"Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen.
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst."
Friedrich Schiller
  Afrika

Politische Wende in Äthiopien rückt regionale Entwicklung in den Mittelpunkt

Von Douglas DeGroot

Seit seinem Regierungsantritt treibt der neue äthiopische Premierminister Abiy Ahmed die Versöhnung mit den Nachbarländern und den Oppositionsgruppen voran.

Der neue äthiopische Premierminister Abiy Ahmed – der erst am 2. April vereidigt wurde – geht mit einem Tempo, das viele auch in seinem eigenen Land überrascht, an die Umsetzung von zwei Versprechen, die er bei seiner Vereidigung gemacht hatte: die Beendigung des langen Kriegszustands mit dem Nachbarland Eritrea und die Beendigung der drakonischen Sicherheitsmaßnahmen im Innern, wo Mitglieder der Opposition zu Terroristen abgestempelt und massenhaft inhaftiert wurden.

Eine Wirtschaftsunion für die Region

Abiy arbeitet mit Nachdruck daran, die Beziehungen zu Eritrea und Somalia zu normalisieren und Äthiopiens Sicherheitspolitik zu reformieren. Ein großer Teil der Berichterstattung in den internationalen Medien befaßt sich mit diesen tatsächlich sehr wichtigen Entwicklungen. Aber bevor er diesen außen- und innenpolitischen Kurswechsel einleitete, konzentrierte sich Abiy darauf, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die schnelle wirtschaftliche Entwicklung im Land – Äthiopien hat das höchste Wirtschaftswachstum der Welt – und in den Nachbarländern auf der Grundlage einer Win-Win-Kooperation fortgesetzt werden kann.

Abiy hat bereits die Nachbarstaaten und mehrere andere Länder der Region besucht. In den unmittelbaren Nachbarländern Somalia, Dschibuti, Sudan und Kenia schlug er jeweils finanzielle Kooperationen vor, um Projekte gemeinsam zu finanzieren und zu betreiben, u.a. für den Ausbau von Häfen und Verkehrsnetzen. Das Ziel ist, die gesamte Region am Horn von Afrika wirtschaftlich zu entwickeln. Diese Besuche demonstrierten, daß Äthiopien weiterhin mit höchster Priorität an seinem Vorhaben festhält, der Ausgangspunkt für die Industrialisierung ganz Afrikas zu werden, wobei es sich das chinesische Entwicklungsmodell zum Vorbild nimmt.

Abiys Stabschef Fitsun Arega erklärte am 12. Mai gegenüber dem Magazin EastAfrican, Abiy wolle mit seinen Besuchen die Voraussetzungen für die Gründung einer Wirtschaftsunion schaffen. „Dschibuti, Äthiopien, Kenia und Sudan werden jetzt auf eine wirkliche Wirtschaftsunion hinarbeiten, mit gemeinsamen Investitionen und Besitz von Projekten, weil die gemeinsame Prosperität und Sicherheit unserer Völker davon abhängen.“ Bei allen seinen Besuchen wurde Abiy von hochrangigen Delegationen begleitet.

Äthiopien vereinbarte den Kauf eines Anteils von 19% am Hafen von Berbera in der Region Somaliland, die eine Unabhängigkeit von der somalischen Zentralregierung anstrebt. Abiy will damit aber nicht Sezessionsbestrebungen unterstützen, er bot auch eine Beteiligung an vier anderen somalischen Hafenprojekten an.

Vom 28.-29. April war er in Dschibuti, wo er mit Präsident Omar Guelleh zusammentraf. Sie schlossen eine Vereinbarung darüber, daß Äthiopien sich am Hafen von Dschibuti beteiligen wird, über den derzeit 95% der äthiopischen Exporte abgewickelt werden. Dschibuti hatte im Februar die Konzession des Unternehmens DP World für den Betrieb des Containerterminals Doraleh nach sechsjährigen juristischen Auseinandersetzungen gekündigt und den Terminal verstaatlicht. In der Folge erwies es sich für Dschibuti als schwierig, andere Investoren für den Terminal zu gewinnen, weil der Streit mit DP World die Investitionen als riskant erscheinen ließ. DP World gehört der Regierung von Dubai. Abiy bot Dschibuti im Gegenzug an, in Konzessionen äthiopischer Staatsbetriebe zu investieren.

