Lyndon LaRouche als Vorläufer…
Von Prof. Jérôme Ravenet
Jérôme Ravenet ist Philosophieprofessor und Sinologe. Für
die Konferenz „Der Mensch ist nicht des Menschen Wolf!“ am 12.-13. Juli
übermittelte er den folgenden Videovortrag. (Übersetzung aus dem Französischen.)
Lyndon LaRouche zeigte, daß eine vollständige Diagnose der Wirtschaft ein
Umdenken ihrer anthropologischen Grundlagen erfordert, ein Umdenken der
politischen Ökonomie auf der Grundlage der Vorstellungen vom Menschen, die sie
bedingen. Er hob die „rivalisierende“ Logik des vorherrschenden Paradigmas der
wirtschaftlichen „Vernunft“ hervor, eine Logik sich ausschließender und daher
rivalisierender Interessen – der Besitz eines Gutes durch einige bedeutet dessen
Entzug für andere.
Die moderne Sprache der Finanzökonomie ist daher eine politische Sprache der
Ausbeutung in den menschlichen Beziehungen: Sie kann als Sprache der Macht
definiert werden, d.h. als eine Reihe von Diskursen, die alle Mittel der
Prävention und Zwangsausübung, einschließlich militärischer Gewalt,
rechtfertigen, die die Herrschaft einiger und die Unterwerfung anderer
legitimieren.
Tatsächlich war es der soziale Aufstieg dieser Finanzoligarchie, der die
Moderne in den Städten der Welt einläutete, zuerst in Italien (Venedig, Genua),
dann in Holland (Amsterdam), bevor er sich in der Londoner City und an der Wall
Street fortsetzte. An der Spitze der Revolutionen, die die Moderne und den
Prozeß der Geschichtsschreibung geprägt haben, vermittelte diese Oligarchie den
Eindruck, gegen die Ungerechtigkeit und Brutalität der spätfeudalen Ordnung zu
kämpfen. Aber hat sie diese nicht vielmehr nur unter einer neuen Rationalität
verschleiert oder getarnt? Die aufstrebende Finanzoligarchie hat sicherlich die
kapitalistischen Kräfte von ihrer Unterwerfung unter die Herren der
Vergangenheit befreit, aber die moderne Welt, die sie hervorgebracht hat, hat
sich nicht vom Herrschaftsmodell befreit.
Im frühen 16. Jahrhundert nahmen die machiavellistischen Figuren Löwe und
Fuchs diese moderne Theoretisierung eines Paradigmas der Gewalt vorweg. Im 19.
Jahrhundert gab die hegelianische Dialektik von Herr und Knecht ihr die
vollendete Form einer emblematischen Parabel: Freiheit sei weder Freude noch
Harmonie, sondern nur Kampf und Eroberung, Krieg und Kampf. Sie kehrt die
scheinbaren Rollen von Unterwerfung und Herrschaft um, ohne jedoch jemals das
Herrschaftsparadigma selbst abzuschaffen. Die moderne Rationalität ist
grundlegend geprägt – und zweifellos „behindert“ – von einer gewalttätigen
Anthropologie, d.h. einer Anthropologie der Gewalt in den menschlichen
Beziehungen, die auf Raubtierbeziehungen reduziert sind und endlos neues Wissen
hervorbringen, das dazu dient, diese zu legitimieren und zu mystifizieren – wie
die allzu bekannte Geopolitik (entstanden mit Mackinder, 19. Jahrhundert) oder
die monetaristische Ökonomie (Friedman, 20. Jahrhundert).
Kreativität statt Rivalität
Wir sehen jedoch, daß Lyndon LaRouche und seine physikalische Ökonomie mit
diesem vorherrschenden Wissen vollständig brechen. Man könnte sogar sagen, daß
ihre radikale Originalität an der Stärke des repressiven Arsenals zu messen ist,
mit dem LaRouche und seine Ökonomie diffamiert und unsichtbar gemacht
werden.
