„Moses Mendelssohn war kein Heiliger, seine Größe lag in seinem Mensch sein“
Von Toni Kästner
Moses Mendelssohn kämpfte zusammen mit seinem Freund Lessing
für die Ideen von Leibniz und für die Emanzipation der Juden und der Menschen
insgesamt. Damit wurde er zum Wegbereiter der deutschen Klassik.
Der Lehrer und der Schüler
Der Lehrer: Du willst die Buße verschieben - Wohl! So lang es dir
gefällt.
Nur bessre dich einen Tag vor deinem Tode!
Der Schüler: Weiß ich den Tag, wann ich sterben werde!
Der Lehrer: Wenn du diesen nicht weißt, so ist kein andrer Rat,
als heute noch anzufangen
(aus Mendelssohns Proben Rabbinischer Weisheit)
G. W. Leibniz wurde 1646 am Ende des 30jährigen Kriegs geboren und
widmete sein Leben dem Wiederaufbau der europäischen Kultur und
Wissenschaftstradition, was nicht nur innerhalb Europas, sondern auf der ganzen
Welt zu einem Aufschwung führte. Leibniz konkretisierte zum ersten Mal, warum
der Mensch die Fähigkeit besitzt, sich in Kunst und Wissenschaft zu betätigen.
Durch die Beschäftigung mit dem menschlichen Geist entwickelte er das Konzept
der Glückseligkeit und zeigte so den Weg, den die Menschheit einzuschlagen
hat, wenn sie ihre Kinderkrankheiten wie Hungersnöte und Armut besiegen will.
Wie weit seine Ideen verbreitet waren, beweist am besten die
amerikanische Unabhängigkeitserklärung, deren gesamtes Gesetzesgebäude sich aus
dem Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit herleitet.
Das ist kein Zufall, wie manche glauben mögen, sondern ein direkter Bezug auf
das Konzept von Leibniz, wonach ein Staat nur dann längerfristig existieren
kann, wenn er den Fähigkeiten der Menschen gerecht wird.
Dies kann jeder einsehen, der sich einmal mit den Gründervätern der USA
auseinander gesetzt hat. Doch damals wie heute gibt es eine Fraktion, die
versucht, diese Ideen von der Bevölkerung fernzuhalten - aus Angst, ihre
eigenen Machtstrukturen zu verlieren, wenn sich die Menschheit entwickeln
würde. Leibniz starb 1716 mit 70 Jahren, und seine Gegner begannen sofort,
seine Ideen zu attackieren.
Die verlogensten dieser Gegner waren die Anhänger der Clique um
Maupertius und Voltaire in Berlin und Paris, die unter dem Deckmantel
scheinbarer Leibnizscher Schlagwörter Ideen verbreiteten, die bei genauerer
Betrachtung aber anti-leibnizianisch waren. Dies geschah durch Ausschreibungen
der Akademie der Wissenschaften zu gewissen Themen, die Ideen von Leibniz betrafen.
Diese Akademie war zwar ursprünglich von Leibniz gegründet worden, aber
nun war sie in seine Fürsprecher und seine Gegner gespalten. 1729 wurde dann
der Mann geboren, der einer von Leibniz’ größten Verteidigern und damit auch
zum Gründer der deutschen Klassik werden sollte, die die ganze Welt veränderte:
Moses Mendelssohn.
Keine einfachen Umstände
1729 geboren, wuchs Moses Mendelssohn in einer Zeit auf, die vom Kampf
um Leibniz’ Ideen geprägt war. Doch davon war im jüdischen Ghetto von Dessau,
in dem Moses heranwuchs, nichts zu spüren. Damals wurden die Juden in
Westeuropa nicht als Staatsbürger angesehen, sondern nur als eine unliebsame
Gruppe von Menschen, die lediglich dazu tauge, dem Staat Geld einzubringen. So
war es den Juden in Deutschland nur erlaubt, in den Ghettos der Städte zu
leben, was zu einer kompletten Absonderung der Juden von der übrigen
Bevölkerung des Staates führte.
In den Ghettos entstand eine Kultur, in der sich das geistige Leben
darauf reduzierte, die Tora, die heilige Schrift, oder die Kabbala, die Lehren
der jüdischen Mystik, auswendig zu lernen. Das höchste, was ein Jude damals
anstreben konnte, war, Rabbiner oder Arzt zu werden, jede andere Art von
höherer Bildung oder andere Berufe waren ihm verschlossen.
Eine weitere Folge der Gettoisierung der Kultur war, daß man damals in
den Ghettos hebräisch nur in Verbindung mit der Religion sprach, und die
Umgangssprache für alles andere Jiddisch war.1 Die jiddische Sprache
war aber zu jener Zeit noch sehr unterentwickelt, man konnte in dieser Sprache
keine höheren Ideen ausdrücken und schrieb gegebenenfalls hebräisch, was aber
wiederum der Großteil der Bevölkerung nicht verstehen konnte, weil es meist nur
im Zusammenhang mit dem Sabbat gesprochen wurde.
So wurden die Juden Opfer dessen, was W. Humboldt später so beschreibt:
„Was man nicht ausdrücken kann, kann man auch nicht denken.“ Mit anderen
Worten, die Juden Europas wurden damals durch ihre äußeren Umstände in ein geistiges
Gefängnis gezwungen, aus dem man nicht so leicht entrinnen konnte.
Gleichzeitig mußten sie immer fleißig Steuern und andere Abgaben
leisten, deren Irrsinnigkeit teilweise keine Grenzen zu kennen schien. So
wurden die Juden von Friedrich dem Großen dazu verpflichtet, für eine
festgelegte Summe Porzellan zu kaufen, das ihnen zugeschickt wurde, sie sich
also nicht einmal aussuchen durften. Dies erklärt, warum sich jahrzehntelang
zwölf Porzellanaffen im Besitz der Familie Mendelssohn befanden, die sich wohl
kaum irgend jemand freiwillig gekauft hätte.
Doch dies war nicht das einzige Gesetz, das die Juden benachteiligte.
Einige Gesetze waren bereits zu Mendelssohns Zeit über 300 Jahre alt. So war es
beispielsweise nach einem Beschluß aus dem 14 Jh. einem Rabbi verboten, seine
Schüler vor dem 25. Lebensjahr in Philosophie zu unterrichten. Wenn man
bedenkt, daß damals das Alter beim Eintritt in das Berufsleben bei 16 Jahren
oder noch darunter lag, kann man sich vorstellen, daß die wenigsten dann mit 25
Jahren noch Zeit hatten, sich mit Philosophie zu befassen. So waren die
Lebensbedingungen für die normale jüdischen Bevölkerung des 18 Jh.
wirtschaftlich und geistig sehr schlecht.
Mendelssohns Jugend
Dies nur vorweg, um zu zeigen, in welchem Klima Moses aufwuchs, denn das
soll uns als Ausgangspunkt dienen, um darüber zu reflektieren, wie einer der
größten Deutschen trotz solcher Schwierigkeiten seinen Weg ging, und daß es
nicht die schlimmen äußeren Umstände sind, die einen Menschen zum Handeln
antreiben, sondern die Begegnung mit den eigenen schöpferischen Fähigkeiten.
Schon früh entdeckte Moses, daß es mehr im Leben gibt als ein stupides
„So wie es immer war, wird es auch immer bleiben“. Denn obwohl sein Vater
wollte, daß er Händler wird, entschied sich Moses mit 14 Jahren, lieber dem
Menschen, der in ihm den schöpferischen Götterfunken entfacht hatte, nach Berlin zu folgen.
Dieser Mensch war Rabbi Fränkel, der seit frühester Jugend sein Lehrer
in der Talmudschule gewesen war. Dort hatte Fränkel - trotz der bestehenden
Gesetze - seinem jungen Schüler, der einer der wenigen Jungen war, die
hebräisch nicht nur lesen, sondern auch die Grammatik dieser Sprache
beherrschen wollten, mit den philosophischen und religiösen Werken des großen
jüdischen Denkers Moses Maimonides konfrontiert. Moses berichtet später seinen
Freunden, er glaube, daß er seinen Buckel nur Maimonides zu verdanken habe,
weil er nächtelang über dessen Werken saß und studierte.
