Hat das Genfer Gipfeltreffen die Beziehungen zwischen den USA und Rußland
verändert?
Von Dr. Andrej Kortunow
Andrej Kortunow ist Generaldirektor des russischen Rates für
Internationale Angelegenheiten (RIAC), der führenden Denkfabrik, die dem
Außenministerium angegliedert ist. Im ersten Abschnitt der Internetkonferenz
des Schiller-Instituts am 26. Juni 2021 hielt er den folgenden Vortrag.
Liebe Frau LaRouche, liebe Freunde und Kollegen, es ist mir unbedingt eine
Freude, an dieser Diskussion teilzunehmen. Ich denke, diese Veranstaltung
kommt zur rechten Zeit, und ich hoffe, sie wird für alle Teilnehmer nützlich
sein. Ich hoffe, daß sie inspirierend und auch intellektuell befriedigend sein
wird.
Ich wurde gebeten, einige meiner Eindrücke zum jüngsten Biden-Putin-Gipfel
in Genf zu schildern. Lassen Sie mich einige Minuten Ihrer Zeit in Anspruch
nehmen, um über dieses Thema zu sprechen.
Lassen Sie mich zunächst sagen, daß die Erwartungen in Moskau ziemlich
niedrig waren. Als Biden gewählt wurde, war die allgemeine Stimmung in Moskau,
und ich nehme an, auch im Kreml, angesichts der Wahlkampfrhetorik Präsident
Bidens und seines Teams ziemlich pessimistisch. Es gab viel Schwarzmalerei
darüber, wie sich die Beziehungen entwickeln könnten – viele erwarteten, daß
wir viel härtere Sanktionen gegen Rußland und eine Menge negativer Rhetorik
aus dem Weißen Haus erleben würden.
Diese Erwartungen waren teilweise richtig, wie Sie wissen. Präsident Biden
hat in einem seiner Interviews sogar geäußert, Präsident Putin sei ein Mörder,
was ihm natürlich in Moskau nicht viele Freunde machen dürfte.
Aber auf der anderen Seite hat er in Bezug auf die Rüstungskontrolle, in
Bezug auf die strategische Stabilität, denke ich, viele Analysten in meinem
Land überrascht, und nicht nur in Rußland. Denn in der Tat war eine der ersten
Entscheidungen der neuen Administration, das Neue START-Abkommen ohne
Bedingungen zu verlängern. Er hat also etwas getan, was Präsident Trump leider
nicht getan hat. Die vorherige Administration hatte zwar eine Verlängerung des
Neuen START-Abkommens in Aussicht gestellt, aber es wurden viele Bedingungen
zu dieser Verlängerung ins Spiel gebracht.
Dieser erste Schritt wurde in Moskau deutlich begrüßt. Es folgte eine Runde
von Sanktionen gegen Rußland, aber diese Sanktionen waren hauptsächlich
symbolisch. Die Biden-Administration hat nicht versucht, kritische Bereiche
der russischen Wirtschaft wie den Energiesektor oder das russische
Finanzsystem ins Visier zu nehmen. Rußland wurde nicht mit dem Iran oder
Nordkorea auf eine Stufe gestellt. So waren die Sanktionen natürlich ein
beträchtliches Ärgernis, und man beobachtete auch einen ständigen
diplomatischen Krieg zwischen den beiden Ländern, aber es stellte sich heraus,
daß es besser war, als viele erwartet hatten.
Das Treffen, das jetzt vor ein paar Wochen in Genf stattfand, war also ein
Treffen mit sorgfältig gesteuerten Erwartungen auf beiden Seiten. Ich denke,
beide Seiten haben erkannt, daß man nicht mit einem „Reset“ oder gar einer
Entspannung in den Beziehungen rechnen könnte. Nicht nur, weil ihre Positionen
zu wichtigen internationalen Fragen divergieren, bei Themen wie der Ukraine
oder Syrien oder Venezuela. Aber noch wichtiger ist, daß ihre Ansichten über
die Grundlagen des internationalen Systems und über die Zukunft des
internationalen Systems oder über die wünschenswerte künftige Weltordnung
ebenfalls recht unterschiedlich, wenn nicht sogar entgegengesetzt waren.
