Politische Wende in Äthiopien rückt regionale Entwicklung in den Mittelpunkt
Von Douglas DeGroot
Seit seinem Regierungsantritt treibt der neue äthiopische
Premierminister Abiy Ahmed die Versöhnung mit den Nachbarländern und den
Oppositionsgruppen voran.
Der neue äthiopische Premierminister Abiy Ahmed – der erst am 2. April
vereidigt wurde – geht mit einem Tempo, das viele auch in seinem eigenen Land
überrascht, an die Umsetzung von zwei Versprechen, die er bei seiner
Vereidigung gemacht hatte: die Beendigung des langen Kriegszustands mit dem
Nachbarland Eritrea und die Beendigung der drakonischen Sicherheitsmaßnahmen
im Innern, wo Mitglieder der Opposition zu Terroristen abgestempelt und
massenhaft inhaftiert wurden.
Eine Wirtschaftsunion für die Region
Abiy arbeitet mit Nachdruck daran, die Beziehungen zu Eritrea und Somalia
zu normalisieren und Äthiopiens Sicherheitspolitik zu reformieren. Ein großer
Teil der Berichterstattung in den internationalen Medien befaßt sich mit
diesen tatsächlich sehr wichtigen Entwicklungen. Aber bevor er diesen außen-
und innenpolitischen Kurswechsel einleitete, konzentrierte sich Abiy darauf,
die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die schnelle wirtschaftliche
Entwicklung im Land – Äthiopien hat das höchste Wirtschaftswachstum der Welt –
und in den Nachbarländern auf der Grundlage einer Win-Win-Kooperation
fortgesetzt werden kann.
Abiy hat bereits die Nachbarstaaten und mehrere andere Länder der Region
besucht. In den unmittelbaren Nachbarländern Somalia, Dschibuti, Sudan und
Kenia schlug er jeweils finanzielle Kooperationen vor, um Projekte gemeinsam
zu finanzieren und zu betreiben, u.a. für den Ausbau von Häfen und
Verkehrsnetzen. Das Ziel ist, die gesamte Region am Horn von Afrika
wirtschaftlich zu entwickeln. Diese Besuche demonstrierten, daß Äthiopien
weiterhin mit höchster Priorität an seinem Vorhaben festhält, der
Ausgangspunkt für die Industrialisierung ganz Afrikas zu werden, wobei es sich
das chinesische Entwicklungsmodell zum Vorbild nimmt.
Abiys Stabschef Fitsun Arega erklärte am 12. Mai gegenüber dem Magazin
EastAfrican, Abiy wolle mit seinen Besuchen die Voraussetzungen für die
Gründung einer Wirtschaftsunion schaffen. „Dschibuti, Äthiopien, Kenia und
Sudan werden jetzt auf eine wirkliche Wirtschaftsunion hinarbeiten, mit
gemeinsamen Investitionen und Besitz von Projekten, weil die gemeinsame
Prosperität und Sicherheit unserer Völker davon abhängen.“ Bei allen seinen
Besuchen wurde Abiy von hochrangigen Delegationen begleitet.
Äthiopien vereinbarte den Kauf eines Anteils von 19% am Hafen von Berbera
in der Region Somaliland, die eine Unabhängigkeit von der somalischen
Zentralregierung anstrebt. Abiy will damit aber nicht Sezessionsbestrebungen
unterstützen, er bot auch eine Beteiligung an vier anderen somalischen
Hafenprojekten an.
Vom 28.-29. April war er in Dschibuti, wo er mit Präsident Omar Guelleh
zusammentraf. Sie schlossen eine Vereinbarung darüber, daß Äthiopien sich am
Hafen von Dschibuti beteiligen wird, über den derzeit 95% der äthiopischen
Exporte abgewickelt werden. Dschibuti hatte im Februar die Konzession des
Unternehmens DP World für den Betrieb des Containerterminals Doraleh nach
sechsjährigen juristischen Auseinandersetzungen gekündigt und den Terminal
verstaatlicht. In der Folge erwies es sich für Dschibuti als schwierig, andere
Investoren für den Terminal zu gewinnen, weil der Streit mit DP World die
Investitionen als riskant erscheinen ließ. DP World gehört der Regierung von
Dubai. Abiy bot Dschibuti im Gegenzug an, in Konzessionen äthiopischer
Staatsbetriebe zu investieren.
