Die Zukunft gehört souveränen Nationen
und gemeinsamer Entwicklung
Von Botschafter Dmitrij Tschumakow
Seine Exzellenz Dmitrij Tschumakow, Botschafter und
stellvertretender Ständiger Vertreter der Mission der Russischen Föderation bei
den Vereinten Nationen, sprach am 24. Mai auf der Eröffnungssitzung der
zweitägigen internationalen Konferenz des Schiller-Instituts „Eine schöne Vision
für die Menschheit in Zeiten großer Turbulenzen!“ Die Sitzung befaßte sich mit
dem Thema „Strategische Herausforderungen und die entstehende neue Ordnung“.
Übersetzung aus dem Englischen, die Mitschrift seiner Ausführungen wurde von der
Redaktion bearbeitet und mit Untertiteln versehen.
Ich beginne meine Reden normalerweise mit dem Wort „Exzellenzen“, aber heute
möchte ich meine Rede mit dem Wort „Freunde“ beginnen.
Sie wissen, daß es üblich ist, Reden mit „Ich freue mich, hier zu sein“ zu
beginnen; das Wort „freuen“ ist eine Art abgedroschene Höflichkeitsfloskel. Aber
ich möchte sagen, daß ich mich wirklich freue, heute hier zu sein, im wahrsten
Sinne des Wortes, denn ich höre, daß es hier Menschen mit gesundem
Menschenverstand gibt. Das ist wirklich eine Freude und Hoffnung auf Licht am
Ende des Tunnels. Wir müssen wirklich alle aufwachen, unseren gesunden
Menschenverstand einsetzen und so weitermachen.
Ich habe alle Redner, die ich gehört habe, sehr bewundert. Ich möchte nicht
über den Ukraine-Konflikt sprechen, da meiner Meinung nach bereits viel sehr
objektiv gesagt wurde, mit dem Bemühen, die Ursachen zu betrachten. Ich bin mir
sicher, daß diese Dinge verbreitet werden müssen, da leider nicht alle Medien in
der westlichen Welt wirklich demokratisch sind. Es tut mir leid, das sagen zu
müssen, aber vieles wird dort nicht gezeigt, und ich denke, wenn Informationen
aus verschiedenen Quellen vermittelt würden, ließe sich viel Ärger
vermeiden.
Aber ich möchte über wirtschaftliche Dinge sprechen. Ich bin der
Stellvertretende Ständige Vertreter für Wirtschaftsfragen – wir haben mehrere
Stellvertreter. Die wirtschaftlichen Diskussionen in den Vereinten Nationen sind
derzeit an einem sehr gefährlichen Punkt, denn die reichen Länder weigern sich,
ihrer Verantwortung zur Unterstützung der armen Länder nachzukommen, und das ist
eine sehr gefährliche Phase. Die reichen Länder glauben, daß sie keine Hilfe
leisten müssen. Leider wird es für die reichen Länder viel schmerzhafter sein,
sich ihrer Verantwortung zu entziehen, und die Vernunft, über die wir heute
diskutieren, muß sich durchsetzen, um diese Diskussionen zu retten.
Strukturelle Krise der Weltwirtschaft
Ich denke, es besteht heute kein Zweifel daran, daß sich die Weltwirtschaft
in einer großen Turbulenz, in einer strukturellen Krise befindet. Der
Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, klingt manchmal wie
ein echter Sozialist, und er versucht wirklich, auch den reichen Ländern die
Wahrheit zu sagen.
Offensichtlich sehen wir eine Erosion aller bisherigen systematischen
Ordnungen. Wir brauchen eine multipolare Welt, wie Ihnen die Vorredner bereits
gesagt haben und wie es auch unser Präsident Wladimir Putin sagt. Wir brauchen
eine multipolare Ordnung.
Wir sehen Verzerrungen in der Wirtschaft verschiedener Länder, und das ist
natürlich ein Merkmal des wilden Kapitalismus, den wir heute erleben, wenn die
Produktionsmittel monopolisiert sind, wenn die Kapitalströme kontrolliert werden
und Technologien nicht Gegenstand des Handels sind. Leider verstärken diese
Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft die Ungleichheiten: Ungleichheiten
zwischen Ländern, Ungleichheiten innerhalb von Ländern. Wir sehen, daß die
Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer. Sie haben keinen Zugang
zu den grundlegenden Errungenschaften der Zivilisation.
Ich möchte Ihnen einige Zahlen nennen, will Sie damit aber nicht
langweilen:
Bei den Vereinten Nationen haben wir ein großes Rahmendokument, das „Agenda
2030“ heißt (2030 Agenda for Sustainable Development1). Es
umfaßt 17 Hauptziele für nachhaltige Entwicklung.
