Impfstoffe und Immunisierung für ein globales Gesundheitssystem
Von Dr. med. Wolfgang Lillge
Dr. Lillge ist Chefredakteur der Wissenschaftszeitschrift
„Fusion“. Beim Internetseminar des Schiller-Instituts am 3. Februar hielt er
den folgenden Vortrag.
Die COVID-19-Pandemie ist weltweit nach wie vor außer Kontrolle. Das Virus
breitet sich in vielen Ländern und Kontinenten unkontrolliert aus. Besondere
Hotspots sind derzeit Brasilien und Portugal, aber auch in den USA,
Großbritannien, Irland, Südafrika und vor allem in Lateinamerika sind die
Gesundheitssysteme massiv überlastet. Über die Lage in Afrika insgesamt ist
nur wenig Genaues bekannt, da es kaum Tests gibt, aber es ist zu befürchten,
daß sich COVID-19 dort unkontrolliert ausbreitet.
Weltweit gibt es offiziell inzwischen über 100 Mio. Infizierte, und 2 Mio.
Menschen sind an COVID-19 gestorben. Alle diese Zahlen sind wahrscheinlich
massiv untertrieben, denn gezählt werden in der Regel nur die positiven
PCR-Tests, und wenn sie überhaupt durchgeführt werden, wird damit in vielen
Ländern nur ein Bruchteil der tatsächlich Infizierten erfaßt. Die
tatsächlichen Zahlen sind demnach mindestens doppelt oder dreimal so hoch.
Wenn sich das Virus so massiv verbreitet, bedeutet das nicht nur ungeheures
menschliches Leid und ein wirtschaftliches Desaster, sondern es steigt auch
die Wahrscheinlichkeit, daß sich immer schneller neue COVID-Varianten bilden,
so wie es ja bereits mit der britischen, südafrikanischen und brasilianischen
Mutation geschehen ist. Da bei der Virusreplikation immer Fehler auftreten,
ist es nur eine Frage der Stochastik, daß Mutationen mit aggressiveren
Eigenschaften auftauchen, je mehr Viren im Umlauf sind.
Der Berliner Virologe Prof. Drosten hat sich kürzlich dazu so geäußert:
„Eine Mutation ist da, und in der nächsten Generation kommt noch eine andere
dazu und in der übernächsten noch eine dazu. Und erst nach fünf Generationen
schlägt das durch, und dann hat das entstandene Virus einen Selektionsvorteil
und vermehrt sich schneller als die Konkurrenz in derselben Population.“
Das Ergebnis ist dann u.U. eine höhere Infektiosität, und möglicherweise
auch eine höhere Letalität, die wir bisher bei der britischen und
südafrikanischen Variante zum Glück noch nicht gesehen haben.
Es gibt jedoch auch Studien, die besagen, daß bei Co-Infektionen, d.h. bei
Infektion mit zwei Corona-Varianten, neue Varianten noch schneller als bisher
entstehen können. Das wäre ein weiterer Evolutionspfad für das Virus. Zwei
verschiedene Stämme in einem Patienten und vermehrte Varianten unter den
Viren, das wäre eine Situation, die sich schnell verselbständigen könnte.
Es ist also absolut vordringlich, nicht nur bei uns, sondern weltweit die
Verbreitung des Virus schnellstmöglich zu stoppen, da ansonsten mutierte
Stämme auch wieder zu uns zurückkehren, gegen die dann selbst eine Impfung
nicht mehr wirken würde.
Bisher sollen die zugelassenen Impfstoffe – vor allem die mRNA-Impfstoffe
von BionTeC/Pfizer und Moderna – die Fähigkeit haben, auch viele der neuen
Varianten zu neutralisieren. Entscheidend dabei ist jedoch, daß wir in der
Lage sein müssen, neue Varianten umgehend zu identifizieren und ggf. die
Impfseren entsprechend umzustellen.