Es war also klar, daß es keine gute persönliche Chemie zwischen den beiden
Staatschefs gab. Dennoch waren beide bereit, gewisse politische Risiken
einzugehen, um in Genf zusammenzukommen, vor allem, um die Beziehungen
stabiler und berechenbarer zu machen. Beide waren, und ich denke, sie sind es
immer noch, daran interessiert, die Kosten dieser gegnerischen Beziehung zu
reduzieren und die Risiken, die mit dieser gegnerischen Beziehung verbunden
sind, zu verringern. Das war also die Absicht von Herrn Putin, als er nach
Genf kam.
War der Gipfel erfolgreich? Ich würde ihn mit einer 2 oder vielleicht sogar
2+ bewerten.
Erstens, weil sich beide Seiten darauf geeinigt haben, den strategischen
Rüstungskontrolldialog fortzusetzen. Auch hier möchte ich nicht zu
optimistisch klingen, es wird für beide Seiten ein harter Kampf werden. Die
Vorstellungen darüber, wie wir vom Neuen START-Abkommen zu neuen Reduzierungen
der Nukleararsenale beider Länder kommen sollen, sind nicht die gleichen. Die
russische Seite konzentriert sich eher in erster Linie auf strategische
Systeme – sowohl nukleare als auch nicht-nukleare –, während die Vereinigten
Staaten es vorziehen, über nukleare Systeme – sowohl strategische als auch
nicht-strategische – zu sprechen. Es gibt also einen unterschiedlichen Ansatz,
der nicht leicht unter einen Hut zu bringen sein wird.
Darüber hinaus gibt es natürlich viele davon abhängige Fragen, die im Neuen
START-Abkommen nicht richtig behandelt wurden. Es gibt BMD
(Raketenabwehr)-Systeme, die die Vereinigten Staaten in Europa, in Polen und
Rumänien, stationiert haben. Es gibt taktische Atomwaffen, die Rußland
ebenfalls in Europa hat und die die Vereinigten Staaten einzudämmen versuchen.
Es gibt leider auch ein dekonstruiertes INF-Abkommen, so daß es theoretisch zu
einem neuen Wettrüsten in Europa mit Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen
kommen kann. Ganz zu schweigen von neuen technologischen Entwicklungen im
Verteidigungsbereich. Es gibt viele neue Dimensionen des Wettrüstens, wie
Cyber-, Weltraum- und Hyperschallwaffen, und autonome tödliche Systeme, und
Prompt Strike und Künstliche Intelligenz. Tatsache ist, daß niemand wirklich
weiß, wie man mit all diesen Agenden umgehen soll, aber jetzt haben wir eine
Atempause, und wir haben viereinhalb Jahre, bis das Neue START-Abkommen
ausläuft. Hoffentlich wird diese Zeit produktiv genutzt und bis dahin werden
wir ein neues Konzept der Rüstungskontrolle haben.
Auch hier würde ich davor warnen, zu optimistisch zu sein. Es war wichtig,
daß sich beide Seiten darüber einig waren, daß man einen Atomkrieg nicht
wirklich gewinnen kann und deshalb ein Atomkrieg nicht geführt werden soll und
darf. Aber die Bewegung in Richtung einer neuen nicht-nuklearen Welt wird
wahrscheinlich langsam und ziemlich heikel sein. Dennoch denke ich, daß das
ein positives Zeichen ist, und hoffentlich werden wir mehr Kommunikation
zwischen den amerikanischen und russischen Militärs und zivilen Experten und
Diplomaten sehen, und vielleicht können wir in Kürze Fortschritte
erzielen.
Lassen Sie mich nun zum Thema Cyberkrieg kommen. Ich denke, das ist ein
viel kontroverseres und schwierigeres Thema als die strategische
Rüstungskontrolle, weil wir bei der Rüstungskontrolle eine gemeinsame
strategische Kultur haben, die sich seit den späten 1960er Jahren allmählich
herausgebildet hat. Im Cyber-Bereich haben wir eine solche Kultur nicht, und
es herrschen sehr unterschiedliche Auffassungen davon, wie man
Cyber-Kriegsführung angehen sollte.
Seit vielen Jahren besteht die russische Seite darauf, daß es eine
gemeinsame Taskforce geben sollte, um Möglichkeiten der Cyber-Kontrolle zu
erkunden. Die Vereinigten Staaten, insbesondere unter der
Trump-Administration, haben diese Idee immer abgelehnt. Als sich Putin und
Trump zum ersten Mal in Hamburg am Rande des G-20-Gipfels trafen, schien
Präsident Trump einer Art gemeinsamen Taskforce mit den Russen zum Thema Cyber
zuzustimmen, aber als er nach Washington zurückkehrte, sagte er praktisch, er
sei nicht bereit, diesen Weg einzuschlagen.