Vom 2.-3. Mai besuchte Abiy den Sudan, um Gespräche mit dem kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta zu führen. Äthiopien erhielt die Genehmigung, am neuen kenianischen Tiefwasserhafen Port Lamu Land zu kaufen, um dort ein Logistikzentrum aufzubauen. Außerdem wurde eine Reihe gemeinsamer Projekte für den Bau von Straßen und Eisenbahnen vereinbart. Beide Seiten kamen laut dem gemeinsamen Kommuniqué überein, in die „Gemeinsame Stadt und Entwicklungszone Moyale“ zu investieren, Moyale ist die wichtigste Grenzstadt zwischen Kenia und Äthiopien. Die Präsidenten sind „entschlossen zum Aufbau des Verkehrskorridors Port Lamu-Südsudan-Äthiopien (LAPSSET), des Nordkorridors einschließlich des Straßennetzes zwischen Isiolo, Moyale und Addis Abeba, und der Eisenbahn von Addis Abeba nach Nairobi“. (Die Stadt Isiolo in Kenia liegt an der Strecke von Port Lamu zur Grenzstadt Moyale.) Der LAPSSET-Korridor ist das derzeit größte und ehrgeizigste Infrastrukturprojekt in Ostafrika, er verbindet Kenia mit Äthiopien und Südsudan, und eine Verlängerung nach Uganda und Ruanda wird in Erwägung gezogen.

Abiy besuchte auch Uganda, Ägypten, Ruanda – dessen Wirtschaftspolitik oft mit der von Äthiopien verglichen wird – sowie die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Saudi-Arabien.

Industrialisierungs-Perspektive

Äthiopien ist mit 102 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas nach Nigeria. Anfang der 90er Jahre lag die Wachstumsrate der äthiopischen Wirtschaft noch bei 3%, aber seit zehn Jahren wächst die Wirtschaft des Landes mit Raten von mehr als 10% pro Jahr, und die Regierung will diese Rate aufrecht erhalten.

Nach Aussage von Arkebe Oqubay, dem geistigen Vater des industriellen Durchbruchs Äthiopiens, soll das Land mit Hilfe des Plans „Äthiopiens Vision 2025“ zum führenden Zentrum der Industrieproduktion in Afrika aufsteigen, und es soll in den kommenden zehn Jahren ein Wachstum von 11% pro Jahr und ein industrielles Wachstum von 25% pro Jahr erreichen.

Arkebe sagte im August 2017 in einem BBC-Interview: „Das Modell, für das wir uns entschieden haben, ist der Ausbau und Aufbau von Industrieparks von Weltklasse.“ Er hob außerdem hervor: „Die Bevölkerung wächst um etwa 5%, wir müssen also jedes Jahr etwa eine Million Arbeitsplätze schaffen.“ Arkebe versteht, daß die Bevölkerung eine wichtige Ressource ist. Er betonte: „Bevölkerungswachstum ist nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Chance, wenn sie mit schnellem Wirtschaftswachstum verbunden ist.“

Zusammen mit den Industrieparks baut Äthiopien auch – mit Chinas Hilfe – große kostengünstige Wohnsiedlungen und neue Straßen. Die neue elektrifizierte Eisenbahnlinie von Addis Abeba nach Dschibuti wurde bereits fertiggestellt. Arkebe sagte: „Wir können von China lernen, daß es sehr wichtig ist, langfristig in die Infrastruktur zu investieren. Wir haben gesehen, wie China von einem niedrigen Stand zu einem machtvollen Produktionszentrum aufgestiegen ist.“

Der Industriepark Hawassa, der als der größte in ganz Afrika gilt, ist nur einer von mehr als einem Dutzend solcher Parks, die in Äthiopien entstehen. Er hat eine Fläche von 140 ha und wird 60.000 Menschen Arbeit geben. Er wurde innerhalb von nur neun Monaten von der China Civil Engineering Construction Corporation (CCECC) aufgebaut.