Vom 2.-3. Mai besuchte Abiy den Sudan, um Gespräche mit dem kenianischen
Präsidenten Uhuru Kenyatta zu führen. Äthiopien erhielt die Genehmigung, am
neuen kenianischen Tiefwasserhafen Port Lamu Land zu kaufen, um dort ein
Logistikzentrum aufzubauen. Außerdem wurde eine Reihe gemeinsamer Projekte für
den Bau von Straßen und Eisenbahnen vereinbart. Beide Seiten kamen laut dem
gemeinsamen Kommuniqué überein, in die „Gemeinsame Stadt und Entwicklungszone
Moyale“ zu investieren, Moyale ist die wichtigste Grenzstadt zwischen Kenia
und Äthiopien. Die Präsidenten sind „entschlossen zum Aufbau des
Verkehrskorridors Port Lamu-Südsudan-Äthiopien (LAPSSET), des Nordkorridors
einschließlich des Straßennetzes zwischen Isiolo, Moyale und Addis Abeba, und
der Eisenbahn von Addis Abeba nach Nairobi“. (Die Stadt Isiolo in Kenia liegt
an der Strecke von Port Lamu zur Grenzstadt Moyale.) Der LAPSSET-Korridor ist
das derzeit größte und ehrgeizigste Infrastrukturprojekt in Ostafrika, er
verbindet Kenia mit Äthiopien und Südsudan, und eine Verlängerung nach Uganda
und Ruanda wird in Erwägung gezogen.
Abiy besuchte auch Uganda, Ägypten, Ruanda – dessen Wirtschaftspolitik oft
mit der von Äthiopien verglichen wird – sowie die Vereinigten Arabischen
Emirate (VAE) und Saudi-Arabien.
Industrialisierungs-Perspektive
Äthiopien ist mit 102 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land
Afrikas nach Nigeria. Anfang der 90er Jahre lag die Wachstumsrate der
äthiopischen Wirtschaft noch bei 3%, aber seit zehn Jahren wächst die
Wirtschaft des Landes mit Raten von mehr als 10% pro Jahr, und die Regierung
will diese Rate aufrecht erhalten.
Nach Aussage von Arkebe Oqubay, dem geistigen Vater des industriellen
Durchbruchs Äthiopiens, soll das Land mit Hilfe des Plans „Äthiopiens Vision
2025“ zum führenden Zentrum der Industrieproduktion in Afrika aufsteigen, und
es soll in den kommenden zehn Jahren ein Wachstum von 11% pro Jahr und ein
industrielles Wachstum von 25% pro Jahr erreichen.
Arkebe sagte im August 2017 in einem BBC-Interview: „Das Modell, für
das wir uns entschieden haben, ist der Ausbau und Aufbau von Industrieparks
von Weltklasse.“ Er hob außerdem hervor: „Die Bevölkerung wächst um etwa 5%,
wir müssen also jedes Jahr etwa eine Million Arbeitsplätze schaffen.“ Arkebe
versteht, daß die Bevölkerung eine wichtige Ressource ist. Er betonte:
„Bevölkerungswachstum ist nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine
Chance, wenn sie mit schnellem Wirtschaftswachstum verbunden ist.“
Zusammen mit den Industrieparks baut Äthiopien auch – mit Chinas Hilfe –
große kostengünstige Wohnsiedlungen und neue Straßen. Die neue elektrifizierte
Eisenbahnlinie von Addis Abeba nach Dschibuti wurde bereits fertiggestellt.