Aber noch eine Warnung: Allein mit Impfen wird sich die Pandemie nicht
besiegen lassen. Es wäre töricht und fahrlässig, der Bevölkerung vorzumachen,
wenn wir nur schnell genug alle Menschen impfen würden, daß dann die Gefahr
gebannt wäre. Es wäre schön, wenn das so wäre, aber nach heutigem Stand der
Impfstoffproduktion dürfte es Jahre dauern, bis die gesamte Weltbevölkerung
gegen SARS-CoV-2 immunisiert ist, und bis dahin ist absolut nicht
ausgeschlossen, daß durch Mutationen die Impfungen gar keinen Schutz mehr
bieten.
Inzwischen dürfte uns allen klar sein, daß der Kampf gegen COVID-19 nicht
nur ein gesundheitspolitisches Problem ist, sondern eine
gesamtgesellschaftliche Herausforderung. COVID-19 hat uns vor allem gezeigt,
daß mit unserer wirtschaftlichen Denkweise etwas sehr falsch läuft, denn trotz
aller gegenteiligen Beteuerungen von politischer Seite waren wir auf eine
solche Pandemie nicht vorbereitet: Vor allem unser Gesundheitssystem war
darauf nicht vorbereitet, weil wir uns auf ein neoliberales, monetaristisches
System eingelassen haben. Wir sind mehr daran interessiert, schnell reich zu
werden und nur Geld mit Geld zu machen, als das Gemeinwohl und damit eine gute
Gesundheitsversorgung für alle zu fördern. Wir haben zugelassen, daß ein
großer Teil der Welt, die sogenannte Dritte Welt, in Armut verbleibt. Deswegen
ist unsere Forderung nach dem Aufbau moderner Gesundheitswesen in jedem Land
der Erde so vordringlich.
Umfassende Strategie notwendig
Impfungen sind ein wichtiger Bestandteil der Pandemiebekämpfung, aber nur,
wenn sie in ein Gesamtkonzept der Seuchenbekämpfung integriert werden. Ohne
einen gezielten Lockdown mit strengen Kontaktbeschränkungen, Hygienemaßnahmen
und Massentests würden sie ein stumpfes Schwert bleiben.
Ich habe bereits im Oktober letzten Jahres für Deutschland eine umfassende
nationale Strategie gegen die Coronapandemie gefordert, die die vollständige
Kontrolle der Virusausbreitung zum Ziel haben muß.
Ich zitiere kurz aus meiner damaligen Erklärung, die nach wie vor absolut
aktuell ist:
„Voraussetzung für eine effektive Virusbekämpfung ist, daß alle Infizierten
ausfindig gemacht und unter strenge Quarantäne gestellt werden - wie es die
slowakische Regierung jetzt praktiziert.“ (Hierzu eine Anmerkung: Das war Ende
September 2020, und nur in Österreich und Südtirol wurde ähnlich verfahren.)
„Nur wenn man weiß, wer tatsächlich infiziert ist, kann eine unkontrollierte
Ausbreitung in Herbst und Winter verhindert werden. Ansonsten droht ein
Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems, dem Krankenschwestern, Ärzte und
Pflegepersonal diesmal nicht mehr gewachsen sein werden...
Unser aller Ziel muß es sein, das SARS-CoV-2-Virus insgesamt zu eliminieren
und nicht ,mit dem Virus zu leben’. Deshalb verschärft die gegenwärtige
zögerliche Politik des partiellen Lockdowns und föderaler Alleingänge die
wirtschaftliche, finanzielle und soziale Krise der Gesellschaft in
fahrlässiger Weise.
Dafür brauchen wir schnell einen Überblick über das Ausmaß des
Pandemiegeschehens und über die tatsächliche Zahl der Infizierten, um effektiv
gegensteuern zu können. Das läßt sich nur durch Massentests erreichen, die
schnell, effektiv und zuverlässig durchgeführt werden müssen.“ – Anmerkung:
Und das nicht nur einmal, sondern mehrmals, bis die Infektionszahlen auf ein
überschaubares Maß abgesunken sind und die Nachverfolgung wieder möglich ist.