Ich denke, Sie alle wissen, daß nachhaltige Entwicklung das Gleichgewicht
zwischen drei Säulen ist: der wirtschaftlichen Säule, der sozialen Säule und der
ökologischen Säule. Diese Agenda 2030 wurde 2015 von allen
UN-Mitgliedstaaten verabschiedet, aber nur 17% der Ziele sind derzeit erreichbar
– ganze 17%. Alle anderen sind nicht erreichbar. Die Beseitigung der Armut, die
Ernährungssicherheit und der Zugang zu Energie sind noch nicht einmal annähernd
erreicht.
Viele Länder sind in einer neuen Falle, einem neuen Hinterhalt. Ein Drittel
der afrikanischen Staaten steht kurz vor der Zahlungsunfähigkeit oder ist
bereits zahlungsunfähig. Ihre Schulden sind viermal so hoch wie ihr BIP! Diese
Schuldenfalle, in der sie sich befinden, nimmt ihnen natürlich auch die Chance,
die Ressourcen zu beschaffen, die sie für den Beginn der Entwicklung
benötigen.
Wir haben daher viele politische Krisen zwischen dem sogenannten Süden und
Norden. Der Norden umfaßt alle reichen Länder, der Süden die armen Länder. Aber
auch innerhalb des Nordens gibt es viele Diskrepanzen, und wir sehen, daß es
viele Konflikte gibt. Gestern haben wir die Zahl von über 130 Konflikten auf der
Welt gehört. Es gibt heute fünfmal so viele Konflikte wie vor 25 Jahren. Die
Zahl der Konflikte wächst exponentiell.
Wie wir vom ehemaligen US-Botschafter in der Sowjetunion [Botschafter Jack
Matlock] gehört haben, gab es schon immer viele Konflikte, die aber lokal
anfingen. Heute haben wir viele Konflikte, die auch unter dem Einfluß von außen
entstanden sind. Außerdem gibt es hybride Kriege, die totale Zerstörung des
internationalen Handelssystems und den Mißbrauch des Dollars als Waffe.
Letztes Jahr wurde auf dem G20-Gipfel in Rio de Janeiro eine sehr gefährliche
Zahl genannt: Die weltweiten Militärausgaben belaufen sich auf 2,4 Billionen
Dollar. Bei solchen Ausgaben gibt es natürlich wenig Aussicht auf globales
Wirtschaftswachstum und globale Entwicklung. Und es gibt Schläge gegen Elemente
der globalen Wirtschaftsketten. Heute richtet sich der Schlag nicht nur gegen
Rußland, sondern auch gegen andere Elemente dieser globalen Kette, wie
beispielsweise China. Diese Schläge werden zu globalen Schocks führen. Ich
versuche, mich sehr diplomatisch auszudrücken, wie Sie verstehen werden.
Wir sehen im Grunde genommen, wie die Schlange sich in den Schwanz beißt:
Sanktionen gegen Rußland und China, die Zerstörung von Infrastruktur wie die
Explosion der Nord Stream-Pipeline, treffen die Wettbewerbsfähigkeit derjenigen,
die diese Schläge ausführen, also vor allem Europa. Außerdem heizen sie die
Inflation an, was dem globalen Wirtschaftswachstum entgegenwirkt und die
weltweite Entwicklung destabilisiert.
Übergang zu einem Modell der gemeinsamen Entwicklung
Rußland versucht kontinuierlich, verschiedene Initiativen mit globalem
Charakter vorzuschlagen, die denen des Schiller-Instituts sehr ähnlich sind.
Diese Vorschläge umfassen einen Übergang von einem militärischen und
konfliktorientierten Paradigma zu einem Modell der gemeinsamen Entwicklung der
Regionen, zu Investitionen in die Realwirtschaft, in die Produktion und zu einer
neuen technologischen Ordnung. Zusammen mit den BRICS-Staaten und anderen
gleichgesinnten Ländern des Globalen Südens versuchen wir, auf weltweiter Ebene
in verschiedenen Formaten, u.a. in den Vereinten Nationen, der G20 und den
Bretton-Woods-Institutionen, Anerkennung für die Gerechtigkeit dieser Ansätze zu
erreichen.
Ich möchte zitieren, worauf sich die Staats- und Regierungschefs der G20 im
vergangenen Jahr in Rio de Janeiro geeinigt haben. Es geht darum, „ein offenes,
nachhaltiges, inklusives und stabiles Finanzsystem zu fördern, das das
Wirtschaftswachstum unterstützt und auf der vollständigen, zeitnahen und
konsequenten Umsetzung koordinierter internationaler Standards auf der Grundlage
einer ständigen politischen Koordinierung beruht“. Soweit die Erklärung der G20
in Rio de Janeiro.
