Wenn ein Schritt zurück auch ein Schritt vorwärts ist
Der Zusammenfall der Gegensätze
Von Ray McGovern
Ray McGovern, ehem. Analyst der Central Intelligence Agency
(CIA), Mitbegründer der Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS),
hielt in der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 26.6.2021 den
folgenden Vortrag.
Ich möchte daran erinnern, daß vor nunmehr fünf Jahren eine kleine
Delegation, der ich angehörte, auf der Krim war. Es war das Gedenken an den
Überfall der Nazis auf die Sowjetunion. Wir alle wissen, was dabei herauskam:
27 – nun ja, Putin sagt 26, er übertreibt nicht, 26 Millionen russische oder
sowjetische Menschen kamen ums Leben. Nun? Im Vergleich dazu: Wie viele
Amerikaner waren nach dem Zweiten Weltkrieg tot? Wie viele sind gefallen?
Etwas über 400.000. Was ist das Verhältnis? Rechnen Sie nach!
Da war er also, der Jahrestag des Nazi-Angriffs. Wir waren eine kleine
Delegation. Es gab eine ziemlich überschaubare Versammlung auf der Krim mit
uns, und sie baten mich, eine Rede zu halten. Und das Beste, was mir einfiel,
war, ein passendes Gedicht zu rezitieren, das ich vor langer Zeit im College
auswendig gelernt hatte, ein Gedicht eines russischen Dichters mit dem
Beinamen „Dichter der russischen Trauer“. Sein Name ist Nikolai Nekrassow. Und
es heißt „In Anbetracht der Schrecken des Krieges“. Es geht so – ich werde
nach ein paar Strophen eine kurze Übersetzung geben. (McGovern rezitierte
dann das Gedicht zunächst auf Russisch, dann auf Englisch:)
In Anbetracht der Schrecken des Krieges
Bei jedem neuen Opfer der Schlacht
Es tut mir nicht leid um den Freund, nicht um die Frau,
Nicht einmal der Held selbst tut mir leid.
Ach, die Frau wird getröstet werden,
und die besten Freunde vergessen ihren Freund;
Doch irgendwo gibt es eine Seele -
die sich bis ins Grab hinein erinnern wird!
Inmitten der Heuchelei unserer Angelegenheiten
Und all der Banalität und Trivialität
Einzigartig unter dem, was ich in der Welt beobachtet habe
Heilige, aufrichtige Tränen -
Die Tränen der armen Mütter!
Sie vergessen ihre eigenen Kinder nicht,
die auf dem blutigen Schlachtfeld umgekommen sind,
So, wie die Trauerweide nie erhebt
ihre hängenden Zweige.
Ergreifend? Ja. Zutreffend? Ja. An jenem Tag auf der Krim – wir waren in
Jalta - waren Mütter da, Kinder von Müttern, Angehörige von Menschen, die im
Zweiten Weltkrieg gefallen sind, wiederum nur ein Tropfen auf den heißen Stein
der 26 Millionen Sowjetbürger, die in diesem Krieg umgekommen sind.
Warum sage ich das alles? Ich sage es, weil man, wenn man sich die
Schrecken des Krieges ansieht – mein Gott! – sagen muß: „Ihr wärt völlig
verrückt, einen anzufangen!“ Und das ist es, worüber wir reden, nicht
wahr?
Wen die Götter vernichten wollen, den treiben sie erst in den Wahnsinn.
Richtig? Sie lassen sie überquellen von Hybris. Der ursprüngliche Ausdruck
stammt nicht von Euripides, wie es in einigen Büchern heißt, er stammt von
Sophokles, aus Sophokles' Antigone. Und ich kann Ihnen sagen, wir haben
in meinem vierten Jahr im Griechischkurs Antigone wortwörtlich
übersetzt.
Es hat mit Hybris zu tun. Nicht nur mit der Hybris des Königs Kreon,
sondern auch mit der Hybris der Antigone: Hybris ist überzogener Stolz, der
zum Untergang vieler griechischer tragischer Helden führte. Das ist es, womit
wir es hier zu tun haben.
