Den historischen Kontext des Konflikts
zwischen Israel und Palästina verstehen
Aktuelle Realitäten, Herausforderungen und der Fahrplan
zu nachhaltigem Frieden und dauerhafter Gerechtigkeit
Von Prof. Dr. Manuel Hassassian
Prof. Manuel Hassassian ist Botschafter der Palästinensischen
Autonomiebehörde in Dänemark. Er war Vizepräsident der Universität Bethlehem
im Westjordanland. Für die Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 15.-16.
Juni übermittelte er den folgenden Beitrag.
Ich möchte meine Rede damit beginnen, dem Schiller-Institut für die
Gelegenheit zu danken, vor Ihrer geschätzten Konferenz sprechen zu dürfen. Es
tut mir leid, daß ich nicht bei Ihnen sein kann, weil ich auf Reisen bin.
Ich möchte meine Rede mit einem kurzen Überblick über den Oasenplan
beginnen, später werde ich über den palästinensisch-israelischen Konflikt
sprechen und darüber, wie dieser in den Kontext eines Plans eingebettet werden
kann, der wirklich Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit durch wirtschaftliche
Entwicklung und durch die Beziehungen zwischen Nord und Süd usw. bringen wird.
Lassen Sie mich zunächst kurz den Oasenplan beleuchten, der vom
Schiller-Institut unter dem Titel LaRouche-Lösung für Frieden durch
Entwicklung zwischen Israel und Palästina und für ganz Südwestasien
beworben wird. Frieden durch wirtschaftliche Entwicklung ist die einzige
erfolgreiche Grundlage für einen dauerhaften gerechten Frieden in der
Nahostregion.
Es gibt keine rein militärische Grundlage für Frieden oder Sicherheit, und
eine militärische Lösung war noch nie eine Lösung. Es gibt also keine rein
militärische Grundlage für Frieden oder Sicherheit. Nur Entwicklung ist
wichtig.
Das größte Hindernis für die Entwicklung in unserer Region, also im Nahen
Osten und in Südwestasien, ist jedoch, wie jeder weiß, der Mangel an
Süßwasser. Denn wenn wir dieses Problem nicht lösen, wird der nächste Krieg im
Nahen Osten um die Wasserressourcen geführt werden. Deshalb brauchen wir den
Bau eines Netzes von Entsalzungsanlagen, die idealerweise nuklear betrieben
werden und das Meerwasser in Süßwasser umwandeln können.
Diese Anlagen könnten das Rote Meer mit dem Toten Meer und das Tote Meer
mit dem Mittelmeer verbinden, wie es in dem Plan vorgesehen ist. Und das wird
nur möglich sein, wenn wir die Machtpolitik und die Geopolitik ablehnen und
einen neuen Paradigmenwechsel in den internationalen Beziehungen herbeiführen,
der auf einem neuen Konzept der wirtschaftlichen Entwicklung beruht, d.h.
Sicherheit und Entwicklung werden sich als großes Konzept durchsetzen.
Wie Helga Zepp-LaRouche einmal sagte: „Man muß Hoffnung haben und der
Jugend eine anständige Zukunft geben, damit sie ein normales Leben führen und
nützliche Dinge tun kann.“ Dieser Plan sollte auf den
palästinensisch-israelischen Konflikt anwendbar sein, damit er endlich und
dauerhaft gelöst wird, damit Frieden und Sicherheit herrschen.
Die Zerstörung im Gazastreifen
Und nun lassen Sie mich die aktuelle Situation in Palästina beleuchten. Ich
denke, es ist wichtig, die Tragweite dieses großen Konflikts zu kennen, der
die ganze Welt in Mitleidenschaft gezogen hat. Und wie Sie sehen können, hat
er die ganze Welt erfaßt. Die öffentliche Meinung wird sich mehr und mehr
bewußt, was die Palästinenser im Gazastreifen, im Westjordanland und in
Ostjerusalem durchmachen müssen. Israels anhaltende apokalyptische
Militärkampagne gegen den Gazastreifen, das Westjordanland und Ostjerusalem
ist die Krönung von 76 Jahren Verfolgung, Vertreibung und Völkermord. Sie hat
zu einer Massenvernichtung geführt. Sie hat zur Vertreibung von mehr als 90%
der Bevölkerung des Gazastreifens geführt und zum Tod und zur Verstümmelung
von Zehntausenden unschuldiger Zivilisten, von denen die meisten, wie Sie
wissen, Frauen und Kinder sind.