Wenn das Paradigma der Moderne in der martialischen Bekräftigung ihrer
universalistischen Ansprüche bestand, von der Eroberung der Neuen Welt 1492 bis
zur Wolfowitz-Doktrin 1994, dann ist die LaRouche-Doktrin „antimodern“. Denn
LaRouche stellt dem Paradigma der Rivalität das Versprechen der Kreativität
entgegen. Er untermauert seine Hoffnung mit einer Neuinterpretation von antiken,
Renaissance- und Post-Renaissance-Autoren, von Platon über Schiller bis hin zu
Nikolaus von Kues.
Spinoza war wie Leibniz ein radikaler Kritiker des Machtparadigmas im 17.
Jahrhundert und ein tiefgründiger Theoretiker der „Potenz“ (potestas =
Fähigkeit, Vermögen, Möglichkeit, Potential). Gegen die Macht, die lediglich
eine Kraft ist, um zu verhindern und zu zwingen, hatte Spinoza in seiner Ethik
den Begriff der Potenz als eine Kraft zum Existieren und Wirken unterschieden,
die in einem Lebenswillen (conatus) spürbar ist, den die Vernunft
entsprechend ihren Kräften zur Entfaltung bringen kann.
Obwohl LaRouche den Spinozismus nicht aufgriff, verwendet er die Idee und das
Konzept der Potenz – nicht nur in seinem Dialog mit den Naturwissenschaften,
sondern auch, um seinen Ansatz philosophisch zu begründen, beispielsweise durch
das Konzept des „erfolgreichen Überlebens”, das er in seiner Schrift
Verteidigung des gesunden Menschenverstands (1989) entwickelt hat.
Darüber hinaus wissen wir, daß die Macht-Theorie des Spinozismus eine Hierarchie
von drei Arten des Wissens impliziert, die in der „rationalen Intuition”
gipfelt.
LaRouche wurde jedoch nie müde, den Empirismus und die logisch-deduktive
Vernunft als minderwertige oder begrenzende Formen des Wissens zu kritisieren
und die überlegene Fruchtbarkeit einer „kreativen Vernunft” zu betonen, die im
Dienste des „gesunden Menschenverstands” steht. Er pries diese Intelligenz, die
mit den Augen der Zukunft sehen und sofort die Anordnungen oder kompositorischen
Beziehungen erfassen kann, die dem Gedeihen des Lebens förderlich sind.
Es ist hier nicht meine Aufgabe, zu untersuchen, ob diese Thesen LaRouche zu
einem würdigen Vertreter der ehrwürdigen Tradition der „philosophia
perennis“ machen, die Leibniz 1714 in seiner Korrespondenz mit M. de Rémond
diskutierte. Wir müssen nur darauf hinweisen, daß es diese rationale Intuition
war, die Spinoza wie Leibniz und Lyndon LaRouche in die Lage versetzte, die
tödlichen Auswirkungen der Sprachen der Macht im institutionalisierten Wissen
ihrer Zeit zu diagnostizieren und die überlegene Wirkkraft von
Kooperationsbeziehungen gegenüber Herrschaftsbeziehungen zu antizipieren. Mit
anderen Worten, den Unterschied in Natur und Wert zwischen den beiden Paradigmen
– der Macht und der Potenz – zu begreifen.
Dies ist zweifellos der Grund, warum LaRouche bereits 1996 die Initiative für
eine „Weltlandbrücke“ vorwegnehmen und fördern konnte, die das Projekt der Neuen
Seidenstraße vorwegnahm, das 2014 von Beijing formalisiert wurde. Denn die Kraft
des gesunden Menschenverstands schafft fruchtbare Formen. Indem sie Kräfte, die
die Macht spaltet, vereint und sich auf das Prinzip der „geringsten Wirkung“
(least action) stützt, um ihre Auswirkungen zu vervielfachen, bekräftigt
diese Kraft die Rechte des Lebens.
Wir können nicht ignorieren, daß die Kantsche Kritik die rationale Intuition
zumindest vorübergehend diskreditiert hat. Aber der Kantianismus wird nur eine
Randerscheinung in der Geschichte sein, wenn es dem rationalen Kalkül gelingt,
durch Beweise zu bestätigen, was die rationale Intuition durch ihre Brillanz
erfaßt hat, und wenn die Wissenschaft die Metaphysik unterstützt, anstatt sie zu
bekämpfen.