- „Natürlich ist ein Massentest von über 80 Mio. Menschen in Deutschland eine
organisatorische und logistische Mammutaufgabe, aber nur so läßt sich die
unkontrollierte Ausbreitung des Virus unter Kontrolle bringen. Was in China
gewirkt hat und in der Slowakei möglich ist, sollte auch bei uns durchführbar
sein...“
Dabei habe ich auch betont, daß das Vertrauen der Bevölkerung durch das
zögerliche und teils widersprüchliche Vorgehen der Regierung und ihrer
Institutionen verspielt worden ist und nur zurückgewonnen werden kann, wenn
eine einheitliche und wirksame Strategie verfolgt wird.
Besonders tragisch ist die Inkompetenz der Regierungen, die Bewohner von
Alten- und Pflegeheimen zu schützen, denn über die Hälfte der COVID-Toten in
Deutschland sind in diesen Einrichtungen zu beklagen. Mit dem Einsatz von
Massentests wäre das relativ leicht zu verhindern gewesen.
Neue Impfstoffe sind ein wissenschaftlicher Durchbruch
Jetzt noch ein Wort zu den aktuellen Impfstoffen. Alle bisher zugelassenen
COVID-19-Impfstoffe scheinen eine hohe Wirksamkeit und Sicherheit zu haben.
Vor allem der russische Sputnik-V-Impfstoff – der erste, der zugelassen wurde
– zeigt kaum Nebenwirkungen.
Dabei muß gesagt werden, daß die neuen mRNA-Impfstoffe wie die von
Biontec/Pfizer und Moderna ein wissenschaftlicher Durchbruch sind, der noch
vor einigen Jahren kaum denkbar war. mRNA-Impfstoffe stellen eine neue
Generation von Impfstoffen dar. Sie funktionieren auf ganz andere Weise als
die altbekannten Lebend- und Totimpfstoffe. Die mRNA-Impfstoffe lösen nicht
direkt eine Immunreaktion aus, sondern in den Zellen müssen nach der Impfung
erst die Virusantigene hergestellt werden, die dann eine Antikörperreaktion
auslösen. Der Impfstoff selbst enthält also nur Bruchstücke des Virusgenoms,
die in die Zellen eingeschleust werden, um dort die entsprechenden
Virusbestandteile zu produzieren, gegen die dann das Immunsystem Abwehrstoffe
bildet. Die von den Zellen aufgenommenen RNA-Bruchstücke werden anschließend
wieder aus dem Körper eliminiert, so daß Befürchtungen, Virus-RNA könnte
dauerhaft in den Zellkern aufgenommen werden und unser Erbgut verändern, jeder
Grundlage entbehren.
Nach den bisherigen Erfahrungen der Zulassung und ersten Verimpfungen sind
mRNA-Impfstoffe sehr wirksam und sicher, nur mögliche längerfristige
Nebenwirkungen sind noch nicht unzweifelhaft bekannt. Wie jede andere Impfung
auch ist ein solcher Eingriff nie ganz risikolos. Unvorhergesehene schwere
allergische Nebenwirkungen können dabei immer auftreten. Die Frage ist nur, ob
der Nutzen das Risiko deutlich überwiegt - eine Frage, die bei allen Impfungen
zu stellen ist. Die vereinzelten Todesfälle nach COVID-19-Impfungen, die in
der Presse zum Teil hochgespielt wurden, sind meiner Einschätzung nach
entweder nicht direkt auf die Impfung zurückzuführen oder Folge massiver
allergischer Reaktionen.
Auf Grundlage der Impftechnologie der mRNA-Impfstoffe ist es auch relativ
einfach, den Impfstoff auf mögliche Varianten des Virus umzustellen; es müssen
– vereinfacht ausgedrückt – nur die entsprechenden Gensequenzen des Virus
ausgetauscht werden.
