Westen zertrümmert die Weltordnung –
Xi baut neue Sicherheitsarchitektur
Von Helga Zepp-LaRouche
Ganze zehn Tage nach der bahnbrechenden Konferenz des
Schiller-Instituts,1 die den Aufbau einer neuen internationalen
Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur zum Thema hatte,2
präsentierte Chinas Präsident Xi Jinping in seiner Eröffnungsrede zum
diesjährigen Boao-Forum einen Vorschlag für eine globale Sicherheitsinitiative,
die genau die gleiche Konzeption zum Ausdruck brachte: daß es nur eine für die
ganze Weltgemeinschaft gleichermaßen geltende umfassende Sicherheit geben kann,
die auf der UN-Charta, den Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz und einer
gemeinsamen Entwicklung aufgebaut ist. Während sich um China die Nationen
gruppieren, die dieser Auffassung zustimmen, ist der Westen gleichzeitig dabei,
die Weltordnung, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg und noch einmal neu
nach dem Ende der Sowjetunion entwickelt hat, in Trümmer zu legen. Wir brauchen
in Deutschland dringend eine wirkliche öffentliche Diskussion darüber, wie wir
uns zu diesen Veränderungen verhalten sollen, was unsere eigenen Interessen sind
und wie wir sie verteidigen können.
In dem Informationskrieg, der seit geraumer Zeit, vor allem aber seit dem
Kriegsausbruch in der Ukraine in Medien und Politik tobt, ist natürlich nur
Putin der Paria, wie Jen Psaki, Sprecherin des Weißen Hauses, nicht müde wird zu
betonen. Wer auch immer es wagt davon zu sprechen, daß der Kriegsausbruch eine
Vorgeschichte hat, wird augenblicklich als Putin-Agent disqualifiziert und
bekommt zum ach so großen Wohl von Demokratie und Meinungsfreiheit seine Konten
bei den sozialen Medien gesperrt, selbst renommierte Journalisten wie Pepe
Escobar. Dabei ist es offenkundig die blinde Wut gegen Putin und Rußland, die
gegenwärtig wie eine Abrißbirne gegen die Institutionen der Weltordnung donnert.
So jüngst geschehen bei dem Treffen der G20-Finanzminister, das im Rahmen der
Halbjahrestagung von IWF und Weltbank in Washington stattfand.
US-Finanzministerin Janet Yellen und ihr britischer Kollege Rishi Sunak,
Christine Lagarde, Jerome Powell und einige andere verließen laut dpa
demonstrativ den Raum, als der russische Finanzminister Anton Siluanow per Video
dazugeschaltet wurde, und riskieren damit die Existenz der Institution der G20,
die gerade geschaffen wurde, damit die wichtigsten Staaten gemeinsam Probleme
lösen.
Deshalb weigert sich Indonesien, das derzeit den G20-Vorsitz innehat, dem
Druck der USA und Großbritanniens nachzugeben, Putin von der Teilnahme am
kommenden G20-Gipfel im November in Bali auszuschließen. Wenn die großen Mächte
sich angesichts der dramatischen Probleme in der Welt nicht an einen Tisch
setzen könnten und nicht alle Staatschefs zum Gipfel kämen, bräuchte dieser gar
nicht stattzufinden, kommentierte Rizal Sukma, leitendes Mitglied der
indonesischen Denkfabrik Center for Strategic and International Studies: „Es
bedeutet, daß große Mächte sich für die Not von Menschen in Schwellenländern und
Entwicklungsländern nicht interessieren.“
Genau dies ist die Grundstimmung bei einer Vielzahl von Entwicklungsländern,
die nicht bereit sind, bei der Strategie der Isolierung gegenüber Rußland
mitzumachen, und es ablehnen, sich in eine Konfrontation zwischen den USA und
Rußland hineinziehen zu lassen. Weit davon entfernt, daß Rußland isoliert wäre,
gehören dazu die bevölkerungsstarken BRICS (Brasilien, Rußland, Indien, China,
Südafrika), die SCO (China, Indien, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Rußland,
Tadschikistan, Usbekistan) sowie Indonesien, Mexiko, Saudi-Arabien, Nigeria, die
Türkei, Südkorea und andere. Mehr als die Hälfte der afrikanischen Staaten will
ebenfalls neutral bleiben. Es ist den harten Sanktionen gegen Rußland zu
verdanken – die explizit darauf ausgerichtet sind, „Rußland zu zerstören“, wie
u.a. der französische Finanzminister Le Maire formulierte –, daß Rußland jetzt
mit vielen dieser Nationen über die Modalitäten eines neuen Finanzsystems
verhandelt. Damit ist der Anfang vom Ende der Dominanz des Dollars als
Weltleitwährung eingeläutet.
