„Wir müssen die Weltöffentlichkeit aufrütteln
zu einer langfristigen Lösung für Afghanistan“
Von Alexander Hartmann
„Die humanitäre Krise in Afghanistan: auf dem Weg zu einer langfristigen
Lösung“ lautete der Titel eines gemeinsamen Seminars, das der Russische Rat für
Internationale Angelegenheiten (RIAC) – der führenden Denkfabrik, die dem
Außenministerium angegliedert ist – und das Schiller-Institut (SI) am 10.
Februar veranstalteten. Es befaßte sich mit den Ursachen der humanitären Krise
in Afghanistan, den geopolitischen Auswirkungen eines gescheiterten Staates in
Afghanistan, den erforderlichen Maßnahmen, um die unmittelbare Gefahr eines
Massenverhungerns und das Flüchtlingsproblem zu beseitigen, und der Rolle der
Weltmächte in einer langfristigen Lösung der humanitären Krise.
Neben Dr. Andrej Kortunow, dem Generaldirektor des RIAC, und Helga
Zepp-LaRouche, der Vorsitzenden des SI, sprachen Iwan Safrantschuk, Direktor des
Zentrums für Eurasische Studien der MGIMO-Universität, Temur Umarow, Fellow am
Carnegie Moscow Center, Jim Jatras, US-Diplomat und ehemaliger Berater der
Republikanischen Fraktion im US-Senat sowie der Autor und ehemalige CIA-Offizier
Graham Fuller.
Andrej Kortunow verglich in seinen einführenden Bemerkungen die Erwartungen
vor einem halben Jahr bei der Machtübernahme der Taliban mit den tatsächlich
eingetretenen Entwicklungen. So habe sich keine moderatere und inklusivere
Regierung gebildet, es sei keine schnelle Veränderung zu erwarten. Die
humanitäre Katastrophe sei schrecklich, aber die Regierung könne dies
überstehen, sie habe ihre Position im Land konsolidiert und es gebe keine
Herausforderer von Bedeutung. Die internationale Gemeinschaft sei in Bezug auf
den Umgang mit den Taliban noch genauso gespalten wie vor einem halben Jahr. Die
Taliban würden zwar nicht als Regierung international anerkannt, aber
Gesprächskanäle offen gehalten. Rußland müsse die Entwicklungen in Afghanistan
im Licht der jüngsten Ereignisse in Kasachstan betrachten.
Helga Zepp-LaRouche beschrieb dann die schreckliche humanitäre Lage in
Afghanistan. Diese Krise sei absehbar gewesen, daher stelle sich die Frage nach
der Absicht der westlichen Politik: „Ist die Intention also, die Fähigkeit der
Taliban, den Staat irgendwie aufrecht zu erhalten, soweit zu sabotieren, daß die
Opposition – also auch ISIS, Al-Kaida, Drogenhändler, Warlords etc. – Oberwasser
gewinnt? Die Folge wäre ein neuer blutiger Bürgerkrieg, eine Hölle, in der die
Zivilbevölkerung, zwischen Verhungern, Erfrieren, COVID, Epidemien wie Polio,
Masern, Denguefieber, Diarrhoe etc. aufgerieben wird und Millionen Flüchtlinge
sich in die Nachbarländer und nach Europa zu retten versuchen.“
Als Alternative stellte sie ihren Vorschlag der „Operation Ibn Sina“ vor,
eine Initiative, die humanitäre Krise in Afghanistan zu beheben, als ein
gemeinsames Unternehmen, in dem die westlichen Mächte mit Rußland, China und
anderen Ländern zusammenarbeiten können.
Dabei gehe es nicht nur um Afghanistan. „Es gibt keinen Platz auf dieser
Erde, an dem die moralische Überlebensfähigkeit der menschlichen Gattung so sehr
getestet wird, wie in Afghanistan. Es ist nicht unsere Sicherheit, die am
Hindukusch verteidigt wird, wie der damalige Verteidigungsminister Peter Struck
behauptet hatte, sondern unsere Menschlichkeit.“ (Den Text ihrer Ausführungen
finden Sie in dieser Ausgabe.)