In den letzten 250 Tagen hat Israel eine anhaltende Kampagne von
Luftangriffen auf Zivilisten in Gaza durchgeführt. Bei der jüngsten Eskalation
wurden im Flüchtlingslager Al-Nuseirat im Zentrum des Gazastreifens etwa 210
Palästinenser massakriert und über 400 verwundet. Die Zahl der Todesopfer
beläuft sich auf mehr als 37.000, wobei die Hälfte der Opfer Kinder sind.
Tragischerweise werden über 10.000 Märtyrer unter den Trümmern der zerstörten
Gebäude vermutet.
Die katastrophale Lage wird noch verschlimmert durch den Verlust von 147
UN-Mitarbeitern und die Zerstörung von 32 Krankenhäusern, so daß nur wenige
betriebsbereite Einrichtungen mit begrenzten Ressourcen übriggeblieben
sind.
Darüber hinaus wurden alle Bildungseinrichtungen, einschließlich Schulen
und Universitäten, dezimiert und zahlreiche religiöse Stätten, wie Kirchen und
Moscheen, vollständig zerstört.
Die Kontrolle über den Grenzübergang Rafah schränkt den Zugang zu
lebenswichtigen Gütern, einschließlich Treibstoff, weiter ein und verhindert
das Funktionieren lebenswichtiger Dienste. Infolgedessen liegen etwa 70% der
Infrastruktur des Gazastreifens in Trümmern, was die humanitäre Krise in der
Region verschärft.
Welche Bezeichnung beschreibt diesen Konflikt am besten? Handelt es sich um
einen Verteidigungskrieg, bei dem Israel sich selbst schützt, oder ist es ein
Feldzug zur Unterdrückung eines Volkes, das nach Unabhängigkeit und Freiheit
strebt? Manchmal finde ich es ironisch, wenn ich mit europäischen oder
amerikanischen Regierungsbeamten diskutiere, wie ich es unzählige Male in
meiner diplomatischen Laufbahn getan habe, und sie ständig für eine
Zweistaatenlösung plädieren, während Palästina selbst immer mehr zerstört
wird. Trotz dieser Realität wird die Rhetorik beibehalten. Wenn sie wirklich
für eine Zweistaatenlösung sind, warum legen sie dann in den Vereinten
Nationen ein Veto ein, erst recht, wenn fast 140 Länder Palästina anerkannt
haben? Zudem folgt Europa in dieser Angelegenheit oft dem Beispiel der
Vereinigten Staaten, was Fragen über die Ausgewogenheit ihres Ansatzes für die
Zweistaatenlösung aufwirft.
USA kein ehrlicher Makler
Die Palästinenser setzen sich heute für das grundlegende menschliche
Prinzip der Selbstbestimmung ein. Es stellt sich die Frage, warum die
Weltgemeinschaft das Selbstbestimmungsrecht, wie es in Woodrow Wilsons 16.
Artikel formuliert ist, allgemein unterstützt, dieses Prinzip aber im
Zusammenhang mit Palästina oft mißachtet wird. Das regt zum Nachdenken darüber
an, ob die Palästinenser in ihrem Streben nach Anerkennung als unabhängiger
Nationalstaat innerhalb der internationalen Gemeinschaft weniger Beachtung
verdienen?
Bei dem Konflikt geht es nicht einfach um konkurrierende Ansprüche auf das
gleiche Land; er wird als Übergriff Israels wahrgenommen. Das zionistische
Bestreben wurde von der internationalen Gemeinschaft unterstützt, die die
Hauptverantwortung dafür trägt, die Folgen dieser Handlungen rückgängig zu
machen.
Der Diskurs über die Praktiken im Zusammenhang mit dieser umstrittenen
Besetzung könnte Stunden dauern, doch der Kern der Sache ist klar: Wie können
wir diesen Konflikt beenden? Und wer sind die Hauptakteure, die sich um eine
Lösung bemühen?