Arkebe machte deutlich, daß Äthiopien sich nicht auf den Lorbeeren seiner bisherigen Leistungen ausruhen wird. Er erklärte: „Demokratien aufzubauen und zu erhalten, erfordert Bemühungen vieler Generationen. Das haben wir erkannt, und wir werden trotz der Errungenschaften, die wir erreicht haben, noch mehr Anstrengungen unternehmen.“

Derzeit sind nach Schätzungen die Hälfte der Erwachsenen Analphabeten, und 80% leben auf dem Land. Durch schnelle Industrialisierung und intensive Förderung der Bildung werden diese Anteile immer weiter sinken.

Äthiopiens Devisenreserven reichen derzeit nur aus, die Importe für zwei Monate zu finanzieren. Um die Wachstumsraten aufrecht zu erhalten, die für ihr ehrgeiziges Entwicklungsprogramm notwendig sind, wird die Regierung nun Anteile an einigen staatlichen Betrieben verkaufen, um zusätzliche Mittel zu generieren.

Innenpolitische Wende

Die Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) regiert Äthiopien, seit sie 1991 das blutige Derg-Regime von Haile Mariam Mengistu stürzte. Nachdem ihr beliebter erster Premierminister Meles Zenawi 2012 gestorben war, wurde Hailemariam Delasegn Premierminister und regierte bis zu seinem plötzlichen Rücktritt am 15. Februar 2018. Die letzten drei Jahre seiner Amtszeit waren von politischen Unruhen in den beiden größten Regionen Oromia und Amhara überschattet, die er massiv unterdrückte. Diese Entwicklungen waren der Hintergrund, als die EPRDF Abiy zum Premierminister wählte.

Die Wende in den Beziehungen zu Eritrea kam am 5. Juni. Das Exekutivkomitee der EPRDF veröffentlichte überraschend ein Kommuniqué, worin es seine Entscheidung bekanntgab, 1. das Friedensabkommen von Algier aus dem Jahr 2000, das den 29 Monate langen Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea beendete, zu akzeptieren und umzusetzen, und 2. die Entscheidungen der von der UNO unterstützten Eritreisch-Äthiopischen Grenzkommission aus dem Jahr 2002 umzusetzen. Die Kommission hatte umstrittene Gebiete und die Stadt Badme, um die es bei dem Konflikt hauptsächlich gegangen war, Eritrea zugesprochen, und deshalb hatte die äthiopische Regierung das Algier-Abkommen und die Grenzziehung bisher nicht anerkannt. In dem Konflikt zwischen beiden Ländern starben mehr als 80.000 Soldaten.

Es dauerte zwei Wochen, bis Eritreas Präsident Isaias Afewerki auf die überraschende Erklärung reagierte. Am 20. Juni sagte er in einer Rede, er werde seinen Außenminister Osman Saleh und seine rechte Hand Yemane Gebreab nach Addis Abeba schicken. Das Resultat dieser Reise war dann Präsident Abiys Besuch in Eritrea, wo er persönliche Gespräche mit Präsident Afewerki führte.

Eine Woche später, am 14. Juli, machte Afewerki einen Gegenbesuch in Addis Abeba. Dabei wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern wieder aufgenommen. Nach Afewerkis Rückkehr aus Äthiopien wurden die eritreischen Truppen von der Grenze abgezogen und Eritrea ließ 35 Personen frei, die aus religiösen Gründen inhaftiert waren.