„You break it, you pay for it” – „Wer etwas kaputt macht, der muß es
bezahlen”: Mit diesem Sprichwort eröffnete der langjährige Politikberater James
Jatras seine Ausführungen. Tatsächlich müsse der Westen schon seit 20 Jahren den
Preis dafür zahlen, daß er Afghanistan zerstört. Trotz Billionen-Dollar-Ausgaben
für den Militäreinsatz habe der Westen nach 20 Jahren in Afghanistan nichts
vorzuweisen. Das Problem sei aber, daß nicht nur Gutes unterlassen wird, sondern
eine Absicht besteht, das Land zu schädigen. Das gelte genauso für Syrien. „Was
ist die Mentalität der westlichen Mächte, die diesen Zustand herbeigeführt
haben?“ Ihnen gehe es darum, die Integration Eurasiens zu verhindern. Die
Alternative sei das, was Helga Zepp-LaRouche vorschlage, aber er sehe keine
Anzeichen dafür, daß Washington dazu bereit sei. „So weit sind wir noch
nicht.“
Die Krise in Afghanistan sei sehr kompliziert, konstatierte Temur Umarow. Die
internationale Gemeinschaft stehe vor dem Dilemma, daß sie etwas gegen die Krise
tun muß, aber es im Land keine von ihr anerkannte Regierung gibt, mit der man
zusammenarbeiten kann. Die Hilfe sei aber notwendig, weil sonst noch sehr viel
schlimmere Probleme entstehen, die weitreichende Konsequenzen für die Zukunft
hätten. Rußland und China wollten vor allem ihre eigene Sicherheit schützen,
ohne sich in die inneren Angelegenheiten Afghanistans hineinziehen zu lassen.
Usbekistan habe eine andere Haltung, es wolle Afghanistan stabilisieren. Diese
Haltung sollten auch die anderen Länder übernehmen, doch sie verfolgen nur ihre
eigenen Ziele. Man sollte aber die Bereitschaft auch der kleineren Länder, etwas
zu tun, nicht ignorieren.
Graham Fuller begann seinen Vortrag auf Russisch, um „zu zeigen, wo der
Fehler liegt“: Als er vor Jahren in Afghanistan stationiert war, sei die
russische Sprache für seine Arbeit wichtiger als die einheimische Sprache
gewesen. Afghanistan werde immer nur als Schachfigur bei der Verfolgung eigener
Interessen betrachtet. „Das müssen wir ändern, das ist der erste Schritt.“ Die
Frage sei, was die wahren eigenen Interessen sind: „Wenn man das Ganze als ein
strategisches Schachspiel betrachtet, kommt man zu dem einen Ergebnis, wenn man
auf Stabilität schaut, zu einem anderen.“ Um die Probleme zu lösen, müßten die
USA mit drei Ländern in der Region zusammenarbeiten – China, Rußland und dem
Iran –, die sie derzeit als „Feindstaaten“ einstufen, aber solange diese Haltung
vorherrsche, gebe es keine Lösung. Diese Haltung habe schon viele Katastrophen
für die amerikanische Diplomatie verursacht.
Iwan Safrantschuk unterstützte Fullers Forderung, dem gesunden
Menschenverstand zu folgen. Der Westen habe Afghanistan im Stich gelassen und
überlasse es sich selbst. Es gebe Länder, die nicht wollen, daß die
Taliban-Regierung kollabiert, und es gebe eine weitere Gruppe von Ländern, die
sich neutral verhalten. Aber es gebe auch Länder, die den Kollaps der
Taliban-Regierung wollen, um dadurch ein regionales Problem zu schaffen,
beispielsweise durch eine Flüchtlingskrise. „Wenn äußere Akteure die Krise in
dieser Weise ausnutzen, dann werden die Konsequenzen jeden treffen.“
Die Weltöffentlichkeit aufrütteln
In der anschließenden Diskussion widersprach Helga Zepp-LaRouche
Safrantschuks Aussage, die Lage in Afghanistan sei „noch nicht so schlimm, daß
der Westen sich genug schämt, um etwas zu tun“. Tatsächlich herrsche in
Afghanistan schon die schlimmste humanitäre Krise auf dem gesamten Planeten, das
gehe aus allen offiziellen Zahlen von UN, Welternährungsprogramm und UNICEF
zweifelsfrei hervor. Aber seit etwa Mitte September werde darüber in den
etablierten Medien nicht mehr berichtet. „Denn wenn man zugeben würde, wie
schlimm die Lage tatsächlich ist, dann würde die Weltöffentlichkeit sich