Was wir ablehnen, sind einseitige Ansätze. Wenn man Entscheidungen trifft,
ohne die Interessen der Nachbarn oder anderer Länder zu berücksichtigen, dann
scheitert man. Und diese Interessen umfassen eine Vielzahl von Bereichen: Klima,
Umwelt, Menschenrechte. Wir nehmen auch zur Kenntnis, daß die
Menschenrechtsagenda instrumentalisiert wird. Sie dient als Vorwand für
Einmischung von außen. Leider werden viele wirtschaftliche Fragen
instrumentalisiert und ebenfalls für Einmischungen in innere Angelegenheiten
mißbraucht.
Wichtige Reservewährungen wurden zu Instrumenten politischen Drucks.
Zahlungskanäle werden blockiert, Auslandsvermögen eingefroren, und die
sekundären Sanktionen – die abschreckende Wirkung einseitiger Sanktionen – haben
ebenfalls große Auswirkungen. Diese Verstöße gegen das Völkerrecht sind also
enorm, aber sie werden auch große Konsequenzen für diejenigen haben, die sie
initiieren.
Der Globale Süden erkennt zunehmend, daß er nicht Geisel ausländischer
politischer Entscheidungen von Monopolen sein kann. Im Jahr 2022 haben die
BRICS-Staaten laut BIP-Kennzahlen begonnen, die G7-Staaten zu überholen. Ich
glaube, dies wurde von meinem chinesischen Kollegen und Ihrer Exzellenz aus
Südafrika erwähnt.2 Heute machen die BRICS-Staaten 37% des weltweiten
BIP aus, die G7-Länder nur noch 29%. Diese BRICS-Staaten haben erkannt, daß sie
vorangehen müssen. So wurden sie unter anderem auch im Bereich der künstlichen
Intelligenz zur Quelle neuer, bahnbrechender Entscheidungen.
Wir versuchen also, mit unseren westlichen Gegnern auf Augenhöhe zu sprechen,
und was wir fördern und vereinbaren wollen, ist folgendes:
- Erstens versuchen wir zu sagen, daß koloniale Methoden und neokoloniale
Ansätze beendet werden müssen. Es ist etwas willkürlich, aber viele Länder des
Globalen Südens sprechen von einer Entschädigung für das, was sie während der
Kolonialzeit erlitten haben.
- Zweitens brauchen wir ein System, in dem Entwicklungsländer einen
gewissen Einfluß auf die Entscheidungsfindung haben, eine Teilnahme an der
Entscheidungsfindung in globalen Institutionen wie dem IWF, der Weltbank und der
Welthandelsorganisation. Die Bretton-Woods-Institutionen waren eine gute Idee,
aber sie müssen zu ihrem ursprünglichen Auftrag zurückkehren, die internationale
Finanzstabilität zu unterstützen und die Entwicklung zu fördern. Diese Aufgabe
ist noch nicht erfüllt.
- Weitere Initiativen sind unter anderem die Entwicklung alternativer,
effektiver technologischer Zahlungssysteme, die Förderung des Handels in
nationalen Währungen, die Analyse restriktiver Maßnahmen und die Abschaffung
einseitiger restriktiver Maßnahmen, die Diversifizierung von Krediten, die
Entpolitisierung der Kreditbeziehungen – Kreditbeziehungen ohne Bedingungen –
und die Einrichtung eines Zahlungssystems, das nicht als Waffe eingesetzt werden
kann.
- Als nächstes müssen wir den Entwicklungsländern helfen, ihre eigenen
Ressourcen gut zu verwalten, industriell unabhängig zu werden und Zugang zu
verschiedenen Märkten und Technologien zu erhalten. Zusammen mit der Reform der
bestehenden internationalen Strukturen müssen wir auch mehr Handels- und
Investitionsmechanismen schaffen, die nicht zur Diskriminierung – insbesondere
der afrikanischer Länder – mißbraucht werden können.
- Und nicht zuletzt rufen wir die Länder des Globalen Südens dazu auf,
über eigene souveräne Entwicklungsmodelle nachzudenken und diese zu schaffen,
anstatt sich auf Auslandsschulden zu stützen. Natürlich muß diese Schuldenkrise
gestoppt werden. Künstliche Intelligenz ist eine Technologie, die in absehbarer
Zukunft zu einem Wachstumsmotor werden kann. Die Entwicklung des Modells der
Süd-Süd-Kooperation ist ebenfalls ein vielversprechendes Modell, bei dem arme
Länder durch gegenseitige Unterstützung reich werden.
Wir sind fest davon überzeugt, daß die Zukunft freien Partnerschaften,
souveränen Entscheidungen und verantwortungsbewußten Staaten gehört. Wir sind
auch sicher, daß man nicht aus einer Position der Macht heraus mit anderen
Ländern sprechen kann. Diejenigen, die gegenüber Rußland und der Sowjetunion die
Sprache der Macht gesprochen haben, sollten die Geschichte besser studieren.
Anmerkungen
1. Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development.
2. Prof. Zhang Wei Wei und Dr. Naledi Pandor, die vor Tschumakow gesprochen hatten, vgl. Neue Solidarität Nr. 26/2025.
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