Es ist frustrierend, daß die Vereinigten Staaten, obwohl sie sich in den
letzten drei Jahrzehnten als Vorreiter des Friedensprozesses positioniert
haben, ins Stocken geraten sind und sich mehr auf Krisenmanagement als auf
Konfliktlösung verlegt haben. Gegenwärtig ist es offensichtlich, daß die USA
in ihrer Rolle als ehrlicher Makler für den Frieden kläglich versagt haben, da
sie unverhältnismäßig und ungleichmäßig Israel, die dominante Partei,
gegenüber Palästina, der marginalisierten Gegenseite, unterstützen.
Bedauerlicherweise war unser Vertrauen in die Amerikaner fehl am Platze. Es
tut mir Leid für die amerikanischen Bürger, die von einer so ineffektiven
Führung in den Vereinigten Staaten regiert werden, die eine kurzsichtige
Vision für die Förderung von Sicherheit und Frieden auf der Welt hat. Ein
Präsident, der sich für humanitäre Hilfe einsetzt, schickt paradoxerweise
Tausende von Bomben, die den Tod unschuldiger Kinder und Palästinenser in Gaza
verursachen. Wie können wir solch senile Äußerungen eines Präsidenten
tolerieren, der den Bezug zur Realität verloren zu haben scheint? Und leider
ist die Alternative auch nicht vielversprechender.
In der heutigen globalen Landschaft wird die Vorstellung, Personen oder
Länder als bloße Schachfiguren in internationalen Konflikten einzusetzen,
zunehmend als unhaltbar angesehen. Solche Konflikte haben das Potential, zu
regionalen oder sogar globalen Kriegen zu eskalieren, aber die Ursachen liegen
oft in grundlegenden Problemen wie extremem Hunger, bitterer Armut, mangelnder
wirtschaftlicher Entwicklung und nationalen Interessen.
Anerkennung Palästinas
Daher stellt sich die Frage: Welche Auswirkungen hätte die Anerkennung
Palästinas als Staat für die internationale Gemeinschaft? Palästina hat
bereits in der Vergangenheit seine Kompromißbereitschaft unter Beweis
gestellt, indem es 1988 nur 22% des historischen Palästina als Staatsgebiet
anerkannte. Dieses Gebiet umfaßt das Westjordanland, den Gazastreifen und
Ostjerusalem, während die restlichen 78% dem zionistischen Projekt zugestanden
wurden.
Trotz dieses schwerwiegenden Kompromisses streben bestimmte Gruppierungen
innerhalb Israels nach einer weiteren territorialen Ausdehnung, insbesondere
im Westjordanland. Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, daß Israels
Interesse am Gazastreifen in erster Linie auf Sicherheitserwägungen und dem
Zugang zu Öl beruht und nicht auf territorialen Ambitionen.
In den letzten zwei Jahrzehnten gab es eine bemerkenswerte Abwesenheit
einer effektiven und charismatischen globalen Führung, was zu einem Gefühl der
Stagnation oder des Niedergangs inmitten von anhaltenden Konflikten, Hunger
und Ungerechtigkeit beigetragen hat. Dies wirft Fragen über die Qualität der
demokratischen Repräsentation und den Einfluß der politischen Parteien auf die
Auswahl der Führungskräfte auf. Trotz des Reichtums an intellektuellen und
institutionellen Ressourcen in den Vereinigten Staaten, wie es renommierte
Think Tanks und akademische Einrichtungen wie Harvard, Yale, Columbia usw.
veranschaulichen, wird die Präsidentschaftskandidatur von Persönlichkeiten wie
Biden und Trump von einigen als ohnmächtig und ineffektiv angesehen. Dies
unterstreicht die Besorgnis über die Dominanz der politischen Eliten über den
Wahlprozeß, statt einer echten Führung an der Basis.
Die Effektivität der Vereinigten Staaten als vermittelnder Dritter zur
Überbrückung der Kluft und Ungleichheit zwischen zwei nicht gleichberechtigten
Seiten wird in Frage gestellt. Bei den Verhandlungen zwischen Israel und
Palästina ist das Ungleichgewicht in der Machtdynamik offensichtlich. Die
Vereinigten Staaten, die eine dominante Position innehaben, haben häufig
Resolutionen zugunsten Israels verfaßt und den Palästinensern kaum eine andere
Wahl gelassen, als sich ihnen zu fügen.
