Januar 2005 Jugendbewegung

Die Wirkung der Tragödie auf uns

Von Merv Fansler

Der Ausgang der Präsidentschaftswahl veranlaßte ein Mitglied der LaRouche-Jugendbewegung in den USA zu folgenden Gedanken "über die Notwendigkeit der LaRouche-Jugendbewegung".


Neue Möglichkeiten verwirklichen
Weggabelungen und die Wahl 2004

Warum ist die Tragödie so wirkungsvoll?

Das Scheitern des Formalismus

Führung oder nicht?

Friedrich Schiller schreibt in seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges:

    Schrecklich zwar und verderblich war die erste Wirkung, durch welche diese allgemeine politische Sympathie sich verkündigte - ein dreißigjähriger verheerender Krieg, der von dem Innern des Böhmerlandes bis an die Mündung der Schelde, von den Ufern des Po bis an die Küsten der Ostsee Länder entvölkerte, Ernten zertrat, Städte und Dörfer in die Asche legte; ein Krieg, in welchem viele Tausend Streiter ihren Untergang fanden, der den aufglimmenden Funken der Kultur in Deutschland auf ein halbes Jahrhundert verlöschte und die kaum auflebenden bessern Sitten der alten barbarischen Wildheit zurückgab.

    Aber Europa ging ununterdrückt und frei aus diesem fürchterlichen Krieg, in welchem es sich zum erstenmal als eine zusammenhängende Staatengesellschaft erkannt hatte; und diese Teilnehmung der Staaten an einander, welche sich in diesem Krieg eigentlich erst bildete, wäre allein schon Gewinn genug, den Weltbürger mit seinen Schrecken zu versöhnen. Die Hand des Fleißes hat unvermerkt alle verderbliche Spuren dieses Kriegs wieder ausgelöscht; aber die wohltätigen Folgen, von denen er begleitet war, sind geblieben. Eben diese allgemeine Staatensympathie, welche den Stoß in Böhmen dem halben Europa mitteilte, bewacht jetzt den Frieden, der diesem Krieg ein Ende machte. So wie die Flamme der Verwüstung aus dem Innern Böhmens, Mährens und Österreichs einen Weg fand, Deutschland, Frankreich, das halbe Europa zu entzünden, so wird die Fackel der Kultur von diesen Staaten aus einen Weg sich öffnen, jene Länder zu erleuchten.

Dieser Absatz zeigt den Geistesadel, den Schiller in allen seinen Werken ausstrahlt - eine Charaktereigenschaft, die man in unserer heutigen Welt selten findet und die doch so wesentlich ist, daß keine Nation ohne solche Menschen überleben kann.

Neue Möglichkeiten verwirklichen

Schiller liefert in seiner Schrift ein wesentliches Verständnis der Subjektivität der Geschichte. Bei jeder klassischen Komposition oder Aufführung konzentriert sich der Künstler auf die subjektive Entwicklung der Komposition auf der Bühne oder in der Einbildung der Zuschauer. Der wahre Wirkungsbereich aller Künstler ist der Geist des Publikums, der sich mit der Entfaltung der Komposition auf gesetzmäßige Weise so verändert, daß ihm die Prinzipien der wahrgenommen Veränderungen vermittelt werden. Die Aufgabe des Komponisten besteht darin, diese Geistesmassen, die er in den Geist des Publikums trägt, so zu verwenden und zu verändern, daß neue Möglichkeiten höher geordneter Geistesmassen erzeugt werden.

Schiller deutet in seiner Schrift die subjektive Entwicklung neuer Möglichkeiten der Bevölkerung an. Er betrachtet den Dreißigjährigen Krieg nicht als "objektiver Berichterstatter", sondern macht einsichtig, wie diese geschichtliche Entwicklung Beziehungen innerhalb der Menschheit möglich machte, die sich die breite Bevölkerung vorher nicht vorstellen konnte.