Als nun Rabbi Fränkel 1743 nach Berlin berufen wurde, gab es für Moses
nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder der Süßigkeit der Wahrheit, die er durch
Fränkel und Maimonides gekostet hatte, zu entsagen und sich dem Ghettoleben
anzupassen - oder dem süßen Geschmack zu folgen und alle Konsequenzen dieser
Entscheidung, ob gut oder schlecht, zu tragen.
Nach einigem Hin und Her folgte Moses seinem Lehrer zu Fuß von Dessau
nach Berlin, 143 km ins Ungewisse. Das war damals nicht nur eine sehr
beschwerliche Reise, es war auch sehr gefährlich, wenn man Jude war, denn man
lief Gefahr, geschlagen, schikaniert oder gar umgebracht zu werden. Moses wußte
nicht einmal, ob die Berliner Behörden ihn überhaupt in die Stadt lassen würden.
In Berlin angekommen und aufgenommen, traf Moses Dr. Gumpertz, der ihn
in die Ideen Leibniz einführte und ihn später mit G. E. Lessing, der sein
lebenslanger Freund wurde, bekannt machte. Moses schrieb, er habe damals
versucht, in allen Bereichen zumindest ein Grundlagenwissen zu erlangen, obwohl
ihm das sehr schwer gefallen sei, weil er keine wirklichen Lehrer hatte. Denn
für Juden waren die normalen Schulen und Universitäten tabu. So wandete er sich
später um so stärker der Philosophie und vor allem den Ideen von Leibniz zu.
Als er dann auch noch durch Gumpertz’ Vermittlung in Lessing einen Gleichgesinnten
gefunden hatte, und beide zusehen mußten, wie die Akademie der Wissenschaften
begann, gegen die von ihnen so bewunderten Ideen von Leibniz vorzugehen, mußten
sie handeln.
Man hatte seit 1710 seitens der britischen Royal Society versucht,
Leibniz’ Ideen in Vergessenheit geraten zu lassen und sie durch die Ideen
seiner Gegner zu verdrängen. 1740 war die Akademie der Wissenschaften in Berlin
das letzte Bollwerk der Anhänger von Leibniz, das nun anfing, auseinander zu
fallen. 1748 war es dann soweit: Bei einem Preisausschreiben der Akademie
erhielt ein Aufsatz, von dem Euler freudig behauptete, er sei die beste
Widerlegung der Monadologie von Leibniz, den ersten Preis. Ein paar Jahre
später gewann dann ein Aufsatz von Pope, der Leibniz’ Konzept der Besten aller
möglichen Welten widerlegen sollte.
Nun konnten Mendelssohn und Lessing nicht mehr schweigen. Anonym
verfaßten sie - mit 21 und 22 Jahren - unter dem Titel „Pope, ein
Metaphysiker!“ eine Verteidigungsschrift für Leibniz’ Ideen; sie stellten Pope
bloß und Leibniz’ Ehre wieder her. So begann die lebenslange Freundschaft
zwischen Mendelssohn und Lessing, die durch ihre Beiträge den Grundstein für
die deutsche Klassik legten - der dritten großen Blütezeit der Menschheit nach
der griechischen Klassik und der italienischen Renaissance.
Kampf gegen Rousseau
Mendelssohn griff in mehreren seiner Schriften Rousseaus Kernaussagen
an. Rousseau, dessen Ideen später die Französische Revolution beeinflussen
sollten, war fest überzeugt, daß alles sittlich Schlechte nur durch die schönen
Künste und die Wissenschaften entstehe, da diese die kulturelle Dekadenz
beförderten. Mit diesen und ähnlichen Aussagen zielte er auf die Schöngeisterei
und Schwelgerei ab, die natürlich den Verfall einer Kultur beschleunigen.
In diesem Punkt gab Mendelssohn ihm auch recht, aber er fügte hinzu, daß
dies immer der Fall sei, wenn man schöne Dinge ohne Verstand behandle,
und daß wir lieber versuchen sollten, Verstand in die schönen Künste und die
Wissenschaften zu bringen, statt sie zu verdammen, denn die Möglichkeiten, die
sich uns durch Kunst und Wissenschaft eröffneten, zu verdammen, sei dasselbe,
wie das Menschsein selbst zu verdammen.
