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  Bildungspolitik

Was tun gegen schwindende Mathe-Kenntnisse?

von Rosa Tennenbaum (Stellvertr. Vorsitzende des Schiller-Instituts)

 

Ein Gelehrter hat zwei Vaterländer: sein eigenes und Deutschland, hieß es bis in unser Jahrhundert hinein. Das deutsche Bildungssystem genoß einen fast sagenhaften Ruf in der Welt; das Niveau, auf dem der Schüler die Schule verließ, galt in anderen Ländern als unerreichbar. Er war umfassend gebildet in Latein und mindestens zwei weiteren Sprachen, in Deutsch, Geschichte, den Naturwissenschaften, um die herum sich die anderen Fächer gruppierten; er war an wissenschaftliches Denken herangeführt, an selbständiges geistiges Arbeiten gewöhnt worden. In der Oberstufe des Gymnasiums war der Lehrer immer weiter in den Hintergrund getreten und fast entbehrlich geworden; er hatte die selbständigen Leistungen des Schülers nur noch begleitet und darauf geachtet, daß der Schüler nicht einseitig seinen Neigungen für dieses oder jenes Fach zu Lasten der Allgemeinbildung erlegen war. Auf dieser Grundlage stand dem Schulabgänger die ganze Berufswelt weit offen, er konnte sich überall zurechtfinden, sich nun jede beliebige fachliche Qualifikation schnell aneignen.

Kaum mehr als sechs Jahrzehnte liegen zwischen uns und dieser märchenhaft anmutenden Zeit, doch in Wirklichkeit trennen uns Lichtjahre davon. Heute erreicht ein deutscher Schüler bei internationalen Bildungsvergleichen gerade noch mit Mühe und Not das untere Mittelfeld; in den Naturwissenschaften sind seine Leistungen z.B. mit denen, die Schüler in den asiatischen Ländern erbringen, gar nicht mehr zu vergleichen, da das mathematische Verständnis sich auf zwei qualitativ ganz unterschiedlichen Ebenen bewegt. Ähnliches gilt für deutsche Universitäten; auch sie belegen in den meisten Fächern nur hintere Plätze. Ganz zu schweigen von den alltäglichen Hiobsbotschaften, die von wachsender Orientierungslosigkeit, Gewalt, Jugendkriminalität usw. berichten.

Auch das Verhalten der Bildungsminister ist von Hilflosigkeit und peinlichem Unwissen geprägt. Typisch dürfte die Art und Weise sein, mit der die Kultusminister auf die Ergebnisse der dritten internationalen Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie (Third International Mathematics and Science Study, TIMSS), die die Leistungen der Schüler in den verschiedenen Ländern miteinander vergleicht, reagierten. Das Ergebnis der ersten Runde der Untersuchungen des letzten Jahres war niederschmetternd: Deutschland belegte selbst in den naturwissenschaftlichen Fächern nur die unteren Ränge. Ein Aufschrei ging durch das Land. Die Kultusminister traten zu einer Krisensitzung zusammen, um über die mißliche Lage zu beraten. Das Ergebnis waren salbungsvolle Worte für die Öffentlichkeit und eine nichtöffentliche interne Anweisung, daß vor den nächsten Überprüfungen im Rahmen der TIMSS die Lehrer die dort gestellten Aufgaben zuvor mit den Schülern einzuüben hätten.

In der Zwischenzeit liegen die Ergebnisse der zweiten Runde der Vergleichsstudie vor, und sie belegen diese niedrige Bildungsniveau aufs Neue. Dabei wird der Schwierigkeitsgrad der Aufgaben als "eher schlicht" eingestuft. So lautete z.B. eine Aufgabe: "100 Gramm einer Speise haben 300 Kalorien. Wie viele Kalorien haben dann 30 g derselben Speise?" Als Antwort waren 90, 100, 900, 1000 oder 9000 anzukreuzen. Die Aufgabe "Der Preis einer Dose Bohnen wird von 60 Pfennig auf 75 Pfennig erhöht. Um wieviel Prozent ist der Preis gestiegen?" konnten in der siebten Klasse nur 27%, in der achten 32% der Schüler richtig lösen.

Dabei wird vor allem bemängelt, daß der Schüler das konzeptionelle Verständnis für naturwissenschaftliches Arbeiten fast ganz verloren hat. Er kann Ideen und Verfahren, die er an einem konkreten Beispiel gelernt hat, nicht mehr auf die nächste, etwas anders gerichtete Aufgabe übertragen. So bleibt ihm nur, bei jeder Aufgabe neu die Lösungsschritte auswendig zu lernen und zu hoffen, daß er zufällig die richtige Antwort ankreuzt.

Den Schülern und Studenten ist dabei wohl am wenigsten vorzuwerfen -- sie werden so begabt oder unbegabt, so strebsam oder faul sein, wie es Schüler immer waren. Schuld an dieser Bildungsmisere sind vielmehr diejenigen, welche die Schule in den letzten 30 Jahren als Spielwiese für ihre ideologischen Luftschlösser benutzt haben. Dreißig Jahre lang wurden die Schulen regelrecht kaputtreformiert, wurden sie mehr und mehr von Lerninhalten gesäubert und zum Versuchsfeld ideologischer Beglückungstheorien umfunktioniert. Obwohl diese reformpädagogischen Erlösungslehren in der Praxis gründlich widerlegt wurden, wird unverdrossen weiter an der Bildung herumgebastelt, wird ohne jedes Konzept bald diese, bald jene Idee dem staunenden Publikum präsentiert, die zudem alle ausschließlich das Ziel verfolgen, möglichst viel Geld einzusparen.

Nun soll die Schule vom "antiquierten Lehrinstitut" zum "gemeinsamen Lebensraum von Lehrberatern und Schülern" umfunktioniert werden, lautet einer dieser Vorschläge. Das Beste daran sei, daß man künftig keine Fachlehrer mehr brauche; Lerncomputer, ausgestattet mit einer guten Software, könnten den Stoff viel besser vermitteln als Fachlehrer, heißt es. Wahrscheinlich liegt hier der Grund für die Begeisterung unseres Bundesbildungsministers für die Verkabelung der Schulen. Der Lehrer soll zum Lernberater werden; für diese Aufgabe muß er nicht mehr in speziellen Fächern ausgebildet werden, sondern nur noch Wissen in Sozialpädagogik, Lernpsychologie und Präventionspädagogik aufweisen. Soziales Lernen lautet das Schlagwort. Die Zeit, die dann für gemeinsames Frühstück, gruppenpsychologische Gespräche u.ä. nötig ist, steht natürlich nicht mehr zum Erlernen von "antiquiertem" Fachwissen zur Verfügung.

Andere Vorschläge wie der Ruf nach spezieller Begabtenförderung oder der Einrichtung sogenannter Profilklassen, in denen begabte Schüler der Oberstufe in den Naturwissenschaften auch von Professoren der Humboldt-Universität unterrichtet werden sollen, machen nur auf den ersten Blick Eindruck; sie versuchen nur, die Symptome zu kurieren und nicht die Ursache. Wie man sich auch dreht und wendet: Wir brauchen eine fundamentale Reform unseres Bildungs- und Erziehungswesens, wenn wir nicht zu einem Volk von großmäuligen Halbgebildeten absinken wollen, und wir brauchen sie bald. Die große Bildungs- und Schulreform des Wilhelm von Humboldt, die dieses Land Anfang des 19. Jahrhunderts revolutionierte und ihm die erste Stelle unter den gebildeten Nationen der Welt verschaffte, bietet dabei äußerst fruchtbare Ansätze, um die heutige Bildungsmisere zu lösen.


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