Schiller verweist auf den Zusammenhang mit der Reformation:

    Die Verschiedenheit der Verfassung, der Gesetze, der Sprache, der Sitten, des Nationalcharakters, welche die Nationen und Länder in eben so viele verschiedene Ganze absonderte und eine fortdauernde Scheidewand zwischen sie stellte, machte den einen Staat unempfindlich gegen die Bedrängnisse des andern, wo ihn nicht gar die Nationaleifersucht zu einer feindseligen Schadenfreude reizte. Die Reformation stürzte diese Scheidewand. Ein lebhafteres, näher liegendes Interesse als der Nationalvorteil oder die Vaterlandsliebe, und welches von bürgerlichen Verhältnissen durchaus unabhängig war, fing an, die einzelnen Bürger und ganze Staaten zu beseelen. Dieses Interesse konnte mehrere und selbst die entlegensten Staaten miteinander verbinden, und bei Untertanen des nämlichen Staats konnte dieses Band wegfallen. Der französische Calvinist hatte also mit dem reformierten Genfer, Engländer, Deutschen oder Holländer einen Berührungspunkt, den er mit seinem eigenen katholischen Mitbürger nicht hatte. Er hörte also in einem sehr wichtigen Punkte auf, Bürger eines einzelnen Staats zu sein, seine Aufmerksamkeit und Teilnahme auf diesen einzelnen Staat einzuschränken. Sein Kreis erweitert sich; er fängt an, aus dem Schicksale fremder Länder, die seines Glaubens sind, sich sein eigenes zu weissagen und ihre Sache zu der seinigen zu machen.
Dieser Wandel in der Bevölkerung lieferte die Grundlage dafür, daß Kardinal Mazarin 1648 den Westfälischen Frieden erreichen konnte. Dieser Vertrag steht in unserer Geschichte für die Verwirklichung des Potentials der Menschheit, die Vorstellung einer Ideengemeinschaft souveräner Nationen zu begreifen und nach dem Prinzip des "Vorteils des anderen" zu handeln. Wer Gutes tun will, sucht ständig nach neuen Möglichkeiten im Geist der Menschen. Das meinte Percy Shelley, als er schrieb: "In solchen Zeiten gibt es vermehrt die Fähigkeit, tiefgehende und leidenschaftliche Gedanken über Mensch und Natur zu vermitteln und aufzunehmen."

Weggabelungen und die Wahl 2004

Dieses Forschungsgebiet ist daher unter den gegenwärtigen Bedingungen für jeden ernsthaften Bürger von größter Wichtigkeit.

An der Weggabelung der Präsidentschaftswahl 2004 gab es zwei mögliche Wege (einmal abgesehen von extremen Umständen): 1. die Wahl John Kerrys oder 2. die Wiederwahl George W. Bushs. Die praktischen Folgen des jeweiligen Ausgangs entscheiden darüber, in welche Richtung man den Weg an der Weggabelung zu beeinflussen sucht. Aber die Bedeutung einer Weggabelung ist nicht auf diese praktischen Dinge begrenzt. Der strategische Denker muß auf beide Ausgänge vorbereitet sein und verstehen, welche jeweiligen Möglichkeiten ihre Geometrien erzeugen. Das eigene Handeln muß schon vorher darauf ausgerichtet sein, die Verwirklichung dieser neuen Möglichkeiten zu fördern.

In dem besonderen Fall: Wäre John Kerry gewählt worden, so hätten die Amerikaner, besonders die Jugend, das Gefühl bekommen, daß sie den Ausgang geschichtlicher Entwicklungen beeinflussen können. Sie hätten den potentiellen Einfluß von Lyndon LaRouches Organisation, seiner Mitarbeiter und der LaRouche-Jugendbewegung besser erfassen können. Doch so ist es bekanntlich nicht gekommen.

Nun bleibt die Frage: Welches neue, vorher noch nicht vorhandene Potential gibt es nun, nachdem George W. Bush eine weitere Chance bekommen hat, sich den Beinamen "schlechtester Präsident aller Zeiten" zu verdienen? Was war das fehlende Prinzip, das diese Richtung überhaupt möglich machte?

