dem Philosophen Sokrates. Sokrates war zum Tode verurteilt worden, weil er versucht hatte, die Jugend zu bilden, indem er andere auf ihre Weisheit prüfte. Die Anklage lautete, er wolle die Jugend verderben.

So findet man im Phädon, dem dritten Teil der Dialoge nach der Apologie und dem Kriton, die sich mit Sokrates Tod auseinandersetzten, den Lehrer mit seinen Schülern kurz vor seinem Tod in seiner Zelle sitzend. Die Schüler sind besorgt um ihren alten Lehrer und fragen ihn, warum er nicht fliehe, es seien schon Vorbereitungen getroffen, ihm zur Flucht zu verhelfen. Sie können nicht verstehen, warum er bleibt und auf seinen Tod wartet - und das auch noch mit Zuversicht.

Darauf entgegnet er ihnen mit der Frage, ob sie dächten, daß man den Tod nicht erklären könne, und sagt: „Ist er aber etwas anderes als eine Trennung des Leibes und der Seele? - Sterben nämlich, heißt dies nicht, wenn die Seele den Leib, und der Leib die Seele dergestalt verläßt, daß sie keine Gemeinschaft untereinander mehr haben, und jeder für sich bleibet? Oder weißt du deutlicher anzuzeigen, was der Tod sei?“

Sokrates spricht also vom Tod nicht als Vernichtung unseres Daseins, sondern lediglich als Trennung der Seele vom Leib, und so entsteht ein Dialog über die Unsterblichkeit der Seele, den sich jeder Staatsbürger und künftige Staatsmann aneignen sollte, um in schwierigen Momenten Entscheidungen treffen zu können, die über sein eigenes Leben hinaus reichen.

Auch Mendelssohn erkannte das und sagte sich, dieser Dialog sei so wichtig für die Menschheit, daß er es verdiene, neu bearbeitet zu werden und die Entdeckungen mit einzubringen, die seit der Zeit Platon bis hin zu Mendelssohn gemacht wurden. Er übersetzte und bearbeitete also den Phädon neu. Dabei blieb der erste Teil bis auf Kleinigkeiten wie im Original, der zweite Teil wurde zur Hälfte so gelassen, wie er war, und die andere Hälfte wurde neu bearbeitet, und der dritte Teil wurde von Mendelssohn komplett neu geschrieben auf der Grundlage aller Entdeckungen, von denen man im 18 Jh. wußte.

Moses Mendelssohn hatte so viel Liebe für die Menschheit - die ihn nicht immer gut behandelt hatte -, daß er diesem Werk, in dem auch so schon jede Menge Arbeit steckte, auch noch eine Charakterbeschreibung des Sokrates voranstellte, damit der Leser den Gedanken des Dialogs nicht nur theoretisch folgen, sondern ihn miterleben könne. Es war ihm wichtig, den Leser des Phädon erkennen zu lassen, daß diese Überlegungen des Sokrates von einer wirklichen Person in realen Umständen stammten, und daß diese Person kein Heiliger war; seine Größe lag in seinem Menschsein. Denn jeder kann über den Tod reden, doch wie viel mehr Gewicht hat das, wenn es jemand ist, der den Tod ungerechterweise erleidet und ihn willentlich akzeptiert.

Wenn wir uns heute fragen, woran es unserer Gesellschaft wohl mangelt, dann sind es sicherlich diese Ideen. Solange wir nicht wieder eine Kultur bekommen, in der solche Ideen aktiv diskutiert werden, ist jeder Moment unseres Lebens nur ein momentanes Überleben, das nicht auf eine langfristige Entwicklung unserer Kräfte ausgerichtet und damit auch nicht in der Lage ist, den jetzigen Kindern und deren Kindeskindern eine glückliche Zukunft zu sichern.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Moses Mendelssohn - der Sokrates des 18. Jahrhunderts, wie er genannt wurde - uns durch sein Leben und Wirken klar aufzeigt, was es bedeutet, Mensch zu sein. Denn obwohl er als Jude des 18. Jh. aus den schlechtesten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen kam, schwang er sich auf zum Gründungsvater der deutschen Klassik und zum Befreier der Juden von ihrem Ghettojoch.

Für die deutsche Klassik leistete er zusammen mit Lessing die Vorarbeit, die den Grundstein für das Lebenswerk Schillers und zu gewissen Teilen auch Mozarts legte. Ohne die Arbeit dieser beiden Geister hätte Deutschland nie die Blüte erlebt, die weltweit so viele Früchte getragen hat.

Nicht zu vergessen ist auch die Leistung, die er für die Juden erbrachte, denn durch seine Netzwerke entstanden Schulen, die Renaissance der jiddischen Sprache und eine generelle Befreiung. Denn ohne Mendelssohns Kampf für geistige Befreiung im 18. Jh. wäre es undenkbar gewesen, daß Juden wie Rosa Luxemburg oder Walter Rathenau je in der Politik Gehör gefunden hätten, oder daß jemand wie Emil Rathenau die Elektrifizierung Deutschlands und den Aufstieg Berlins zu einer Wirtschaftsmetropole vorantreiben konnte.

Für jeden, der die Geschichte kennt, stellt der Angriff der Nazis und ihrer Vordenker der konservativen Revolution auf die Juden einen Angriff auf die klassische Tradition Deutschlands und auf Mendelssohns Lebenswerk dar. Wir dürfen solche Angriffe nicht noch einmal hinnehmen, denn genau so wenig wie alle Juden Bankiers sind, sind alle Muslime Terroristen oder alle Deutschen Nazis. Wir dürfen es nicht zulassen, daß wir statt einer sich entwickelnden Kultur eine Kultur des Dahinsiechens unter Drogen, Videospielen, Partys oder ähnlichem bekommen.

Immer, wenn ein Großteil der Bevölkerung aufhört, sich an der Verbesserung des Staates zu beteiligen, wird dieser von Korruption und Machtgier regiert. Also lassen Sie uns Mendelssohn als leuchtendes Beispiel aufgreifen und ihm folgen. Vielleicht sehen wir dann auch schon in ein paar Jahrzehnten wieder einen Schiller in Deutschland emporkeimen.


Anmerkung

1. Jiddisch ist eine dem Deutschen sehr eng verwandte Sprache. Jiddisch entstand, als die Juden im 14. Jh. aus Deutschland vertrieben wurden und sich im Osten ansiedelten. Sie behielten weiterhin als Umgangssprache Deutsch bei, aber über die Jahrhunderte vermischte es sich immer mehr mit Begriffen hauptsächlich aus dem Hebräischen, Russischen, Ukrainischen und Polnischen. Jiddisch ist aber eine eigenständige Sprache mit eigener Grammatik, es wird heute noch von ca. 5 Mio. Menschen gesprochen, und jeder von uns kennt noch Wörter die aus dem Jiddischen stammen, wie etwa Mischpoch – Familie, Sippe oder Schlimasl – Ärgernis, Unglück.


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