Südamerika und die Neue Entwicklungs-Architektur
Von Fraydique Gaitán und Pedro Rubio
Fraydique Gaitán ist Präsident des kolumbianischen
Gewerkschaftsbundes CTU USCTRAB, Pedro Rubio Präsident der Vereinigung der
Beamten des Obersten Rechnungshofs in Kolumbien. Für die Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 9. April übermittelten sie den folgenden Beitrag.
Fraydique Gaitán: Es ist sehr wichtig für Kolumbien und
Lateinamerika, auf alles zu achten, was in dieser globalen Situation vor sich
geht. Wir haben eine globale Pandemie erlebt, und nun die Ukraine-Rußland-Frage,
die die ganze Welt betrifft.
Das zwingt uns dazu, darüber nachzudenken, wie die politische Agenda in
Zukunft aussehen soll. Wir sollten von einer neuen Weltordnung sprechen. Und wir
sollten darüber nachdenken, ob der Mensch weiterhin im Mittelpunkt des
Geschehens stehen wird oder nicht; und ob der Mensch das Wichtigste für die
Zentren des Denkens ist – wie etwa jenen Zentren der Macht, in denen wir sehen,
daß der Schaden, der der Menschenwürde und dem Leben selbst zugefügt wird, eine
ernste und enorme Wegscheide erreicht hat, wo er leicht durch künstliche
Intelligenz ersetzt werden könnte.
Es geht nicht mehr um das Denken einiger Wirtschaftstheoretiker, wo der
Mensch den Menschen benutzt, wo der Mensch versklavt wird, und dann wird er
befreit und geht weiter zum Konzept des Proletariats und entwickelt sich zum
Konzept der Neuen Welt der Arbeit. Wir alle müssen uns also die Frage stellen:
Steht der Mensch derzeit wirklich im Mittelpunkt des Denkens dieser Denkfabriken
und Machtzentren? Wir denken, daß er da stehen sollte.
Das andere wichtige Thema ist die historische Entwicklung des Konzepts der
Arbeitswelt und der globalen Konflikte, die im Laufe der Geschichte aufgetreten
sind. Der Westfälische Frieden ist ein wichtiger Bezugspunkt, den man in
Betracht ziehen sollte, ebenso wie den Versailler Vertrag, trotz der Brüche und
einiger Abweichungen, die in ihnen gefunden wurden. Im Falle des Versailler
Vertrags sind wir jedoch der Meinung, daß wir als Gewerkschaftsbund, der auf der
Grundlage des Konzepts der Internationalen Arbeitsorganisation ( ILO) gegründet
wurde, die im Rahmen von Versailles ins Leben gerufen wurde, eine
Dreigliedrigkeit brauchen, wenn wir von einem stabilen und dauerhaften Frieden
sprechen wollen.
Ein weiterer sehr wichtiger Punkt, den wir im Auge behalten müssen, ist die
Rolle der ILO und der UNO. Wenn wir wollen, daß die Entwicklung der Nationen
symmetrisch verläuft, müssen wir unbedingt prüfen, ob diese beiden
Organisationen gültig sind oder nicht. Für uns ist die ILO gültig, weil sie ein
demokratisches Mitwirkungsorgan ist und aufgrund ihrer drei Wahlgremien einen
demokratischen Sinn hat: eine Abstimmung durch den Staat, durch die Regierung,
eine Abstimmung durch die Arbeitnehmer und eine Abstimmung durch die
Arbeitgeber.
Die UNO hat eine Deformation, nämlich ihren Sicherheitsrat: Nur einige haben
die bewaffnete Macht erlangt, über Atombomben und andere Arten von
Massenvernichtungswaffen zu verfügen, die es ihnen erlauben, dort zu sein. Aber
es gibt keinen Konsens, keine demokratische Entscheidungsfindung durch alle
Nationen. Das führt zu den Asymmetrien, die wir heute vorfinden.
Es ist wichtig zu bedenken, daß wir in diesen neuen Architekturen ein
Gleichgewicht finden müssen, um weiterhin von globaler sozialer Gerechtigkeit
sprechen zu können. Es handelt sich um eine politische Agenda, die von Blöcken
aufgebaut wurde, und das darf nicht bedeuten, daß wir zur Unipolarität oder zur
Bi-Polarität zurückkehren. Wir sollten über ein Minimum von fünf Blöcken
sprechen, und Lateinamerika sollte eine starke Rolle unter diesen Blöcken
spielen. Wir sehen das Beispiel, daß Afrika, das das dreigliedrige System
genutzt hat, heute die Internationale Arbeitsorganisation anführt.
Wir fordern daher, den sozialen Dialog zwischen den Nationen weiter zu
stärken. Es ist nicht einfach, die Spannungen zu interpretieren, denn es gibt
Spannungen zwischen einigen Agenden und anderen, und das ist es, was wir in
diesem Konflikt sehen. Auch wenn einige ihn auf die Ukraine und Rußland
reduzieren wollen, handelt es sich um globale Spannungen.
Für den Gewerkschaftsbund CTU-USCTRAB ist es daher wichtig, zum
dreigliedrigen Mechanismus zurückzukehren, die Deformation der UNO im
Sicherheitsrat und andere asymmetrische Situationen zu berücksichtigen, wie z.B.
die Interventionen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). In der ILO ist
deren Rolle klar definiert, aber in der UNO torpedieren diese störenden
Kapitalgruppen, die sogar ganze Staaten kontrollieren, eine echte Agenda
globaler Politik und behindern eine neue Architektur, die eine echte Entwicklung
für alle Nationen und ein Gefühl der Sicherheit für alle schaffen würde.
Die Potentiale müssen genutzt werden
Pedro Rubio: Grüße aus Kolumbien. Wir haben Initiativen und
Vorschläge für den Zugang zum südamerikanischen Kontinent durch die Darien-Lücke
und Kolumbien gefördert, um nicht nur ein Dreh- und Angelpunkt für die
Weltlandbrücke oder die Neue Seidenstraße (Abbildung 1), wie sie auch
genannt wird, zu werden, sondern auch, um unter dem Gesichtspunkt einer neuen
Wirtschafts- und Entwicklungsarchitektur für alle Nationen nicht nur die
Ernährung der kolumbianischen Bürger zu sichern, sondern auch zu einem
Lieferanten von Nahrungsmitteln für den Planeten zu werden.
Abb. 1: Die Korridore der „Maritimen Seidenstraße“ in der Karibik.
Paradoxerweise haben wir im weltweiten Vergleich sehr fruchtbares Land, weil
wir Teil des Äquatorialgürtels sind, und wir haben eine Vielfalt von Klimazonen,
die es Kolumbien ermöglichen, 365 Tage im Jahr Nahrungsmittel zu produzieren.
Wir haben also ein großes Potential.
Ich möchte die Berechnungen von Wladimir Wernadskij erwähnen, dem russischen
Vater der Biogeochemie, die wir angewandt haben, um die Fähigkeit zu bestimmen,
eine bestimmte Bevölkerung pro Quadratkilometer zu ernähren. Interessant ist zum
Beispiel, daß wir in Kolumbien mit 446.656 Quadratkilometern Ackerland und einer
Bevölkerung von 49,6 Millionen Menschen eine Bevölkerung von 67 Millionen
ernähren könnten.
Mit anderen Worten, mit dem Potential, das wir heute haben, um auf
kolumbianischem Gebiet Nahrungsmittel zu produzieren, könnten wir mit Hilfe der
Technologie – und Wernadskijs Berechnungen basierten auf der Technologie, die
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zur Verfügung stand – und mit Hilfe
des technologischen Fortschritts, der Optimierung unserer landwirtschaftlichen
Flächen zur Ernährung der Menschen, diese Menge sogar verdoppeln.
Mit anderen Worten, ich wage zu behaupten, daß es möglich ist, auf der
Fläche, die wir in Kolumbien haben, durchschnittlich bis zu 75-80 Millionen
Menschen zu ernähren.
Unser Nachbarland Venezuela, das an Kolumbien grenzt, verfügt über 216.000
Quadratkilometer Ackerland und hat eine Bevölkerung von 28,8 Millionen Menschen.
Durch die Optimierung dieses Gebiets auf der Grundlage moderner technologischer
Fortschritte könnten sie mehr als 40-45 Millionen Menschen ernähren.
Und hier haben wir es mit einer souveränen Entscheidung zu tun, die von den
Nationen getroffen werden muß und die auf der Notwendigkeit beruht, jeden
Quadratkilometer oder jeden Hektar Land, je nachdem, wie man es mißt,
produktiver zu machen, um die Nahrungsmittelversorgung zu sichern.
© EIR
Abb. 2: Schematische Darstellung eines Entwicklungskorridors.
Auf diese Weise können wir der drohenden Welthungersnot entgegentreten, vor
der die FAO und die UNO und viele andere internationale Stimmen warnen: daß sie
nicht nur kommt, sondern international bereits im Gange ist. Und es ist
notwendig, sofort einen Plan zur wirtschaftlichen Wiederbelebung für die Länder
zu aktivieren, die über ein landwirtschaftliches Potential verfügen, um die
Politiken zu intensivieren, damit sie in der Lage sind, die
Nahrungsmittellieferanten der Welt zu werden, und nicht nur für ihre eigene
Bevölkerung.
Wie Sie hier sehen können, ist es wichtig, den Ansatz der
Entwicklungskorridore (Abbildung 2) umzusetzen, um den Fluß der
notwendigen Inputs zu gewährleisten, sodaß sowohl die Importe als auch die
Exporte von Nahrungsmitteln über diese Entwicklungskorridore, die als Teil der
Neuen Seidenstraße vorgeschlagen werden, abgewickelt werden können. Das ist es,
was unserer Meinung nach in diesem Moment, in diesem Punctum Saliens der
Geschichte, getan werden muß.
Uns stehen zwei Wege zur Verfügung: der Weg in eine neue Ära, eine
Renaissance des Wirtschaftswachstums und des Dialogs der Kulturen, oder, wie es
einige Theoretiker des Kampfes der Kulturen vorschlagen, ein finsteres Zeitalter
der ständigen Kriege und Konflikte zwischen den Nationen.
Wir in Kolumbien hoffen, daß der gesamte Planet und diese Dialogforen den
notwendigen Fortschritt des Dialogs der Kulturen und der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit vertiefen, den der Planet so dringend braucht.
Ich danke Ihnen.
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