wirklich aufregen, besonders in den islamischen Ländern und den sogenannten
Entwicklungsländern. Deshalb versuchen die Medien, diese Informationen zu
unterdrücken.“ Daher sei eine der Aufgaben der Operation Ibn Sina, „die
Weltöffentlichkeit in Bezug auf die wahre Dimension der humanitären Krise
aufzurütteln und ihr Empfindungsvermögen wachzurufen… Das ist die Fähigkeit, die
Menschheit leidenschaftlich zu lieben und keinen Völkermord zuzulassen!“
Die Lage sei kein Zufall, alle hätten gewußt, was geschehen würde, wenn die
NATO ihre Truppen abzieht und die internationale Hilfe eingestellt wird. Das
alles werde auf die westlichen Länder zurückschlagen. „Beim Nürnberger Tribunal
wurde gefragt, was man über die Verbrechen wußte, die verübt wurden. Und wenn
man ganz einfach helfen könnte, indem man die Gelder freigibt, die in den
amerikanischen und europäischen Banken liegen, dann stellt sich die Frage der
Schuld! … Ich denke, wir sollten etwas energischer darin sein, etwas nicht
zuzulassen, was unglaublich ist! Es geht hier nicht darum, etwas nur zu
kommentieren. Es geht darum, Kräfte in aller Welt zu mobilisieren, um eine
unerträgliche Situation zu beheben!“
Für Jim Jatras ist die Verweigerung der Gelder und das Festhalten an den
Sanktionen eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. „Es ist schwierig,
darüber zu reden, was wir für Afghanistan tun können, solange wir nicht
aufhören, Afghanistan diese Dinge anzutun.“ Die Nachbarländer seien alle daran
interessiert, daß Afghanistan stabil ist und seinen Nachbarn keine Probleme
bereitet. Die Amerikaner und Briten hingegen hätten kein Interesse an
Afghanistan. „Aber leider sehen die Leute, die im Westen die Politik bestimmen,
ein Interesse, irgendwelche Vereinbarungen zur Stabilisierung Afghanistans zu
stören.“
Graham Fuller betonte: „Ich denke, die Vereinigten Staaten durchleben eine
Periode eines gewaltigen psychologischen Traumas. Sie müssen sich mit der
Tatsache abfinden, daß sie nicht mehr in der Lage sind, dem Rest der Welt die
Meinungen zu diktieren oder zu prägen, und davon ausgehen können, daß man ihnen
folgt. Es ist schmerzhaft für sie, anzuerkennen, daß es andere große Staaten auf
der Welt gibt, die zunehmend mitreden können.“ Eine Änderung der Haltung sei
eher in Europa zu erwarten. „Europa ist in der Lage, Amerika angesichts dieses
Wandels zu helfen, eine viel multilateralere Welt zu akzeptieren, in der man die
Länder nicht mehr daran messen muß, welche Rolle sie im großen internationalen
Ringen spielen.“
In seinem Schlußwort betonte Andrej Kortunow: „Es ist unwahrscheinlich, daß
wir zu einem Konsens gelangen, was in Afghanistan geschieht und was getan werden
kann. Aber das sollte uns nicht daran hindern, diesem Land gemeinsam humanitäre
Hilfe zu leisten.“ Helga Zepp-LaRouche stimmt ihm zu, daß man zuerst die
humanitäre Krise anpacken muß. Sie betonte:
„Wir brauchen einen zweifachen Ansatz. Wir brauchen eine internationale
Mobilisierung für humanitäre Hilfe, Medizin, Nahrungsmittel – Nahrung ist in
dieser Lage Medizin. Wir brauchen Nahrungsmittellieferungen, medizinische Dinge
müssen geliefert werden. Wir brauchen ein modernes Gesundheitssystem, es gibt
COVID, es gibt alle diese anderen Krankheiten, also brauchen wir Krankenhäuser…
Und die zweite Ebene ist natürlich der Aufbau der Wirtschaft in Afghanistan,
und das kann nur geschehen, wenn Afghanistan in die Projekte in der Region
eingebunden wird, die bereits als Teil der Gürtel- und Straßen-Initiative
vorhanden sind.“
Anstatt über die Lage zu verzweifeln, sollte man diese Idee der Operation Ibn
Sina in die westlichen Länder bringen und an sie appellieren, jetzt einen
Schritt zu tun und zu helfen. „Vereinigen wir also unsere Bemühungen und
schaffen wir eine Bewegung für Entwicklung. Frieden durch Entwicklung, das muß
unser Slogan sein.“
|