Es findet derzeit die weitreichendste strategische Neuausrichtung seit dem
Zweiten Weltkrieg statt, von welcher der düpierte Konsument all der
Sonder-Brennpunkt-Sendungen über die Ukraine absolut nichts mitbekommt und
offensichtlich nichts mitbekommen soll. Im Gegensatz zu der offiziell erlaubten
Interpretation handelt es sich dabei nicht um eine Konfrontation „zwischen
Demokratien und autokratischen Regimes“, sondern zwischen den ehemaligen
Kolonialmächten und den Ländern, die deren Opfer waren. Und diese letzteren, in
denen schon vor Kriegsausbruch fast eine Milliarde Menschen und nun als Folge
der Sanktionen gegen Rußland und Belarus 1,7 Milliarden Menschen akut von
Hungersnot betroffen sind, schauen auf die Taten, die ihnen das Überleben
sichern, statt auf Worthülsen wie Demokratie und Menschenrechte, die aber nicht
satt machen und deren praktische Anwendung man gegenwärtig in Afghanistan sehen
kann, wo 24 Millionen Menschen nach dem NATO-Abzug dem Risiko des Hungertodes
ausgesetzt wurden.
Stattdessen hat jetzt Präsident Xi Jinping die globale
Nahrungsmittelsicherheit zur Chefsache gemacht und mobilisiert alle Ressourcen,
um die landwirtschaftlich genutzten Flächen in China zu vergrößern und
wissenschaftliche Durchbrüche bei der Entwicklung von Samen zu fördern. Schon
bis Ende 2021 hatte China über 1500 Technologietransfers weltweit in den
Bereichen Getreideproduktion, Tierhaltung, Ackerland-Wassermanagement und
Nahrungsmittelverarbeitung in Gang gesetzt. Rußland hat jetzt seine
Düngerexporte nach Indien, dem zweitgrößten Produzenten von Reis und Getreide
weltweit, erhöht, damit Indien seinen Export auf 22 Millionen Tonnen Reis und 16
Millionen Tonnen Getreide steigern kann.
Den Krieg verlängern?
Die NATO und die USA haben sich geweigert, auf die zuvor gebetsmühlenartig
wiederholten und am 17. Dezember ultimativ gestellten Forderungen Putins nach
rechtlich bindenden Sicherheitsgarantien einzugehen.
Wie der Schweizer Militärexperte Jacques Baud berichtete, begann die
ukrainische Militäroperation im Donbaß in der Nacht zum 16.-17. Februar mit
einer 30fach verstärkten Beschießung, wie damals auch die OSZE-Beobachtergruppe
berichtete. Daraufhin verabschiedete die Duma, das russische Parlament, eine
Resolution an Präsident Putin mit der Aufforderung, die Unabhängigkeit der
beiden selbsternannten Volksrepubliken anzuerkennen. Am 21. Februar
unterzeichnete Putin ein Freundschafts- und Unterstützungsabkommen mit den
beiden Republiken, das es ihnen ermöglichte, im Fall eines Angriffs um Beistand
zu ersuchen. Es war also keineswegs so, daß Putin aus dem Blauen heraus einen
Aggressionskrieg gegen die Ukraine startete.
Die Frage, die dringend untersucht werden sollte, ist die Einschätzung des
Figaro-Journalisten Malbrunot nach seiner Reise in die Ukraine, daß es
die USA sind, die im Krieg in der Ukraine das Sagen haben. „Ich habe es mit
meinen eigenen Augen gesehen“, so Malbrunot.
Nun hat der Außenminister der Türkei – immerhin eines NATO-Mitgliedstaates –,
Mevlüt Cavosoglu, den Vorwurf erhoben, gewisse NATO-Staaten wollten den
Ukraine-Krieg verlängern, um Rußland zu schwächen. Noch schärfer formulierte es
der ehemalige italienische Luftwaffenchef, General Leonardo Tricarico, der
gegenüber dem italienischen Fernsehen sagte, Präsident Biden, Blinken,
Stoltenberg und Boris Johnson hätten das Wort „Verhandlungen“ nicht einmal in
den Mund genommen. „Ich weiß, was ich sage: Biden will keinen Frieden“, so
Tricarico.
