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Schiller-Institut e. V.
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Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
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Bestraft nicht die einfachen Afghanen!

Von Dr. Shah Mehrabi

Dr. Shah Merabi, Vorstandsmitglied der afghanischen Zentralbank, sprach am 17. Januar im Internetseminar des Schiller-Instituts über die Folgen des Einfrierens afghanischer Guthaben in westlichen Banken und der finanziellen Blockade des Landes.

Guten Morgen! Mein Name ist Shah Mehrabi, ich bin Mitglied des Vorstands des Obersten Rates, das ist die Bezeichnung für den Vorstand der Zentralbank von Afghanistan. Ich bin auch Vorsitzender des Leitungsausschusses der Zentralbank. Darüber hinaus bin ich Professor für Wirtschaftswissenschaften am Montgomery College in Maryland [USA]. Ich freue mich, heute morgen bei Ihnen zu sein, um über mindestens drei Fragen zu sprechen, die ich stellen und auf die ich Antworten geben werde.

Eine der wichtigsten Fragen, die es zu klären gilt, lautet: Welche wirtschaftlichen Bedingungen herrschten in Afghanistan vor dem neuen Regime, also vor der Machtübernahme durch die Taliban? Das ist die erste Frage, die ich beantworten möchte. Die zweite Frage lautet: Was hat sich getan, seit das Emirat [der Taliban] an der Macht ist? Und die dritte Frage, die ich stellen und dann beantworten möchte, lautet: Was ist zu tun? Über das, was ich seit September vorgeschlagen habe, wurde in allen Medien in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa und Asien ausführlich berichtet. Auf diese drei Fragen werde ich mich konzentrieren.

Bedingungen vor der Taliban-Machtübernahme

Beginnen wir mit der ersten Frage. Stellen wir die Frage noch einmal konkret: Welche Bedingungen bestanden, bevor das neue Regime des Emirats [das Islamische Emirat Afghanistan] an die Macht kam? Das sind die Bedingungen, die während der gesamten letzten Zeit herrschten.

Der wichtige Punkt dabei ist, daß es bis vor kurzem einen Konflikt gab – wie natürlich jeder weiß –, den dieses Land seit 20 Jahren erleidet. Dieser Konflikt führte zu einem massiven Exodus vieler Afghanen. Es gab eine starke Nachfrage nach Devisen, was die Zentralbank stark unter Druck setzte, US-Dollars bereitzustellen, weil die Menschen das Land verlassen wollten. Auch die Gesamtzahl der Binnenflüchtlinge steigt weiter an. Inzwischen gibt es Schätzungen, die von etwa 4 Millionen Menschen ausgehen. Das war also einer der wichtigsten Punkte, der Konflikt.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Dürre, die nach Schätzungen der FAO [Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN] die schlimmste Dürre seit 35 Jahren war. Unsere eigene Datenabteilung bei der Zentralbank hat festgestellt, daß die Ernte um 25-30% geringer ausfallen wird als im letzten Jahr. Zudem sind etwa 25 der 34 Provinzen Afghanistans von dem Mangel betroffen. Ich denke, das sollte man sich vor Augen halten.

Der dritte Faktor in diesem Zeitraum war die Pandemie mit ihren Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit und die Wirtschaft insgesamt. Das ist ein wichtiger Punkt, den man im Auge behalten sollte, denn die Pandemie ist in Afghanistan immer noch weit verbreitet. Wenn man sich die gesammelten Daten ansieht, sind schätzungsweise nur 7% der Bevölkerung Afghanistans geimpft.

Ich denke, auch das ist ein wichtiger Punkt, den man nicht vergessen sollte. Da Afghanistan ein Empfängerstaat ist, war das Land in dieser Zeit stark auf die Hilfe der Vereinigten Staaten und Europas angewiesen. Diese Hilfe wurde komplett eingestellt – die gesamte Entwicklungshilfe und die Sicherheitshilfe.

Veränderungen seit der Machtübernahme

Der andere Punkt ist, damit komme ich zu meiner zweiten Frage, daß die Vereinigten Staaten Afghanistans Vermögenswerte eingefroren haben. Wenn man sich die Gesamtsituation anschaut, hat sich das negativ auf Afghanistans Wirtschaft ausgewirkt. Als das Emirat an die Macht kam, erbte es die besonderen wirtschaftlichen Bedingungen, die vor ihrer Machtübernahme am 15. August herrschten. Die Wirtschaft wurde also von den genannten Faktoren beeinträchtigt, was sich negativ auf das Wirtschaftswachstum des Landes auswirkte. Alle Sektoren der Wirtschaft waren betroffen.

Betrachtet man den Landwirtschaftssektor, den wichtigsten Wirtschaftszweig, so stellt man fest, daß die Landwirtschaft etwa 27% zum BIP, dem Bruttoinlandsprodukt beiträgt. Dieser Sektor weist eindeutig ein negatives Wachstum auf. Dafür gibt es viele Gründe, auf die ich in der Fragerunde gerne eingehen werde.

Auch der Industriesektor ist deutlich geschrumpft. Die Prognosen für den Industriesektor – diese Prognosen werden von unserer Zentralbank erstellt – gehen davon aus, daß die Industrie aufgrund der COVID-19-Pandemie, des politischen Chaos‘ und des Vertrauensverlustes infolge dieser außergewöhnlichen Situation erneut zweistellig zurückgehen wird.