Genau das ist meiner Meinung nach die Funktion von LaRouches physikalischer
Ökonomie, die die unmittelbare Intuition durch Argumente erweitert, die sich aus
den Naturwissenschaften, der Mathematik, der Wirtschaftsstatistik usw. speisen.
Lyndon LaRouche hat die energiepolitische Debatte rationalisiert – das sollten
wir nicht vergessen –, indem er die Konzepte der frei(-werdend-)en Energie und
der produktiven Plattform mathematisiert und ihre relative Kraft oder Effizienz
auf der Grundlage beobachtbarer Fakten bewertet hat, indem er das „relative
Bevölkerungsdichtepotential“ gemessen hat.
Er hat es gewagt, konventionelle Definitionen von Wohlstand anhand der Dogmen
akademischer Autoren, seien sie liberal oder marxistisch, zu problematisieren,
indem er bestritt, daß das ultimative Kriterium für Wohlstand in Mehrwert,
Tauschwert, Geldmenge usw. zu suchen sei, und indem er es auf Schöpfung und das
Prinzip der geringsten Wirkung reduzierte. Auf diese Weise fördert LaRouche den
politischen Optimismus auf der Grundlage einer eher spinozistischen Vorstellung
von Freude, die als Index für eine Zunahme unserer kollektiven Macht zu
existieren verstanden wird.
Diese Sprache der Macht bleibt unhörbar für Pessimisten, Menschenverachtende
und Lebensmüde wie Malthusianer, Monetaristen, Transhumanisten, Thanatophile
(Todesverliebte) aller Couleur und andere Milleniaristen
(Weltuntergangssektierer). Denn das Machtparadigma, das ihre Politik bestimmt,
läßt uns nicht aus seiner Logik der Herrschaftsverhältnisse entkommen: Macht
will nicht nur Einheit, sie will Einstimmigkeit oder Hegemonie. Sie ist
unempfindlich gegenüber der Vielfalt der Interessen und der möglichen Strategien
zu ihrer Befriedigung.
Aber es geht nicht darum, sie zu bekämpfen, indem man der Macht eine andere
Macht entgegenstellt, indem man andere Zwangsmittel gegen sie einsetzt. Nicht,
indem wir zu einem netten Wolf werden, können wir den Wolf im Menschen
überwinden, sondern indem wir uns häuten oder mutieren. Indem wir uns im Licht
des Paradigmas der kompositorischen oder beitragenden Beziehungen einrichten,
können wir den Schatten der räuberischen Beziehungen auf natürliche Weise
zurückdrängen. Schließlich faßt Spinozas Formel den Glauben dieser
optimistischen Anthropologie zusammen: „Homo homini deus – der Mensch ist
des Menschen Gott“.
Das Gegenteil des Wolfes ist natürlich der Weise, der die Kraft hat, Leben zu
nähren, der in allen Dingen die Beziehung sucht, in der Menschen gemeinsam
beitragen oder kooperieren können, um ihre Stärke und ihre Chancen auf ein
gemeinsames Gedeihen in dieser Welt zu erhöhen. Zunächst sind solche Menschen
selten: Aber das Beispiel dieser Spinozas und Leibniz‘, Jaurès‘, de Gaulles und
LaRouches bläst allmählich einen neuen Wind in die Geschichte, trotz ihrer
Mißerfolge, oder vielmehr dank der Lehren, die ihre Erben aus diesen Mißerfolgen
zu ziehen vermögen. Durch ihre Worte und Taten waren sie die unverzichtbaren
Vorläufer eines Paradigmenwechsels, dem die BRICS, die BRI, die SCO und die
brandneue IOMed (Internationale Organisation für Mediation, 2025) nun offenbar
die Form und Konsistenz einer historischen Realität geben. Per definitionem ist
es das Schicksal eines Vorreiters, zu früh Recht gehabt zu haben und dafür
leiden zu müssen. Aber dieses Leiden ist nicht umsonst, denn es ist der Schmerz
der Geburt. Es ist ein Vorgeschmack auf die Freude eines kommenden
Frühlings.
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