Weiter meinte Rousseau, es habe in der Geschichte Staaten gegeben, die auch
ohne Wissenschaft und schöne Künste eine sehr tugendhafte Bevölkerung besaßen,
und nannte als Beispiel ausgerechnet den Stadtstaat Sparta, dessen Bevölkerung
sich durch barbarische Wildheit definierte und deren Lebensumstände bis heute
sprichwörtlich sind. Daher zog er den Schluß, daß der wilde Mensch, der nichts
anderes kenne als Mitleid, der beste sei, und daß wir versuchen sollten, diesen
reinen, ursprünglichen Zustand des Nichtwissens wieder zu erlangen.
Deshalb versuchte Rousseau, den Menschen auf wissenschaftliche Art
zurück zu entwickeln und zu zeigen, daß alle Attribute, die wir dem Menschen
als von Gott gegeben zuschreiben, nur seiner evolutionären Entwicklung folgten
und ihn somit auch nicht grundsätzlich vom Tier unterschieden. Er sah beispielsweise
die Geselligkeit des Menschen als etwas Schlechtes an, da diese ihm zufolge zur
Dekadenz führe, zur Schöngeisterei, weil sie die Leute dazu antreibe, ihre
Nasen in die schönen Künste zu stecken und Wissenschaft zu betreiben.
Sein Vorhaben gelang ihm fast - aber nur fast. Denn wenigstens eines
mußte er dem wilden Menschen zugestehen: daß er von Anfang an von Gott die
Möglichkeit, Mitleid zu empfinden, als Attribut erhalten habe.
Mendelssohn griff diesen Punkt auf und sagte: Mitleid? - Ein
Mensch, der Mitleid empfindet, wird automatisch gesellig, weil sich Mitleid auf
Liebe stützt. Liebe ist gegründet auf der Lust an Harmonie und Ordnung, und
deswegen wünschen wir uns, daß dort, wo wir Vollkommenheit bemerken, sie dort
auch wächst, wo wir sie bemerkt haben. Geschieht das nicht, erweckt dies bei
uns eine Unlust, die wir Mitleid nennen. Das heißt, dort wo ein Mensch Mitleid
empfindet, hat er auch ein Interesse an dem zu bemitleidenden Gegenstand.
Im Falle eines Menschen bedeutet dies, daß er ein Interesse hat, die
Vollkommenheit eines anderen wachsen zu sehen. Wenn er sich dann auch noch
entschließt, dieses Wachstum in dem jeweiligen anderen Menschen zu befördern,
wird er fast von allein gesellig, und ein gesunder Mensch wird sich immer dafür
entscheiden, einen anderen zu verbessern und gesellig zu werden.
Doch für Rousseau stellte sich das von Anfang an anders dar, denn er
fragte sich „Was haben wir in der Gesellschaft gewonnen? Der Stand der
Geselligkeit ist mit gewissen körperlichen Schwachheiten, mit gewissen
lasterhaften Neigungen behaftet, davon der natürliche Mensch befreit ist.“ Mendelssohn
erwiderte darauf: „In dem gesitteten Leben entwickeln sich bei uns neue
Kräfte und erlangen ihre Wirklichkeit, die im Stande der Wildheit nicht mehr
als möglich gewesen sind.“ Doch Rousseau habe der Geselligkeit diesen Vorzug
nicht abgesprochen, er habe ihn nur für schädlich gehalten, stellte Mendelssohn
fest. Er hielt also die Kräfte, die der Mensch durch seine stetige Entwicklung
erwirbt, für gefährlich und zerstörerisch.