Und ich denke, daß Biden, als er nach Genf kam, um den Gipfel mit Putin
abzuhalten, künstlich mit Hybris aufgeblasen war. Ich denke, Biden war
irgendwie aufgepumpt und dachte: „Wow, jetzt kann ich den Russen sagen, wem
sie gehorchen müssen. Nämlich nicht den Chinesen, sondern uns.“
Das letzte, was ich dazu sagen möchte, ist, daß es wirklich sehr wichtig
ist, die Ursprünge dieses Gipfels zu betrachten, um zu verstehen, was ihn
wirklich ausgelöst hat. Und wenn Sie auf die Zeit kurz vor der Bekanntgabe des
Datums zurückblicken – wir sprechen vom 13. April –, dann sind an diesem Tag
vier sehr wichtige Dinge passiert. Vier, zählen Sie sie mit: eins, zwei, drei,
vier:
Zuerst der Chef der NATO, Jens Stoltenberg: „O, mein Gott! Die Russen
ziehen Truppen in beispielloser Anzahl an der Grenze zur Ukraine
zusammen!“
Das zweite, was passierte, war, daß der russische Verteidigungsminister
sagte: „Da haben Sie recht, Stoltenberg. Sie haben es völlig richtig
verstanden. Können Sie es glauben: zwei Armeen und drei
Luftlandeformationen?“
Das dritte, was passierte, war, daß der stellvertretende Außenminister, ein
Schwergewicht namens Sergej Rjabkow, die Nummer Zwei nach Lawrow, diese
Erklärung abgab, in der er sagte: „Seht mal her, ihr Amerikaner beabsichtigt,
mit zwei Lenkwaffenzerstörern ins Schwarze Meer zu fahren – das ist keine gute
Idee! Wir können nicht für ihre Sicherheit garantieren. Das ist gar keine gute
Idee.“ (In Klammern gesagt: Die Schiffe drehten um und wurden nach
Griechenland geschickt.)
Viertens und am wichtigsten: Biden ruft Putin an. Er sagte: „Mein Gott, ich
hoffe, die Lage beruhigt sich jetzt allmählich. Wir haben versucht, Selenskyj
dazu zu bringen, mit diesen verrückten Aussagen, wie zum Beispiel die Krim
zurückzuerobern, aufzuhören. Wie wäre es, wenn wir einen Gipfel abhalten?“ Und
Putin sagt: „Nun, wissen Sie, wir treffen uns immer gerne von Angesicht zu
Angesicht.“ Und dann, es war der 25., glaube ich, wurde angekündigt, daß sie
sich sehr bald, drei Wochen später, in Genf treffen würden.
Wie kam es also zu diesem sehr schlecht vorbereiteten, hastigen Gipfel?
Nun, wie im Untertitel in einem meiner Artikel betont wird: „Du hast es so
gewollt, Joe!“ Er hat darum gebeten, und er hatte Angst.
Ich kann mir gut vorstellen, wie einer dieser jungen Anfänger, der noch
nicht trocken hinter den Ohren ist – wie, sagen wir mal, Jake Sullivan –,
sagt: „Herr Präsident, wissen Sie, das ist ernst. Wir sollten lieber... Hm,
wie wäre es mit einem Gipfel? Warum schlagen Sie nicht ein Gipfeltreffen vor?“
Unter diesen sehr seltsamen, angespannten Umständen schlug Biden ein
Gipfeltreffen vor.