Zudem dürfte es in Zukunft möglich sein, mit mRNA-Impfstoffen auch gezielt
Tumorzellen zu bekämpfen, was ein wirklicher Fortschritt in der
Krebsbehandlung wäre.
Impfstoffe müssen allen zugänglich gemacht werden
Nachdem im letzten Jahr in beispielloser Geschwindigkeit mehrere
Corona-Impfstoffe entwickelt wurden, ist es leider jetzt zu dem befürchteten
Verteilungskampf um die Impfstoffe gekommen, der niemandem nützt. Es hätte von
Anfang an eine weltweite Verständigung über die Verteilung der Impfstoffe und
eine einheitliche Strategie gegen COVID-19 geben müssen.
Im Grunde existiert eine organisatorische Grundlage dafür, daß Länder
unabhängig von ihrer Kaufkraft zügigen Zugang zu Impfstoffen gegen COVID-19
erhalten: die COVAX Facility der Weltgesundheitsorganisation WHO. COVAX steht
für „Covid-19 Vaccines Global Access“.1 Diese Einrichtung soll zum
einen die Entwicklung und Produktion von Impfstoffen beschleunigen. Vor allem
aber ist sie dafür zuständig, Impfstoff-Dosen bei Herstellern zu kaufen und
allen Staaten zuzuteilen, die ihre Teilnahme an COVAX erklärt haben.
Aber durch die anfangs sehr schleppende Produktion der Impfstoffe ist
dieser Ansatz weltweiter Solidarität schnell vergessen worden. Die reichen
Ländern horten, soviel sie können: USA first, EU gegen Großbritannien, EU
untereinander. Auf der Strecke bleibt die Dritte Welt, nur China und Rußland
bieten Entwicklungsländern Hilfe an und haben bereits nennenswerte Mengen an
Impfstoff u.a. nach Osteuropa, Afrika und Lateinamerika geliefert.
Wir sollten uns aber den Appell des südafrikanischen Präsidenten Ramaphosa
zu Herzen nehmen, der sagte: „Wir sind alle nicht sicher, wenn nur einige
Länder ihre Bevölkerung impfen und andere nicht... Im Kampf gegen das
Coronavirus müssen wir alle zusammenarbeiten, denn die Pandemie betrifft uns
alle gleichermaßen, und deshalb müssen auch unsere Maßnahmen dagegen
gleichartig sein.“
Ich unterstützte auch ausdrücklich die Forderung nach Aufhebung des
Patentrechtes an COVID-19-Impfstoffen, wie sie schon im Oktober 2020 von
Indien, Südafrika und acht weiteren Ländern erhoben wurde. Die Times of
India berichtete: „Der Vorschlag, auf geistiges Eigentum an
COVID-19-Medikamenten und -Impfstoffen zu verzichten, hat enorme Auswirkungen
für Entwicklungsländer, die es schwer haben, Zugang zu den lebensrettenden
COVID-19-Impfstoffen zu bekommen. Reiche Länder haben riesige Deals
abgeschlossen..., was ein ernsthaftes Risiko für einen gerechten Zugang für
die Ärmsten und Schwächsten der Welt darstellt.“
Alles, was hilft, um die Impfstoffproduktion schnell massiv auszuweiten,
sollte getan werden, denn Berechnungen haben ergeben, daß beim jetzigen Tempo
in der EU erst 2024 die Impfziele erreicht werden können. Es ist zumindest ein
Hoffnungszeichen, daß Gesundheitsminister Spahn und Kanzlerin Merkel jetzt den
Kauf des russischen und chinesischen Impfstoffs angekündigt haben.
Insgesamt ist richtig: Wir sind erst sicher, wenn alle Länder auf der Welt
ein modernes Gesundheitswesen zur Verfügung haben und dann auch künftige
Pandemien wirksam bekämpft werden können.
Vielen Dank.
Anmerkung
1. Siehe https://www.who.int/initiatives/act-accelerator/covax
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