Auf diese Idee vom Menschen als einem Bazillus, der sich ständig
ausbreiten will, sich aber selbst beschränken muß, damit er nicht seine eigene
Petrischale zerstört und sich selbst vernichtet, entgegnete Mendelssohn:
„Eine jede Entwicklung unserer Kräfte ist eine Erweiterung unseres
Daseins, denn je mehr Kräfte sich bei einem Dinge äußern, desto größer ist der
Grad seiner Wirklichkeit. Wird nun unser Dasein erweitert, so kommen auch
gewisse neue Schranken zum Vorschein, die vorher noch mit der bloßen Fähigkeit
in der Grundbildung gleichsam zusammen gewickelt gelegen haben. Daher müssen
notwendig neue Mängel, neue Schwachheiten entstehen, wenn wir unseren Zustand
verbessern, wenn wir gesitteter werden. Soll uns dieses aber bewegen, die Verbesserung
selbst zu unterlassen? Keineswegs! [...] Es muß also unser Dasein (und kann
Rousseau dies in Zweifel ziehen?) immer noch mehr Gutes als Übles mit sich
bringen. Es muß besser sein, daß wir samt unserer Mängel vorhanden sind, als
wenn unsere Erschaffung unterbliebe wäre [...] Man klage den Schöpfer an oder
lasse den Menschen Gerechtigkeit widerfahren.“
Am Ende seines Aufsatzes schreibt er zusammenfassend an seinen Freund
Lessing:
„Bewundern Sie, bester Freund, die Harmonie der Wahrheit! Der geringste
Keim der Menschlichkeit, das mitleidige Gefühl, das Rousseau dem Wilden
eingestehen mußte, hat uns auf die Spur gebracht, ihn in alle seine Rechte
wiederum einzusetzen und sich zügellos über den Stand der Tiere zu erheben.“
Übersetzung der Tora
Es war dieses Wissen um den fundamentalen Unterschied zwischen Mensch
und Tier, das Moses Mendelssohn immer wieder dazu antrieb, nach Mitteln und
Wegen zu suchen, die Menschheit zu verbessern und denen zu helfen, die sich
allein nicht helfen konnten. So startete er ein Projekt, um die gesamte Bibel
zu übersetzen, doch er schaffte nur die fünf Bücher Moses, welche die Tora
bilden und die Grundlage des jüdischen Glaubens darstellen. Er übersetzte die
Tora ins Deutsche, das selbst nicht seine Muttersprache war, das er also erst
lernen mußte.
Wie gewissenhaft er beim Lernen dieser Sprache war, sieht man daran, daß
Moses Mendelssohn wohl ein besseres Deutsch sprach, als man es bis dahin
kannte, und das der Prosa eines Schillers in nichts nachstand.
Was ihn zu dieser Arbeit trieb, war die Überlegung, daß die Übersetzung
es den Juden leichter machen sollte, sich in den Staat zu integrieren. Er
wußte: Wenn zwei Völker in einem Staat leben und nicht dieselbe Sprache sprechen,
kann nie eine Verständigung zustande kommen, und so gab es bald schon eine
deutsche Tora, die in hebräischen Schriftzeichen geschrieben war, und kurz
darauf auch eine in lateinischen Buchstaben.
Die hebräischen Schriftzeichen sollten den Juden helfen, zunächst erst
einmal deutsch zu sprechen. So wollte Mendelssohn seinen Glaubensgenossen
helfen und sie vom Joch der Gettoisierung befreien, damit sie volle
Staatsbürger werden konnten. Gleichzeitig wirkte er auf die Politik
Deutschlands und speziell Österreichs ein, auf Kaiser Joseph II. von Österreich
und dessen Umfeld, in dem damals z. B. auch Mozart wirkte. Dies tat er immer
nur mit dem einen Ziel der Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung -
der jüdischen, wie der nicht jüdischen. Er betonte immer, daß nur dann das
Beste entstehen könne, wenn man es den Juden ermögliche, mit den Deutschen in
einen Dialog zu treten über die besten Aspekte ihrer Kulturen - und das gilt
offensichtlich für den Dialog zwischen sämtlichen Kulturen.
Universelle Idee für alle Menschen
Moses Mendelssohn erarbeitete zusammen mit seinem Freund Lessing zum
ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die universellen Prinzipien der
menschlichen Empfindungen. Sie leisteten die Vorarbeit, auf der dann die
bahnbrechenden Entdeckungen Friedrich Schillers fußten. Sie machten sich
Gedanken darüber, was Schönheit sei, und wodurch etwas von einem bloß
interessanten Gegenstand zum Gegenstand der Schönheit erhoben werde. Weiterhin
ging es ihnen um die Fragen: Was ist Empfindung, warum empfinden wir Mitleid,
und wie wird man erhaben?
