Die Rolle des Panafrikanismus in einer multipolaren Welt
Von Henda Diogène Senny,
Präsident der Panafrikanischen Liga – UMOJA (LP-U)
Die Rede wurde nach dem vorbereiteten französischen Manuskript
übersetzt, die Zwischenüberschriften sind original.
Liebe Redner, liebe Konferenzteilnehmer, liebe Gäste,
im Namen unserer Organisation Panafrikanische Liga – UMOJA danke ich dem
Schiller-Institut für die Gelegenheit, bei dieser wichtigen internationalen
Konferenz zu sprechen. Ich möchte auch allen Rednern für die Qualität ihrer
Beiträge danken, bevor ich das Wort ergreife.
I. Einleitung
Meine Damen und Herren,
Das Hauptthema dieser Konferenz lautet „Die Zukunft der Menschheit als
kreative Gattung im Universum“, und da dies ein wissenschaftliches Forum ist,
wird sich meine Rede ebenso auf geopolitische, ideologische und ökonomische
Fragen wie auf Fragen der afrikanischen Weltraumpolitik beziehen.
Geopolitik und Ideologie
Es ist auf den Tag genau eine Woche her, daß die gesamte Welt den Fall der
Berliner Mauer feierte. Dieses Ereignis, das als das wichtigste am Ende des
20. Jahrhunderts gilt, hat viele Politiker und Intellektuelle dazu bewogen,
von einer neuen Ära des Friedens, des Glücks und des Wohlstands zu reden, die
sich für die Menschheit eröffne.
In gleicher Weise war der amerikanische Politologe Francis Fukuyama so
verwegen, eine mittlerweile berühmte Schrift unter dem Titel „Das Ende der
Geschichte“ zu veröffentlichen. Im Großen und Ganzen bedeutet „das Ende der
Geschichte“ soviel wie das Ende des Kalten Krieges, den ideologischen und
endgültigen Sieg der Demokratie und des Liberalismus über die anderen
politischen Ideologien.
Es ist wahr, daß das Ende des Kalten Krieges in vielerlei Hinsicht für
einen Teil der Menschheit ein bedeutendes historisches Ereignis war, aber ist
es auch ganz bestimmt falsch, daß es der Beginn des Wohlstands und des Glücks
für alle dank des Neoliberalismus war. Man kommt nicht umhin anzuerkennen, daß
der Fall der Berliner Mauer die Krebsgeschwulst nicht beendet hat, die die
modernen Staaten vergiftet, nämlich die Geopolitik.
Erinnern wir uns doch zumindest daran, daß die Berliner Mauer Ergebnis der
Konfrontation der folgenden beiden geopolitischen Logiken war:
- der Geopolitik des Meeres für England, die von seiner Insellage
herrührte und die verhindern sollte, daß es von einer der großen kontinentalen
Mächte (Frankreich oder Deutschland) beherrscht würde. Daher wurde England zur
Gebieterin der Meere und kontrollierte die entscheidenden Küstenpunkte von der
Ostsee bis China: Gibraltar, das Kap, Suez, Aden, Hormus, Singapur etc. Diese
Geopolitik des Meeres sollte es der britischen Krone erlauben, über das größte
Kolonialreich zu verfügen;
- der Kontinental- oder Festungsgeopolitik Deutschlands und Rußlands.
Nehmen wir nur das Beispiel Deutschlands, das umschlossen und erdrückt war
zwischen der Geldherrschaft des Westens und den slawischen Ländern;
enttäuscht, vom Kolonialbesitz nichts außer Kamerun und Togo abbekommen zu
haben; geplagt von der Unzulänglichkeit seiner Gebiete, ist sein Alptraum,
einer Koalition gegenüberzustehen, die die Kolonialreiche wie England und
Frankreich und zusätzlich Rußland vereint. So richtete Deutschland seine
Strategie auf die kontinentale Geopolitik aus, um einen Lebensraum zu bilden,
der ihm ein echtes Reich sicherstellt. Wilhelm II. und Bismarck beginnen mit
der Arbeit, und das Dritte Reich wird die Idee bis zur Neige verfolgen.
Nun aber, 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, sind alle alten
Geopolitiken wieder da. Die Welt ist niemals so voller Konflikte gewesen. Es
versteht sich übrigens von selbst, daß zwischen den Nationen in Bezug auf
Produktion und Konsum ein erschreckendes, klaffendes Ungleichgewicht herrscht,
das unaufhörlich zunimmt. Die einen sind reich durch die Armut der
technologisch schlechter Ausgestatteten, und die anderen sind arm durch den
Reichtum der besser Ausgestatteten.
Ideologie und Wirtschaft
Für uns Afrikaner bedeutete das Ende des Kalten Krieges einen neuen
historischen Betrug, ein falsches Versprechen, wie es schon der Fall war mit
der nominellen Unabhängigkeit während der 1950er und 60er Jahre. Denn 20 Jahre
nach dem berühmten Jahr der Unabhängigkeiten, d.h. zu Beginn der 1980er Jahre,
hatten die Schuldenkrise und in ihrem Gefolge die Strukturanpassungsprogramme
des Weltwährungsfonds (IWF) die wenigen, vorsichtigen Anstrengungen, die
afrikanischen Staaten nach der Unabhängigkeit wieder aufzurichten, bereits
untergraben.
Die 1990er Jahre, eingeleitet durch den Fall der Berliner Mauer, eröffneten
für die Afrikaner eine neue Serie von Täuschungen. Von nun an liegt das Heil
in freien und transparenten Wahlen, ohne jemals nach Souveränität zu fragen.