Zwei Monate früher als ursprünglich geplant hob Präsident Abiy den Notstand auf, der beim Rücktritt sein Vorgängers, Präsident Hailemariam Delasegn, ausgerufen worden war. Abiy ließ auch politische Gefangene frei. Bei seinem historischen Treffen mit Präsident Afewerki in der eritreischen Hauptstadt Asmara unterzeichnete er eine Erklärung, die den Kriegszustand zwischen den beiden Ländern beendete. Das wurde auf beiden Seiten mit großer Begeisterung und Freudentränen begrüßt.

Eritrea hatte sich 1993 von Äthiopien abgespalten. Nach dem Krieg waren beide Länder fanatisch auf die Wahrung der inneren Sicherheit fixiert. Äthiopische Oppositionsgruppen erhielten Exil in Eritrea. Eritrea führte eine zeitlich unbegrenzte Wehrpflicht ein, und viele junge Menschen flohen aus dem Land, um der Dienstpflicht in der Armee zu entgehen. Das Resultat ist, daß aus Eritrea, einem Land mit nur fünf Millionen Einwohnern, mehr Menschen nach Europa geflohen sind als aus irgendeinem anderen afrikanischen Land.

Im Zuge der politischen Wende erklärte Abiy sogar öffentlich, wenn man Oppositionsgruppen als Terroristen einstufe und ihre Mitglieder inhaftiere, sei das eine Form von Staatsterrorismus. Nach seinen Gesprächen mit Afewerki in Eritra und Addis Abeba entließ und begnadigte er diese politischen Gefangenen.

Die Normalisierung der Beziehungen zu Eritrea eröffnet die Aussicht, die eritreischen Häfen Assab und besonders den Containerhafen Massawa auszubauen und die Verkehrsverbindungen von Äthiopien zu diesen Häfen zu verbessern, so daß Äthiopien wieder Zugang zu den Weltmeeren hat wie vor der Abspaltung Eritreas. Während des Staatsbanketts, das Afewerki am 8. Juli für ihn gab, sagte Abiy, Äthiopien sei bereit, die eritreischen Häfen zu nutzen.

Als Folge der Reformen wurden drei bewaffnete Oppositionsgruppen von der Liste der Terrororganisationen genommen. Eine von ihnen, die Ogaden National Liberation Front (ONLF), kündigte trotzdem an, weiter die äthiopische Öl- und Gasförderung in der Provinz Ogaden zu sabotieren. Die chinesische POLY-GCL Petroleum Group Holdings Ltd. bereitet dort derzeit Probebohrungen vor. Die Gasreserven werden auf 1700-2300 Mrd. m3 geschätzt, und es wurden Pläne für ein 4-Mrd.-$-Projekt zum Bau einer Gaspipeline zu einer Verflüssigungsanlage in Dschibuti ausgearbeitet. 2007 griff die ONLF ein von den Chinesen betriebenes Ölfeld an und tötete dort neun Chinesen und 65 Äthiopier. Die ONLF war 1984 in Kuwait gegründet worden.

Am 7. Juni nahm Abiy größere personelle Änderungen in seinem Sicherheitsapparat vor. Als er am 23. Juni vor einer großen Volksmenge in Addis Abeba sprach, wurde eine Handgranate aufs Podium geworfen. Zwei Menschen starben, aber Abiy blieb unverletzt. Die Person, die die Handgranate warf, trug eine Polizeiuniform und kam in einem Polizeiwagen zum Tatort, und das Fahrzeug wurde in Brand gesetzt, um Beweise zu vernichten.

Wenn man bedenkt, daß die Äthiopier sich noch in den 1960er Jahren zu Boden warfen, wenn Kaiser Selassie in seinem schwarzen Rolls Royce an ihnen vorüberfuhr, dann hat Äthiopien schon sehr viel erreicht. Doch es bleibt noch sehr viel zu tun – und die Äthiopier arbeiten mit Hochdruck daran. Wenn jemand Zweifel daran äußert, daß sie ihre Ziele erreichen werden, dann antworten die Äthiopier, er solle sich einmal anschauen, was China in den letzten 40 Jahren erreicht hat.

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