Dieser Mangel an Parität untergräbt das Wesen echter Verhandlungen, die im
Idealfall symmetrische Verhandlungen zwischen zwei konkurrierenden Mächten
sind, die sich um eine Lösung ihrer Differenzen bemühen. In diesem Fall wurden
die Verhandlungen jedoch eher von machtpolitischen Erwägungen diktiert als von
einem aufrichtigen Dialog. Die Palästinenser, als die unterlegene Partei,
trugen stets die Hauptlast dieses Ungleichgewichts.
Die Lage in Israel
Der aktuelle Stand der Demonstrationen in Israel mag irreführend
erscheinen, aber es ist wichtig, die allgemeine öffentliche Stimmung zu
verstehen. Seit der ersten Intifada von 1987 hat sich die öffentliche Meinung
in Israel deutlich gewandelt, wobei die Unterstützung für eine
rechtsgerichtete Führung überwiegt. Der Einfluß der linken, progressiven
Elemente hat abgenommen, was zu ihrer Marginalisierung in der politischen
Landschaft geführt hat. Das Auftauchen von Persönlichkeiten wie Ben-Gvir,
Smotrich und Netanjahu in Machtpositionen spiegelt diesen rechtsgerichteten
Trend wider. Folglich wurde das Potential für eine liberalere Regierung, die
sich für den Frieden einsetzt, durch die vorherrschende rechte Gesinnung in
der israelischen Gesellschaft behindert.
Es besteht die Gefahr, daß größere Konflikte mit Ägypten, dem Libanon und
dem Iran angezettelt werden. Das Versagen der USA dabei, einen
Waffenstillstand herbeizuführen, hat ihre Glaubwürdigkeit beeinträchtigt.
Die derzeitige Situation in Israel ist sehr unbeständig, und die
eskalierenden Spannungen deuten auf einen gefährlichen Kurs hin. Es gibt
Beobachter, die glauben, daß die Zerstörung Israels im Gange ist, was durch
die jüngsten Ereignisse wie die Studentenproteste in Amerika unterstrichen
wird. Diese Proteste enthüllen eine breitere Kritik am Umgang der Regierung
Biden mit internationalen Konflikten, einschließlich der Gaza-Krise und des
Ukraine-Krieges. Experten sehen darin ein Anzeichen für ein größeres Versagen
bei der Durchsetzung der amerikanischen Dominanz auf der Weltbühne.
Heutzutage liegen die Ursachen für Konflikte oft in nationalen und
wirtschaftlichen Interessen und nicht in reiner Ideologie. Das eifrige
Engagement religiös motivierter Menschen gibt jedoch weiterhin Anlaß zur
Sorge. Es ist wichtig, eine mögliche Eskalation in einen religiösen Konflikt
zu verhindern, insbesondere zwischen Muslimen und Juden.
Wir konzentrieren uns darauf, einen nationalen Kampf zu führen, der von der
säkularen Ideologie der Errichtung einer demokratischen Einheit in Palästina
geleitet wird, die mit den Überzeugungen unserer Führung übereinstimmt. Diese
Vision erfordert jedoch kollektive Anstrengungen, einschließlich
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Palästina, sowie eine umfassende
Reform unserer politischen Infrastruktur.
Ich sage das als Selbstkritik, weil ich als Akademiker ehrlich sein muß, um
die wichtigsten Schritte zu skizzieren, die notwendig sind, um realistisch
einen nachhaltigen und dauerhaften Frieden zu erreichen.
Schließlich könnte die Übernahme des LaRouche-Konzepts der wirtschaftlichen
Entwicklung, wie es vom Schiller-Institut vertreten wird, eine entscheidende
Rolle bei der Schaffung globaler Sicherheit spielen, und zwar durch regionale
Sicherheit und durch die Lösung langjähriger Konflikte wie dem
palästinensisch-israelischen Konflikt. Indem sie wirtschaftlichen Beziehungen
Vorrang vor militärischen Lösungen einräumen, können Nationen vom Norden bis
zum Süden einen Ansatz verfolgen, bei dem alle gewinnen und der die globale
Stabilität und den Wohlstand fördert.
Ich wünsche der Konferenz viel Glück bei ihren Bemühungen und hoffe, daß
meine Botschaft laut und deutlich ankommt. Lassen Sie uns gemeinsam für
Frieden und Stabilität arbeiten, durch wirtschaftliche Stabilität und durch
das, was wir das LaRouche-Konzept nennen – das ist der Oasenplan. Ich danke
Ihnen sehr, meine Damen und Herren.
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