Arkebe sagte: „Wir können von China lernen, daß es sehr wichtig ist,
langfristig in die Infrastruktur zu investieren. Wir haben gesehen, wie China
von einem niedrigen Stand zu einem machtvollen Produktionszentrum aufgestiegen
ist.“
Der Industriepark Hawassa, der als der größte in ganz Afrika gilt, ist nur
einer von mehr als einem Dutzend solcher Parks, die in Äthiopien entstehen. Er
hat eine Fläche von 140 ha und wird 60.000 Menschen Arbeit geben. Er wurde
innerhalb von nur neun Monaten von der China Civil Engineering Construction
Corporation (CCECC) aufgebaut.
Arkebe machte deutlich, daß Äthiopien sich nicht auf den Lorbeeren seiner
bisherigen Leistungen ausruhen wird. Er erklärte: „Demokratien aufzubauen und
zu erhalten, erfordert Bemühungen vieler Generationen. Das haben wir erkannt,
und wir werden trotz der Errungenschaften, die wir erreicht haben, noch mehr
Anstrengungen unternehmen.“
Derzeit sind nach Schätzungen die Hälfte der Erwachsenen Analphabeten, und
80% leben auf dem Land. Durch schnelle Industrialisierung und intensive
Förderung der Bildung werden diese Anteile immer weiter sinken.
Äthiopiens Devisenreserven reichen derzeit nur aus, die Importe für zwei
Monate zu finanzieren. Um die Wachstumsraten aufrecht zu erhalten, die für ihr
ehrgeiziges Entwicklungsprogramm notwendig sind, wird die Regierung nun
Anteile an einigen staatlichen Betrieben verkaufen, um zusätzliche Mittel zu
generieren.
Innenpolitische Wende
Die Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF)
regiert Äthiopien, seit sie 1991 das blutige Derg-Regime von Haile Mariam
Mengistu stürzte. Nachdem ihr beliebter erster Premierminister Meles Zenawi
2012 gestorben war, wurde Hailemariam Delasegn Premierminister und regierte
bis zu seinem plötzlichen Rücktritt am 15. Februar 2018. Die letzten drei
Jahre seiner Amtszeit waren von politischen Unruhen in den beiden größten
Regionen Oromia und Amhara überschattet, die er massiv unterdrückte. Diese
Entwicklungen waren der Hintergrund, als die EPRDF Abiy zum Premierminister
wählte.
Die Wende in den Beziehungen zu Eritrea kam am 5. Juni. Das Exekutivkomitee
der EPRDF veröffentlichte überraschend ein Kommuniqué, worin es seine
Entscheidung bekanntgab, 1. das Friedensabkommen von Algier aus dem Jahr 2000,
das den 29 Monate langen Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea beendete, zu
akzeptieren und umzusetzen, und 2. die Entscheidungen der von der UNO
unterstützten Eritreisch-Äthiopischen Grenzkommission aus dem Jahr 2002
umzusetzen. Die Kommission hatte umstrittene Gebiete und die Stadt Badme, um
die es bei dem Konflikt hauptsächlich gegangen war, Eritrea zugesprochen, und
deshalb hatte die äthiopische Regierung das Algier-Abkommen und die
Grenzziehung bisher nicht anerkannt. In dem Konflikt zwischen beiden Ländern
starben mehr als 80.000 Soldaten.
Es dauerte zwei Wochen, bis Eritreas Präsident Isaias Afewerki auf die
überraschende Erklärung reagierte. Am 20. Juni sagte er in einer Rede, er
werde seinen Außenminister Osman Saleh und seine rechte Hand Yemane Gebreab
nach Addis Abeba schicken. Das Resultat dieser Reise war dann Präsident Abiys
Besuch in Eritrea, wo er persönliche Gespräche mit Präsident Afewerki
führte.
Eine Woche später, am 14. Juli, machte Afewerki einen Gegenbesuch in Addis
Abeba. Dabei wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern
wieder aufgenommen. Nach Afewerkis Rückkehr aus Äthiopien wurden die
eritreischen Truppen von der Grenze abgezogen und Eritrea ließ 35 Personen
frei, die aus religiösen Gründen inhaftiert waren.