Ein Resultat der ganzen Entwicklung ist es, daß das Verhältnis zwischen
Deutschland und Rußland vollkommen zerstört ist. Vielleicht sollte man sich an
die Aussage des US-Experten für Geopolitik George Friedman erinnern, die dieser
in einer Rede 2015 vor dem Chicagoer Council of Global Affairs gemacht hat: Für
die USA sei es die Urangst, daß sich deutsches Kapital und Technologie mit
russischen Rohstoffen und Arbeitskräften verbinden, weil diese Verbindung die
einzige Macht sei, die die USA bedrohen könnte. US-Strategie sei es daher, einen
antirussischen Gürtel durch ein Intermarium (die Länder von Polen bis Bulgarien)
zu schaffen, der Deutschland und Rußland voneinander abschneidet. Genau in
diesem Geiste fand die jüngste Reise von Frau Baerbock in die baltischen Staaten
statt, wo sie zwar die Gedenkstätte der Opfer des Kommunismus besuchte, es aber
dem Zeitgeist nicht entsprechend fand, der Opfer des Nationalsozialismus zu
gedenken.
Es ist diese Geopolitik, die zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert verursacht
hat. Deshalb ist die Globale Sicherheits-Initiative, die Xi Jinping soeben
vorgeschlagen hat, die alle Staaten umfassend einschließen soll, von höchster
strategischer Bedeutung. Er betonte nicht nur, daß die Fünf Prinzipien der
friedlichen Koexistenz und der Geist der Bandung-Konferenz heute aktueller denn
je seien, sondern brachte auch genau den Optimismus zum Ausdruck, der heute so
dringend gebraucht wird:
„Der Blick auf die Geschichte lehrt uns: Je schwieriger es wird, um so
wichtiger ist die Notwendigkeit, zuversichtlich zu bleiben. Vor Problemen soll
man keine Angst haben, denn es war ein Problem nach dem anderen, das den
Fortschritt der menschlichen Gesellschaft vorangetrieben hat. Keine
Schwierigkeit kann jemals das Rad der Geschichte anhalten. Konfrontiert mit
vielen Herausforderungen dürfen wir nicht die Zuversicht verlieren, zögern oder
zurückweichen. Statt dessen müssen wir unsere Zuversicht stärken und gegen alle
Widerstände voranpreschen.“
Man merkt an diesen Sätzen, daß Xi Jinping ein Freund der Gedanken von
Leibniz ist, dessen Idee der „besten aller Welten“ genau darin besteht, daß
jedes Übel in der Welt ein noch größeres Gutes hervorbringen kann und daß der
mutige Einsatz des Individuums bei der Überwindung der Probleme die
Freiheitsgrade im Universum vermehrt.
Wenn wir in Deutschland einen Ausweg aus der hochgefährlichen Lage finden
wollen, in der geopolitische Abenteurer mit ihren Forderungen nach immer mehr
offensiven Waffen für die Ukraine, damit der Krieg „bis zum letzten Ukrainer“
weitergehen kann, letztlich die Gefahr eines Atomkriegs verstärken, dann müssen
wir die Initiative Xi Jinpings ernsthaft aufgreifen. Wenn wir auf diesem völlig
neuen Paradigma bestehen, tun wir auch Amerika einen größeren Gefallen, als in
einer falsch verstandenen Bündnistreue im nuklearen Winter zu enden. Nur wenn
die USA, Rußland, China und Europa an einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur
teilnehmen, können wir dieser Gefahr dauerhaft entgehen.
zepp-larouche@eir.de
Anmerkungen
1. Siehe https://schillerinstitute.com/de/blog/2022/03/18/internet-konferenz-am-9-april-2022-die-schaffung-einer-neuen-sicherheits-und-entwicklungsarchitektur-fuer-alle-nationen/
2. Siehe https://schillerinstitute.com/de/blog/2022/02/24/petition-fuer-eine-internationale-konferenz-zur-schaffung-einer-neuen-sicherheits-und-entwicklungsarchitektur-fuer-alle-nationen/
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