Bei Wahlen ohne Souveränität, die jedesmal angezweifelt werden, folgt jeder
Wahlgang einer polemischen Logik – Chaos und Krieg mit irreparablen Schäden
sind nicht weit entfernt.
Dennoch folgen alle politischen Akteure, was auch immer der politische
Konflikt ist, sobald sie an der Macht sind, dem neuen neoliberalen
Gebetbuch vom Ende der Geschichte, das Francis Fukuyama so lieb und teuer
ist, nämlich dem Washingtoner Konsens – das einzige Wirtschaftsprogramm, dem
IWF und Weltbank zustimmen.
Was heißt das? Der Washingtoner Konsens, systematisiert 1989 durch den
Chefökonomen und Vizepräsidenten der Weltbank John Williamson, besteht darin,
den Weisungen des IWF zu den Strukturanpassungsprogrammen Priorität zu geben
und sie sogar noch zu verschärfen, nämlich:
- die schnellstmögliche Beseitigung jedweder staatlicher
Regulierung,
- die völlige Liberalisierung der Märkte für Güter, Kapital,
Dienstleistungen...,
- die baldige Errichtung eines sich selbst regulierenden
Weltmarkts...
Und das alles, selbstverständlich, zum Nachteil öffentlicher Investitionen
in Gesundheit, Bildung und der für die wirtschaftliche Entwicklung
unverzichtbaren Infrastruktur.
So also sieht, kurz und bündig, die Wirklichkeit des Triumphes der
neoliberalen Welt nach dem Kalten Krieg aus!
Afrika und die Fragen der Raumfahrt
Hat Afrika trotz dieser schwierigen Situation Ehrgeiz in der Raumfahrt, die
eine Reihe von Problemen im Zusammenhang mit Telefonie, Fernsehen, Radio,
Internet, GPS oder der wissenschaftlichen Forschung lösen könnte? Tatsächlich
ist die wissenschaftliche Beherrschung des Weltraums eine Frage der
Demokratie, denn sie erlaubt die Senkung von Transportkosten und den Zugang zu
einer Vielzahl grundlegender Rechte.
Einige afrikanische Länder ragen dabei heraus. Ohne Anspruch auf
Vollständigkeit kann man z.B. Angola, Nigeria, Ghana, Südafrika oder Kenia
nennen. Wegen der sehr hohen Kosten wenden sich afrikanische Länder immer an
die Vereinigten Staaten, Frankreich, Rußland, Indien oder China, um sich einen
Satelliten zuzulegen.
Genau deshalb treten wir in jeder Hinsicht für die Vereinigten Staaten von
Afrika ein. Sie könnten nicht nur die Schwierigkeiten der Kosten und der
Rationalisierung des Besitzes eines Satelliten für jedes Land regeln, sondern
vor allem auch das Problem der wachsenden Unsicherheit zwischen Nachbarn,
sobald einer über einen Satelliten verfügt.
Zum Abschluß
Meine Damen und Herren,
Wir setzen dem fatalistischen Konzept des „Endes der Geschichte“ das
der Geschichtlichkeit (Historicité) entgegen. Die Geschichtlichkeit ist
ein natürliches Vorrecht des Menschen – ein Bewußtsein darüber, daß man in der
Geschichte lebt. Das bewirkt eine tatsächliche und sinnvolle Solidarität, die
die Vergangenheit und die Zukunft mit der Gegenwart vereint und den Vormarsch
einer Freiheit motiviert, die die Zukunft durch einen schöpferischen Akt
hervorzubringen sucht.
30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer entwickelt die Menschheit ihren
kriegerischen und militaristischen Geist unablässig weiter, kalt und
berechnend. Das absehbare Ende wäre der allgemeine nukleare Tod, die gewaltige
Zerstörung der zeitgenössischen Zivilisation.
30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer haben die verschiedenen,
vielfältigen Täuschungsmanöver bezüglich „transparenter Wahlen“, ohne daß
jemals die Frage nach der Souveränität gestellt wird, Afrikas Jugend
desillusioniert. Diese afrikanische Jugend, der entscheidende Hebel für die
Zukunft Afrikas, hat sich immer mehr den historischen Gestalten des
afrikanischen Patriotismus zugewandt: Barthélémy Boganda aus der
Zentralafrikanischen Republik, Tom Mboya aus Kenia, Felix Moumié und Oum Ruben
Nyobé aus Kamerun, Murtala aus Nigeria, Thomas Sankara aus Burkina Faso, Steve
Biko aus Südafrika – alle diese glühenden, jungen und dynamischen
afrikanischen Patrioten sind tot, Opfer des Imperialismus.
Der Beitrag des Panafrikanismus zum Frieden auf der Welt bedarf der
Afrikanischen Renaissance. Diese Renaissance zieht ihre Widerstandskraft aus
dem ältesten agrarischen Mythos der Menschheit: dem Osiris-Mythos. Er stützt
sich auf jahreszeitliche Gesten geduldiger Bauern des Niltals: das Korn säen,
es in die Erde bringen, danach es ernten, mit der Sichel schneiden, rituell,
nach dem Verlassen der Erde, nach der Keimung, die Auferstehung.
Die ägyptischen Baudenkmäler wiederholen die Mysterien unendlich, die eine
Analogie zwischen der menschlichen Bestimmung und dem Auf und Ab der Pflanzen
zeigen.
Um frei zu werden, müssen wir unbedingt aufhören, Maschinenmenschen,
Reflexmenschen, Vernunftmenschen und Robotermenschen zu sein.
Umoja Ni Nguvu
Ich danke Ihnen!