Diese Fragen wollte sie aber nicht zum reinen Selbstzweck geklärt haben,
sondern, um Prinzipien zu verstehen, die dabei helfen können, Institutionen wie
das Theater und die Oper zu Instrumenten der Volksbildung zu machen. Denn schon
damals begann den Menschen bewußt zu werden, daß eine wahre politische
Veränderung nur von der Bevölkerung ausgehen kann, und daß dazu die Bevölkerung
auf dem höchst möglichen Stand des Wissens ihrer Zeit stehen muß, da ihre revolutionären
Kräfte sonst jederzeit von Gegenrevolutionären genutzt werden können, um Chaos
statt Ordnung zu erzeugen, so wie es bei der Französischen Revolution - im
Gegensatz zur Amerikanischen - geschah.
Schon Mendelssohns erstes Werk, der Phädon, mit dem er seinen
Einstand als Philosoph feierte, zielte darauf ab, die Menschen zu verbessern.
Dieser Dialog wurde im Original von Platon im 4. Jh. v.Chr. geschrieben und
handelte von dessen Lehrer, dem Philosophen Sokrates. Sokrates war zum Tode
verurteilt worden, weil er versucht hatte, die Jugend zu bilden, indem er
andere auf ihre Weisheit prüfte. Die Anklage lautete, er wolle die Jugend verderben.
So findet man im Phädon, dem dritten Teil der Dialoge nach der Apologie
und dem Kriton, die sich mit Sokrates Tod auseinandersetzten, den Lehrer
mit seinen Schülern kurz vor seinem Tod in seiner Zelle sitzend. Die Schüler
sind besorgt um ihren alten Lehrer und fragen ihn, warum er nicht fliehe, es
seien schon Vorbereitungen getroffen, ihm zur Flucht zu verhelfen. Sie können
nicht verstehen, warum er bleibt und auf seinen Tod wartet - und das auch noch
mit Zuversicht.
Darauf entgegnet er ihnen mit der Frage, ob sie dächten, daß man den Tod
nicht erklären könne, und sagt: „Ist er aber etwas anderes als eine Trennung
des Leibes und der Seele? - Sterben nämlich, heißt dies nicht, wenn die Seele
den Leib, und der Leib die Seele dergestalt verläßt, daß sie keine Gemeinschaft
untereinander mehr haben, und jeder für sich bleibet? Oder weißt du deutlicher
anzuzeigen, was der Tod sei?“
Sokrates spricht also vom Tod nicht als Vernichtung unseres Daseins,
sondern lediglich als Trennung der Seele vom Leib, und so entsteht ein Dialog
über die Unsterblichkeit der Seele, den sich jeder Staatsbürger und künftige
Staatsmann aneignen sollte, um in schwierigen Momenten Entscheidungen treffen
zu können, die über sein eigenes Leben hinaus reichen.
Auch Mendelssohn erkannte das und sagte sich, dieser Dialog sei so
wichtig für die Menschheit, daß er es verdiene, neu bearbeitet zu werden und
die Entdeckungen mit einzubringen, die seit der Zeit Platon bis hin zu
Mendelssohn gemacht wurden. Er übersetzte und bearbeitete also den Phädon
neu. Dabei blieb der erste Teil bis auf Kleinigkeiten wie im Original, der
zweite Teil wurde zur Hälfte so gelassen, wie er war, und die andere Hälfte
wurde neu bearbeitet, und der dritte Teil wurde von Mendelssohn komplett neu
geschrieben auf der Grundlage aller Entdeckungen, von denen man im 18 Jh. wußte.
Moses Mendelssohn hatte so viel Liebe für die Menschheit - die ihn nicht
immer gut behandelt hatte -, daß er diesem Werk, in dem auch so schon jede
Menge Arbeit steckte, auch noch eine Charakterbeschreibung des Sokrates
voranstellte, damit der Leser den Gedanken des Dialogs nicht nur theoretisch
folgen, sondern ihn miterleben könne. Es war ihm wichtig, den Leser des Phädon
erkennen zu lassen, daß diese Überlegungen des Sokrates von einer wirklichen
Person in realen Umständen stammten, und daß diese Person kein Heiliger war;
seine Größe lag in seinem Menschsein. Denn jeder kann über den Tod reden, doch
wie viel mehr Gewicht hat das, wenn es jemand ist, der den Tod ungerechterweise
erleidet und ihn willentlich akzeptiert.