Ich will hier einen Gedanken einflechten, der später klar werden wird. Den folgenden Text sollte man in Verbindung mit Schillers Schrift Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen lesen, wo der Gedanke viel reicher ausgearbeitet worden ist.

Warum ist die Tragödie so wirkungsvoll?

Was ist es, was uns den Verlust eines geliebten Menschen so schmerzlich macht? Warum empfinden wir diesen Schmerz? Weil wir uns danach sehnen, sein Lächeln zu sehen oder seine Lippen zu küssen? Etwas so geringes halte ich kaum für so edel, daß es ein so großer Schöpfer in die Menschenseele einschriebe. Ist es die Erinnerung an die gemeinsamen Augenblicke, die nicht mehr wiederkehren können? Ihre sinnliche Abwesenheit macht die Zukunft düster, aber nein: Der Mensch hat zwar am Sinnlichen teil, ist aber nicht darauf begrenzt.

Was ist mit der ständigen Harmonie, in der die Seele ihr eigenes Dasein erfährt und Trost findet, auch wenn Ozeane zwischen ihr und dem geliebten Menschen liegen? Das ist ein edler Gedanke, denn der Verlust erinnert uns an die Zeit, in der wir Gott verlassen und die Seele in elender Einsamkeit umherirrt, weil sie weder in anderen noch in sich Schönheit kennt. Und doch ist damit nur eine Eigenschaft der Seele herausgefordert, aber nicht ihr innerstes Wesen. Was vernichtet die Seele als solche? Findet sie nicht, wie Gott, Leben in dem, was sie erschafft? Liegt nicht die Unsterblichkeit der Seele in ihrem Nachleben?

Man stelle sich einen großen Komponisten vor. Durch seine weise Kenntnis der Höhen und Tiefen von Wohlklang und Mißklang und ihrem richtigen Verhältnis zum Geist rührt und bewegt er die Menschen. Im Klang komponiert er einen Spiegel, durch die der Mensch die Schönheit in sich selbst sieht. Über die Tonkunst erhöht und veredelt er die Vorstellung des Menschen von sich. Der Komponist sieht seinen Lebenssinn in dieser Kraft, den Menschen zu rühren. Jetzt stelle man sich vor, dieses Medium stirbt. Denken wir uns, daß alle Zuhörer praktisch ertauben. Sie seien gegenüber allen Klängen völlig gleichgültig. Sein größtes Werk ist wirkungslos geworden. Stellen wir ihn uns vor: Welch schrecklicher Fluch lastet auf ihm? Was einst das Edle im Menschen wiederspiegelte, ist nun leere Luft. Seine Leidenschaft brennt noch, aber seine Kraft, diese Liebe auszudrücken, ist dahin. Denn der Hörer kann sein Lied nicht mehr hören. Das ist der oder die tote Geliebte für den Geliebten. Aber jetzt ist die neue Herausforderung: die größere Kunst zu finden.

Das Scheitern des Formalismus

Bei dieser Frage müssen wir ähnliche Vorsicht walten lassen wie jeder Wissenschaftler, der in Formalismus "gut ausgebildet" wurde und später diesen Formalismus wieder abgeschüttelt hat. Der Formalist will Erscheinungen auf der Grundlage von a priori-Regeln erklären. Das Scheitern dieser Methode stellt sich dem Reduktionisten in Form paradoxer Ereignisse und Verhaltensweisen, die aus der Sicht der angenommenen Axiome nicht erklärbar sind. Die gewöhnliche Reaktion ist dann, in das Regelwerk eine an den Haaren herbeigezogene neue Kraft aufzunehmen, die jeden möglichen Zweifel am glorreichen System wegredet. Tatsächlich war es aber das Festhalten am System, was das Paradox überhaupt erst entstehen ließ.

Dies veranschaulicht die folgende Geschichte.

Ein Jäger kommt mit einem großen blutigen Verband am rechten Bein in die Notaufnahme. Die Krankenschwester fragt: "Was fehlt Ihnen?"

Er beginnt: "Um das zu verstehen, müssen Sie wissen, daß mich mein Vater mit zwölf Jahren zum erstenmal in den Jagdverein mitnahm, damit ich meinen Jagdschein machen konnte. Anschließend - "

Sie unterbricht: "Nein, mein Herr, was ist mit Ihrem Bein los?"