Im Vorfeld davon versuchten sie natürlich, Biden über die Realitäten zu
informieren. Mein allererster Beitrag zum Gipfel befaßte sich mit dem
veränderten Kräfteverhältnis. Schauen Sie, es gibt praktisch ein
Militärbündnis zwischen Rußland und China. Das ist ein großes Ding. Kommt mir
nicht mit der Idee, daß man das Dreiecksverhältnis zwischen Rußland, China und
den USA ausnutzen kann. Der Zug ist abgefahren. Schon in den 70er Jahren. Die
beiden stehen sich sehr nahe. Tatsächlich mag das Dreieck immer noch
gleichseitig sein, aber es sind zwei Seiten gegen eine. „Und Sie sind der, der
allein steht, Herr Präsident.“
Ich bin mir nicht sicher, ob diese Anfänger genug Geschichtssinn hatten, um
den Präsidenten entsprechend zu warnen. Aber wenn sie es taten, hat er es
völlig falsch verstanden. Er hat ein schwaches Gehör. Mit anderen Worten, was
er in seinem Solo-Pressebriefing nach dem Gipfel sagte, war: „Ich will Putin
nicht zitieren, denn das wäre nicht angemessen. Aber bedenken wir, die haben
eine mehrere tausend Meilen lange Grenze mit einem Land namens China, das
nicht nur versucht, die größte Wirtschaftsmacht der Welt zu werden, sondern
auch die größte Militärmacht der Welt.“
Und dann, bevor er abflog, sagte er: „Wissen Sie, die Russen sind in einer
sehr, sehr, sehr großen Klemme. Wissen Sie, warum? Weil sie von China in die
Zange genommen werden.“ [lacht] Glaubt er das etwa selbst? Vielleicht hat ihm
jemand erzählt, was Kissinger und Nixon 1972 tun konnten, und er dachte: „Na,
das kann ich wieder so machen.“ Wenn man nicht versteht, was die alten Sowjets
das „Weltverhältnis der Kräfte“ nannten und wie es sich in den Jahren seither
verändert hat – und wir reden hier über fünf Jahrzehnte –, dann glauben diese
Leute, die aus denselben Elfenbeinturm-Schulen kommen wie Walt Rostow,
McGeorge Bundy, die besten und Klügsten in Sachen Vietnam, sie wären
außergewöhnlich. Das wurde ihnen von ihrer ersten Eliteschule an
eingetrichtert. Sie sind überzeugt, die Vereinigten Staaten wären
außergewöhnlich. Und so ist es für sie schwer – nun, wie formuliert man das am
besten? –, sich zurechtzufinden in dieser neuen Welt, in der die Vereinigten
Staaten nicht mehr außergewöhnlich sind – wo sie andere Großmächte nicht mehr
ausstechen können –, aber das offenbar noch nicht begreifen.
Damit sind wir wieder bei der Frage der Hybris – der alten griechischen
tragischen Schwäche, die Antigone wie König Kreon zum Verhängnis wurde, und
von der wir wissen, daß wir aufpassen müssen, daß sie uns nicht alle umbringt.
Und das, denke ich, ist es, worin Biden und Putin zusammenarbeiten müssen.
Die gute Nachricht ist natürlich, daß sie einen Dialog über strategische
Waffen beginnen werden, um sie hoffentlich zu reduzieren. Aber auch hier ist
die Rhetorik wahrscheinlich wichtiger als die Taten, denn ihre Rhetorik
verneint die Vorstellung, daß ein Atomkrieg geführt und daß er gewonnen werden
kann.
Nun sage ich, das ist Rhetorik, wenn auch bedeutende Rhetorik, weil das auf
Reagan und Gorbatschow zurückgeht. Aber was mir mehr Hoffnung machen würde,
ist, wenn Biden nach Omaha ginge und den Admiral, der das Äquivalent des
Strategischen Luftkommandos SAC leitet, kassieren würde, der gesagt hat:
„Wissen Sie, der Einsatz von Atomwaffen ist nicht nur möglich, er ist
wahrscheinlich. Na klar, wir könnten Atombomben einsetzen.“ Wenn also Biden
diesen Mann nicht feuert oder ihn zumindest zügelt und sagt: „Sag so etwas nie
wieder“, dann wird die Rhetorik nicht so wirksam sein, wie ich es mir wünschen
würde.
Ich habe nun länger gebraucht, als ich dachte. Aber ich freue mich über
jede Frage oder Bemerkung, auf die Sie eine Antwort von mir wünschen.
Danke!
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