Zwei Monate früher als ursprünglich geplant hob Präsident Abiy den Notstand
auf, der beim Rücktritt sein Vorgängers, Präsident Hailemariam Delasegn,
ausgerufen worden war. Abiy ließ auch politische Gefangene frei. Bei seinem
historischen Treffen mit Präsident Afewerki in der eritreischen Hauptstadt
Asmara unterzeichnete er eine Erklärung, die den Kriegszustand zwischen den
beiden Ländern beendete. Das wurde auf beiden Seiten mit großer Begeisterung
und Freudentränen begrüßt.
Eritrea hatte sich 1993 von Äthiopien abgespalten. Nach dem Krieg waren
beide Länder fanatisch auf die Wahrung der inneren Sicherheit fixiert.
Äthiopische Oppositionsgruppen erhielten Exil in Eritrea. Eritrea führte eine
zeitlich unbegrenzte Wehrpflicht ein, und viele junge Menschen flohen aus dem
Land, um der Dienstpflicht in der Armee zu entgehen. Das Resultat ist, daß aus
Eritrea, einem Land mit nur fünf Millionen Einwohnern, mehr Menschen nach
Europa geflohen sind als aus irgendeinem anderen afrikanischen Land.
Im Zuge der politischen Wende erklärte Abiy sogar öffentlich, wenn man
Oppositionsgruppen als Terroristen einstufe und ihre Mitglieder inhaftiere,
sei das eine Form von Staatsterrorismus. Nach seinen Gesprächen mit Afewerki
in Eritra und Addis Abeba entließ und begnadigte er diese politischen
Gefangenen.
Die Normalisierung der Beziehungen zu Eritrea eröffnet die Aussicht, die
eritreischen Häfen Assab und besonders den Containerhafen Massawa auszubauen
und die Verkehrsverbindungen von Äthiopien zu diesen Häfen zu verbessern, so
daß Äthiopien wieder Zugang zu den Weltmeeren hat wie vor der Abspaltung
Eritreas. Während des Staatsbanketts, das Afewerki am 8. Juli für ihn gab,
sagte Abiy, Äthiopien sei bereit, die eritreischen Häfen zu nutzen.
Als Folge der Reformen wurden drei bewaffnete Oppositionsgruppen von der
Liste der Terrororganisationen genommen. Eine von ihnen, die Ogaden National
Liberation Front (ONLF), kündigte trotzdem an, weiter die äthiopische Öl- und
Gasförderung in der Provinz Ogaden zu sabotieren. Die chinesische POLY-GCL
Petroleum Group Holdings Ltd. bereitet dort derzeit Probebohrungen vor. Die
Gasreserven werden auf 1700-2300 Mrd. m3 geschätzt, und es wurden
Pläne für ein 4-Mrd.-$-Projekt zum Bau einer Gaspipeline zu einer
Verflüssigungsanlage in Dschibuti ausgearbeitet. 2007 griff die ONLF ein von
den Chinesen betriebenes Ölfeld an und tötete dort neun Chinesen und 65
Äthiopier. Die ONLF war 1984 in Kuwait gegründet worden.
Am 7. Juni nahm Abiy größere personelle Änderungen in seinem
Sicherheitsapparat vor. Als er am 23. Juni vor einer großen Volksmenge in
Addis Abeba sprach, wurde eine Handgranate aufs Podium geworfen. Zwei Menschen
starben, aber Abiy blieb unverletzt. Die Person, die die Handgranate warf,
trug eine Polizeiuniform und kam in einem Polizeiwagen zum Tatort, und das
Fahrzeug wurde in Brand gesetzt, um Beweise zu vernichten.
Wenn man bedenkt, daß die Äthiopier sich noch in den 1960er Jahren zu Boden
warfen, wenn Kaiser Selassie in seinem schwarzen Rolls Royce an ihnen
vorüberfuhr, dann hat Äthiopien schon sehr viel erreicht. Doch es bleibt noch
sehr viel zu tun – und die Äthiopier arbeiten mit Hochdruck daran. Wenn jemand
Zweifel daran äußert, daß sie ihre Ziele erreichen werden, dann antworten die
Äthiopier, er solle sich einmal anschauen, was China in den letzten 40 Jahren
erreicht hat.
dougdegroot@larouchepub.com