"Sie verstehen das nicht. Ich bin heute morgen um halb fünf - das ist meine übliche Zeit, wenn ich jagen gehe - aufgestanden, um vor den Hirschen im Unterholz zu sein. Zum Frühstück habe ich..."

"Das ist alles schön und gut, aber warum bluten Sie?! Ist es eine Stich- oder Schußwunde?", fragt sie eindringlicher.

"Sie verstehen das nicht. Ich... ich...", will er noch sagen, als er ohnmächtig niedersinkt und kurz darauf stirbt.

Im Bericht des Gerichtsmediziners heißt es: "Todesursache: Blutverlust durch selbstverschuldete Schußwunde im rechten Bein."

Denken wir uns nun die "Wahlexperten" der Demokratischen Partei in der Rolle des Jägers. Wenn man sie fragt: "Warum hat Kerry die Wahl verloren?", antworten sie solchen Unsinn wie: "Sie verstehen nicht, wie die jungen Leute denken. Wir hätten im Wahlkampf mehr Popstars gebraucht ..."

Wenn man nachhakt, heißt es: "Sie verstehen das nicht. Dem Volk waren 'moralische' Fragen wichtiger als Wirtschafts- oder Außenpolitik."

Hier sollten wir eingreifen: "Merken Sie denn nicht, was los ist? Es ist doch offensichtlich: Sie haben sich selbst ins Bein geschossen."

Der Formalist scheitert, weil er die subjektive Entwicklung von Ideen (den Erkenntnisprozeß), die wahre ontologische Paradoxe erzeugt, leugnet. Er leugnet den Vorrang der Erkenntnis im Universum (also die Seele).

In ganz ähnlicher Weise spiegeln die törichten Erklärungsversuche nach der Wahl ein Leugnen der Erkenntnis wieder. Man leugnet nicht nur, daß es eine Bevölkerung gibt, die eine Seele hat, der Wahlanalyst tut auch so, als habe er selbst keine Seele. Unser Jäger will seine eigene Vernunft nicht wahrhaben, weil er Angst hat, sich selbst dafür verantwortlich zu machen, daß er sich ins Bein geschossen hat.

Führung oder nicht?

Das Versagen der Demokratischen Partei liegt vor allem in der subjektiven Frage der Führung. Als die Nationen der Welt Führung forderten, füllte man die Leere mit demselben Populismus, der diese Führung erst notwendig machte. Nun ist die Leere und Notwendigkeit noch viel größer. Die große Herausforderung für jeden Staatsmann ist eine subjektive. Wie Xenophon muß er erkennen: Wenn ein Volk am Punkt größter Schwäche und Anfälligkeit angelangt ist, kurz vor der endgültigen Niederlage, ist sein Überlebenswille potentiell am stärksten. Das größte Potential, das höchste Gottesbild zu schaffen und über das innerste Wesen der Seele nachzudenken, erringen die Menschen in den Augenblicken größten Leidens. Ein großer Staatsmann bewegt ein Volk durch die Kraft der Liebe, indem er ihnen zeigt, daß auch er von Liebe angetrieben ist. Er veredelt ihr Sein und zeigt ihnen ihre eigenen Seelen, indem er die seine mit ihnen teilt. Er begeistert sie für das, was möglich ist, und führt ihren "Zug der Zehntausend". (Xenophon, Anabasis)

Zu dieser bescheidenen Pflicht wird der Staatsmann gerufen; alles andere überlassen wir Gottes Hand.

Al Baqara (Die Kuh), aus dem Koran, 2,30:

Einst sprach dein Herr zu den Engeln: "Ich setze auf der Erde jemanden ein, dem ich die Herrschaft darüber verleihe." Die Engel erwiderten: "Setzt Du dorthin einen, der Unheil stiftet und Blut vergießt, während wir Dich preisen und Deine Heiligkeit rühmen?" Gott sprach: "Ich weiß, was ihr nicht wißt!"


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