Ebenso der Dienstleistungssektor. Der Dienstleistungssektor wurde in Mitleidenschaft gezogen, obwohl er etwa 56,1% zum BIP Afghanistans beiträgt. Dieser Sektor hing eindeutig auch in hohem Maße von den Investitionen [von außen] ab. Fehlende Investitionen und mangelndes Vertrauen haben zu einer Situation geführt, in der zumindest ein Teil der Dienstleistungstätigkeiten zum Stillstand gekommen ist.

Allem voran natürlich der Handelssektor. Der Außenhandel ist erheblich zurückgegangen. Afghanistans Handelsdefizit wird von der Zentralbank auf etwa 33% geschätzt. Wenn man also die Gesamtexporte und -importe betrachtet, ist Afghanistan ein importabhängiges Land. Es importiert mehr als es exportiert, und alle Daten zeigen, daß sowohl die Exporte als auch die Importe zurückgehen, was sich auf die Wirtschaft auswirken wird.

Die Reserven freigeben!

Zusammenfassend kann ich sagen, daß die afghanische Wirtschaft also schon vor der Machtübernahme durch die Regierung der Emirate unter diesen schwierigen Bedingungen gelitten hat: die COVID-Pandemie, die schwere Dürre, der Konflikt und der Verlust des Vertrauens der Investoren – das ist eindeutig verschwunden, besonders in diesem Zeitraum.

Als das Taliban-Regime an die Macht kam, erbte es diese Bedingungen in der Wirtschaft. Und all diese Dinge haben sich in hohem Maße verschlechtert, zum einen wegen der internationalen Hilfe, denn Afghanistan war in hohem Maße auf internationale Hilfe angewiesen. Wir sprechen hier von einer Wirtschaft, die zu mehr als 40% des BIP auf Hilfe angewiesen war. Außerdem wurden 75% der öffentlichen Ausgaben von außen bereitgestellt. Als das Taliban-Regime an die Macht kam, wurde all das eingestellt. Die Hilfe wurde eingestellt und die Entwicklungsprojekte wurden nicht weitergeführt. Die Vereinigten Staaten verhängten Sanktionen und froren auch Afghanistans Reserven ein.

Afghanistan hatte am 30. August 2021 Reserven in Höhe von 9,1 Milliarden Dollar. Der größte Teil dieser Reserven befindet sich in den Vereinigten Staaten, etwa 7,1 Mrd. Dollar; der Rest liegt hauptsächlich in Europa und anderen Ländern. Diese Reserven wurden also von den Vereinigten Staaten eingefroren. Die Vereinigten Staaten haben bis jetzt nicht beschlossen, diese Devisenreserven freizugeben.

Das hat ein ziemliches Problem verursacht, und der Grund dafür ist, daß die Reserven dazu verwendet wurden, den Wechselkurs und die Preise zu stabilisieren. Wenn die Zentralbank keinen Zugang zu diesen Reserven hat, werden zwei Dinge passieren, wie ich bereits im September vorausgesagt habe: Die Preise würden steigen, was auch geschehen ist – zweistellige Preissteigerungen; außerdem würde der Wert des Afghani gegenüber dem Dollar und anderen Währungen abwerten, und das zweistellig. Das habe ich vorausgesagt, und genau das ist eingetreten.

Wir sehen die höheren Preise, die früher durch Versteigerungen [der Zentralbank], durch die Verwendung der Reserven, die rechtmäßig und korrekt die Reserven der Afghanen sind und niemand anderem als der afghanischen Öffentlichkeit gehören, deutlich unter Kontrolle gebracht worden waren. Viele Afghanen brauchen Zugang zu diesen besonderen Reserven, um sie zur Stabilisierung der Preise zu nutzen, damit die Menschen es sich leisten können, für die Grundbedürfnisse des Lebens zu bezahlen. Das können sie derzeit nicht, denn erstens sind die Preise zweistellig gestiegen, und zweitens haben viele Menschen ihr Einkommen verloren, so daß sie nicht in der Lage sind, Waren und Dienstleistungen zu bezahlen, erst recht, wenn die Preise zweistellig steigen. Selbst bei denjenigen, die ein Einkommen haben, muß die Kaufkraft sinken.

Die einfachen Afghanen sollten nicht bestraft werden. Die einfachen Afghanen haben nichts mit dem Regime zu tun, unabhängig davon, ob es dieses Regime ist oder ein anderes.

Zwei wichtige Dinge sind seit dem Bestehen des Emirats eingetreten: Zum einen hat sich die Sicherheitslage verbessert, wie viele berichten. Das zweite, was sich ebenfalls gebessert hat, ist die Korruption.

Warum sollte das afghanische Volk bestraft werden und keinen Zugang zu seinen internationalen Reserven haben? Eine Möglichkeit wäre, das Finanzsystem zusammenbrechen zu lassen. Die einfachen Afghanen haben, wie ich bereits sagte, nichts mit dem Regime des Emirats zu tun, und sie sollten nicht vom Zugang zu ihren Reserven abgeschnitten werden, damit das internationale Finanzsystem weiter florieren kann und die Menschen nicht in ein solches Elend stürzen, in dem sie sich derzeit in den meisten Teilen Afghanistans befinden. Wie aus allen Berichten hervorgeht, gerät die Bevölkerung in eine Hungersnot, und wenn nichts unternommen wird, wird es zu einem massiven Exodus vieler Afghanen in den Iran, die Türkei und nach Europa kommen, was bereits begonnen hat. Das wird für viele europäische Partner ein sehr kostspieliger Zustand sein.

Hier möchte ich aufhören, ich beantworte gerne Ihre Fragen, wenn Sie welche haben. Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben.