Der Westfälische Friede, um der Thukydides-Falle zu entgehen
Von Jacques Cheminade
Jacques Cheminade ist Präsident von Solidarité et Progrès und war
mehrfacher französischer Präsidentschaftskandidat. Mit dem folgenden Vortrag
eröffnete er den dritten Abschnitt der Internetkonferenz des Schiller-Instituts
am 9. April 2022.
Der Dreißigjährige Krieg, der 1618 begann, kostete mindestens fünf Millionen
Menschen das Leben. Es war eine wahre europäische Apokalypse. Heute sitzen wir
auf einer Weltuntergangsmaschine. Unsere Aufgabe ist es, sie zu stoppen, bevor
sie die Menschheit entweder durch globale wirtschaftliche Verheerung oder durch
einen Atomkrieg vernichtet.
Die Lösung, die der Westfälische Friede von 1648 für die Greueltaten seiner
Zeit bot, sollte uns eine Inspiration sein, um durch eine Änderung unserer Denk-
und Handlungsweise eine Dynamik des Friedens zu schaffen. Denn er beendete nicht
nur die Religionskriege und begründete eine neue Form von Friedensverhandlungen
zwischen Staaten, wie man in allen Geschichtsbüchern nachlesen kann, sondern vor
allem, weil er Agape ansprach – das griechische Wort für das Verständnis
von schöpferischem, erlösendem Wohlwollen für alle Menschen, in einem weltlichen
Sinn.
In seinem Buch Die kommenden 50 Jahre: Dialog der Kulturen Eurasiens
sagt Lyndon LaRouche: „Die implizite Grundlage für das Wissen um die Kompetenz
unserer Entscheidungen liegt nicht in der Erfahrung der Vergangenheit, sondern
in der Kompetenz unserer Erfahrung der Zukunft.“ Der Geist des Westfälischen
Friedens ist gerade in dieser Hinsicht für uns ein Bezugspunkt: Er bezieht sich
auf ein Konzept der Menschheit, das damals noch nicht existierte, das aber
dennoch absolut notwendig war, um die gegenseitige Zerstörung in einem System,
in dem man nur verlieren kann, zu beenden. Heute ist es wieder unsere Aufgabe,
mit den Augen der Zukunft zu sehen.
Abb. 1: „Der Galgenbaum“, Stich von Jacques Callot aus der Serie „Greuel des
Krieges“ von 1633.
Um Ihnen einen Eindruck von den Grausamkeiten des Krieges zu vermitteln,
zeige ich Ihnen hier das Bild „Der Galgenbaum“ (Abbildung 1) aus einer
Serie von 18 Stichen von Jacques Callot aus dem Jahr 1633 mit dem Titel „Greuel
des Krieges“, in denen er darstellt, wie die Gewalt des Krieges und der Verfall
der Moral Soldaten und Zivilisten gleichermaßen betrifft. Die Plünderung
der Stadt Magdeburg ist ein schreckliches Beispiel für solche Grausamkeiten: An
einem Tag, nachdem die Soldaten in die belagerte Stadt eingedrungen waren,
blieben nur 200 der 1.900 Gebäude unversehrt und etwa vier Fünftel der 25.000
Einwohner der Stadt waren tot.
Es dauerte dann mehr als vier Jahre, von 1643 bis 1648, bis eine Einigung
durch verschiedene Verträge, vor allem in Münster und Osnabrück, erzielt wurde.
Frieden erfordert die Schaffung von internationalen Grundsätzen und Gesetzen
zwischen den Nationalstaaten; er kann niemals eine bloße diplomatische
Vereinbarung innerhalb eines bestehenden Systems sein.
Wie war dieser Frieden dann möglich? Weil er eine höhere Ordnung der
Beziehungen zwischen den Staaten und den Menschen schuf! Das ist auch der Grund,
warum wir uns heute auf ihn beziehen sollten.
Dagegen hielt ein so bösartiger Kriegstreiber und Global-Britain-Fanatiker
wie Tony Blair im April 1999 in Chicago eine Rede, in der er den Westfälischen
Frieden ablehnte und sein Konzept eines mörderischen liberalen Interventionismus
gegen die Nationalstaaten vertrat.
Drei Prinzipien
Schauen wir uns also die drei Hauptprinzipien des Westfälischen Friedens
genau an, und wie sie zu einem „Win-Win-System“ der gegenseitigen Entwicklung
führen, das damals als Kameralismus, Merkantilismus oder Philadelphismus
bezeichnet wurde.
Artikel 1 enthält den Kern der westfälischen Philosophie: „Es soll ein
christlicher und allgemeiner Friede herrschen... Jede Partei soll sich bemühen,
der anderen Nutzen, Ehre und Vorteile zu verschaffen.“ Dies steht im absoluten
Gegensatz zum Prinzip der Geopolitik, wonach jeder Akteur versucht, alle
Vorteile auf Kosten der anderen zu erlangen.
Artikel 2 besagt: „Es soll auf der einen und auf der anderen Seite eine ewige
Vergebung, Amnestie oder Begnadigung für alles geben, was seit Beginn dieser
Unruhen begangen worden ist, an welchem Ort oder auf welche Weise auch immer die
Feindseligkeiten ausgeübt worden sind, so daß niemand, unter welchem Vorwand
auch immer, irgendwelche Feindseligkeiten ausüben, Feindschaft hegen oder sich
gegenseitig Unannehmlichkeiten bereiten soll.“ Das ist es, was es bedeutet, „mit
den Augen der Zukunft zu sehen“, statt durch die nie endenden,
selbstzerstörerischen Klagen der Vergangenheit.
Bevor der Vertrag die territorialen Ansprüche regelt, konzentriert er sich
auf den wirtschaftlichen Ruin, in den alle verfallen waren. Als potentielle
Ursachen für die Dynamik des immerwährenden Krieges werden unbezahlbare und
unrechtmäßige Schulden und finanzielle Forderungen aussortiert und geregelt –
vor allem durch Schuldenerlaß (Artikel 13 und 35 bis 39) oder durch eine
ausgehandelte Umschuldung (Artikel 48). In Artikel 37 heißt es ganz konkret:
„Verträge, Tauschgeschäfte, Transaktionen, Verpflichtungen, Verträge, die durch
Zwang oder Drohungen zustande gekommen sind und unrechtmäßig von Staaten oder
Subjekten erpreßt wurden, werden für ungültig erklärt und abgeschafft, so daß
keine Nachforschungen nach ihnen mehr angestellt werden“. Artikel 40 fügt hinzu:
„...und doch sind die Geldsummen, die während des Krieges in gutem Glauben und
in guter Absicht als Beiträge entnommen wurden, um größere Übel durch die
Beitragszahler zu verhindern, hierin nicht enthalten“. Das ist der Geist des
Glass-Steagall-Gesetzes, das sich gegen das richtet, was Roosevelt die
„Geldmacher und Bankster“ nannte.
Lassen Sie mich kurz etwas hinzufügen. Dies ist derselbe Geist, den Martin
Luther King in seiner berühmten politischen Predigt in der Dexter Avenue Baptist
Church in Montgomery, Alabama, verkörperte: „Liebet eure Feinde“, inspiriert
durch das Matthäusevangelium. Er betonte: „Dieses Gebot ist keineswegs die
fromme Anweisung eines utopischen Träumers, sondern eine absolute Notwendigkeit
für das Überleben der Zivilisation.“
Und dann betonte er: „Eine zweite Sache, die der einzelne tun muß, wenn er
seinen Feind lieben will, ist, das Gute in seinem Feind zu entdecken. Und jedes
Mal, wenn du anfängst, diese Person zu hassen, und daran denkst, sie zu hassen,
dann erkenne, daß es dort etwas Gutes gibt, und schaue auf diese guten Punkte,
die die schlechten Punkte überwiegen werden.“ Und dann: „Es gibt noch einen
weiteren Grund, warum du deine Feinde lieben solltest, nämlich weil der Haß die
Persönlichkeit des Hassenden verzerrt.“
Was Martin hier in seiner tiefsten Form zum Ausdruck bringt, ist ein Prinzip,
das von den besten aller Zivilisationen in unserer Menschheitsgeschichte geteilt
wird: daß man sich dafür einsetzt, einen Menschen zu verbessern, indem man seine
Denk- und Handlungsweise ändert und somit sich selbst verbessert.
Frieden und menschliche Kreativität
Den anderen im Geiste des Westfälischen Friedens zu organisieren, das ist
unsere Herausforderung. Sie haben gehört, wie Helga Zepp-LaRouche, inspiriert
von Nikolaus von Kues, uns auffordert, die Ebene des „Zusammenfalls der
Gegensätze“ zu erreichen. Frieden zu schließen bedeutet nicht, die Probleme mit
einem Freund zu lösen, sondern einen Feind auf einer höheren Ebene des Denkens
und Handelns zu organisieren als der Ebene, auf der der Konflikt entstanden ist,
weil es von dort aus möglich wird, gemeinsam das Gute zu tun.
Genau an dieser Stelle führt der Westfälische Friede zur Entfaltung der
menschlichen Kreativität im physischen Universum. Um den Frieden
aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, muß er auf einer Steigerung der
menschlichen Produktivität beruhen, die mit der Entdeckung neuer physikalischer
Prinzipien verbunden ist, die in Form von Technologien angewandt werden, um
bessere soziale Lebensbedingungen für alle zu gewährleisten.
Dies wurde sowohl in Deutschland als auch in Frankreich durch die Beiträge
der schöpferischen Köpfe der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erreicht,
insbesondere durch Gottfried Wilhelm Leibniz. In Frankreich, im Umfeld der
Akademie der Wissenschaften, ist dies unter dem Namen der „Colbertistischen“,
merkantilistischen Ökonomie bekannt. In Deutschland entstand daraus der
Kameralismus, eine Verbesserung der nationalen Regierung, die gleichzeitig auf
die Steigerung der Erträge der Landwirtschaft, der Industrie und der sozialen
Verantwortung ausgerichtet war, um ein langfristiges Wirtschaftswachstum zum
Nutzen aller zu erreichen.
An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, daß Leibniz in seiner
Novissima sinica von 1697 das Konzept entwickelte, daß der Westen und der
Osten des eurasischen Kontinents das Beste von beiden austauschen sollten, das
Engagement für Wissenschaft und technologische Entwicklung im Westen und die
Grundsätze einer harmonischen sozialen Entwicklung in China. Es gab damals zwar
einen Austausch von hohem Wert für beide Seiten, aber das Projekt als Anstoß zu
einer universellen Einheit wurde blockiert.
Ist nicht genau das, was damals nicht möglich war, heute die westfälische
Herausforderung für uns alle? Ich freue mich, daß das Ziel unserer Konferenz
genau das ist: Einheit ohne Vereinheitlichung, Austausch des Besten von uns
allen zur Sicherung des Friedens durch die gemeinsame Entwicklung unserer
menschlichen Potentiale im Universum, über das hinaus, was wir wissen.
Leibniz schrieb in seinem Codex Juris Gentium:
„Ein guter Mensch ist derjenige, der alle Menschen liebt, soweit es die
Vernunft erlaubt... Nächstenliebe ist ein universelles Wohlwollen, und
Wohlwollen die Gewohnheit, zu lieben oder das Gute lieben zu wollen. Liebe
bedeutet also, sich am Glück des anderen zu erfreuen... Das Glück derer, deren
Glück uns gefällt, wird zu unserem eigenen Glück, da wir Dinge, die uns
gefallen, um ihrer selbst willen begehren.“
Manche würden das als „utopisch“ bezeichnen. Das ist ein tödlicher Irrtum.
Tödlich, weil die Alternative darin besteht, in die Thukydides-Falle zu tappen,
in die geopolitische Vorstellung, daß eine untergehende Macht zwangsläufig mit
einer aufsteigenden konfrontiert wird und daß dies Krieg bedeutet. Das war es,
was Sparta und Athen in den Peloponnesischen Kriegen ruiniert hat.
Was uns jetzt zu ruinieren droht, wäre weitaus schlimmer, weil es diesmal auf
der Ebene der gesamten Menschheit stattfindet, die mit zerstörerischen
Finanzalgorithmen und Atomwaffen ausgestattet ist. Ihre Kultur ist eine Kultur
des Todes. Unsere ist eine Kultur des Lebens zum Wohle der Allgemeinheit und zum
Nutzen künftiger Generationen.
Nur noch ein Wort zum Schluß. Xi Jinping ist ein eifriger Leser von Leibniz,
und die Webseite Ai Sixiang („Liebe zum Denken“) ist eine Plattform für
die chinesische Hingabe an die Zukunft. Was Europa hervorgebracht hat,
einschließlich der Verfassung der Vereinigten Staaten, ist der andere Grund,
warum wir hier sind. Freuen wir uns also daran, verschieden zu sein, aber mit
dem gleichen friedlichen, westfälischen Drang zur Einheit, um unsere so
unmittelbar bedrohte Welt zu reparieren und wieder aufzubauen.
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