Wenn wir uns heute fragen, woran es unserer Gesellschaft wohl mangelt,
dann sind es sicherlich diese Ideen. Solange wir nicht wieder eine Kultur
bekommen, in der solche Ideen aktiv diskutiert werden, ist jeder Moment unseres
Lebens nur ein momentanes Überleben, das nicht auf eine langfristige Entwicklung
unserer Kräfte ausgerichtet und damit auch nicht in der Lage ist, den jetzigen
Kindern und deren Kindeskindern eine glückliche Zukunft zu sichern.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Moses Mendelssohn - der Sokrates
des 18. Jahrhunderts, wie er genannt wurde - uns durch sein Leben und Wirken
klar aufzeigt, was es bedeutet, Mensch zu sein. Denn obwohl er als Jude des 18.
Jh. aus den schlechtesten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen kam,
schwang er sich auf zum Gründungsvater der deutschen Klassik und zum Befreier
der Juden von ihrem Ghettojoch.
Für die deutsche Klassik leistete er zusammen mit Lessing die Vorarbeit,
die den Grundstein für das Lebenswerk Schillers und zu gewissen Teilen auch
Mozarts legte. Ohne die Arbeit dieser beiden Geister hätte Deutschland nie die
Blüte erlebt, die weltweit so viele Früchte getragen hat.
Nicht zu vergessen ist auch die Leistung, die er für die Juden
erbrachte, denn durch seine Netzwerke entstanden Schulen, die Renaissance der
jiddischen Sprache und eine generelle Befreiung. Denn ohne Mendelssohns Kampf
für geistige Befreiung im 18. Jh. wäre es undenkbar gewesen, daß Juden wie Rosa
Luxemburg oder Walter Rathenau je in der Politik Gehör gefunden hätten, oder
daß jemand wie Emil Rathenau die Elektrifizierung Deutschlands und den Aufstieg
Berlins zu einer Wirtschaftsmetropole vorantreiben konnte.
Für jeden, der die Geschichte kennt, stellt der Angriff der Nazis und
ihrer Vordenker der konservativen Revolution auf die Juden einen Angriff auf
die klassische Tradition Deutschlands und auf Mendelssohns Lebenswerk dar. Wir
dürfen solche Angriffe nicht noch einmal hinnehmen, denn genau so wenig wie
alle Juden Bankiers sind, sind alle Muslime Terroristen oder alle Deutschen
Nazis. Wir dürfen es nicht zulassen, daß wir statt einer sich entwickelnden
Kultur eine Kultur des Dahinsiechens unter Drogen, Videospielen, Partys oder
ähnlichem bekommen.
Immer, wenn ein Großteil der Bevölkerung aufhört, sich an der
Verbesserung des Staates zu beteiligen, wird dieser von Korruption und
Machtgier regiert. Also lassen Sie uns Mendelssohn als leuchtendes Beispiel
aufgreifen und ihm folgen. Vielleicht sehen wir dann auch schon in ein paar
Jahrzehnten wieder einen Schiller in Deutschland emporkeimen.
Anmerkung
1. Jiddisch ist eine dem Deutschen sehr eng verwandte Sprache. Jiddisch
entstand, als die Juden im 14. Jh. aus Deutschland vertrieben wurden und sich
im Osten ansiedelten. Sie behielten weiterhin als Umgangssprache Deutsch bei,
aber über die Jahrhunderte vermischte es sich immer mehr mit Begriffen
hauptsächlich aus dem Hebräischen, Russischen, Ukrainischen und Polnischen.
Jiddisch ist aber eine eigenständige Sprache mit eigener Grammatik, es wird
heute noch von ca. 5 Mio. Menschen gesprochen, und jeder von uns kennt noch
Wörter die aus dem Jiddischen stammen, wie etwa Mischpoch – Familie, Sippe oder
Schlimasl – Ärgernis, Unglück.
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