Also, wir werden sehen, wie es läuft. Ich denke, es ist ein positives
Zeichen, daß es eine solche Gruppe geben könnte, aber man sollte bedenken, daß
die Wahrnehmung von Cyberangriffen in Moskau und in Washington sehr
unterschiedlich ist – obwohl man in beiden Hauptstädten über die Fähigkeit der
anderen Seite besorgt ist, sich mit dem Einsatz hochentwickelter Cyberwaffen
in ihr innenpolitisches System oder in die nationale Wirtschaft einzumischen.
Aber wie man die Cyber-Kriegsführung einschränken kann, wie man das Problem
der Zuschreibung [von Cyberattacken] lösen kann, wie man eine verläßliche rote
Linie im Cyber-Bereich ziehen kann, das ist etwas, das noch diskutiert und
hoffentlich vereinbart werden muß.
Lassen Sie mich nun zu den regionalen Fragen kommen. Offensichtlich wurde
in Genf ein sehr breites Spektrum an regionalen Themen besprochen. Bei einigen
davon sehe ich keine Aussichten auf sofortige gemeinsame Aktionen oder auch
nur auf eine Koordination. Ich glaube nicht, daß sie in Genf in der Lage
waren, die Kluft in der Wahrnehmung dessen, was in und um die Ukraine oder in
und um Weißrußland vor sich geht, zu verringern. Aber ich denke, bei Themen
wie Afghanistan gibt es wahrscheinlich mehr Gemeinsamkeiten. Ich denke, daß
man sich möglicherweise sogar auf einige parallele Aktionen in Syrien einigen
konnte, zum Beispiel in Bezug auf die humanitäre Situation in Idlib oder auf
mögliche Verhandlungen zwischen den syrischen Kurden und der Führung in
Damaskus. Ich denke, daß man wahrscheinlich auch über Nordkorea sprechen
konnte, und vielleicht über die iranische Frage insgesamt, unter der
Voraussetzung, daß die Vereinigten Staaten immer noch bereit sind, zum JCPOA
[Atomabkommen] zurückzukehren.
Lassen Sie mich abschließend hinzufügen, daß es natürlich einige globale
Ansichten gab, bei denen Rußland und die Vereinigten Staaten mehr oder weniger
ihre Ansichten und Visionen teilen. Dazu möchte ich auf den Klimawandel
verweisen, aber auch auf eine mögliche Zusammenarbeit in der Arktis. Es gab
definitiv Möglichkeiten, sich auf etwas im Zusammenhang mit dem
internationalen Terrorismus und auf eine mögliche Zusammenarbeit im Weltraum
zu einigen.
Abschließend denke ich, daß es wichtig ist, daß die beiden Botschafter
jetzt wieder dort sind, wo sie sein sollten, nämlich in Moskau bzw. in
Washington. Aber damit ist die Sache noch nicht abgeschlossen, denn natürlich
ist es zwar großartig, wenn Botschafter zurück sind, aber man muß auch die
Stäbe zurückbringen. Botschafter sind wie Generäle, sie brauchen ihre Armeen.
Wenn der diplomatische Krieg nicht vorbei ist, fürchte ich, daß weder John
Sullivan noch Anatolij Antonow an ihren jeweiligen Standorten viel zu tun
haben werden.
Ich weiß, daß meine Redezeit abläuft. Ich möchte den anderen Rednern nicht
zu viel davon wegnehmen, aber lassen Sie mich nur noch sagen, daß die nächsten
paar Monate uns zeigen werden, ob eine Stabilisierung der
amerikanisch-russischen Beziehungen möglich ist – oder ob wir diese
Abwärtsbewegung fortsetzen, mit noch größeren Risiken und der klaren Gefahr
einer unbegrenzten Konfrontation. Ich bleibe mäßig optimistisch, daß diese
Beziehung wahrscheinlich stabilisiert werden kann, aber gleichzeitig denke
ich, man sollte im Auge behalten, daß die Beziehung weiter sehr schwierig und
in einigen Fällen konfrontativ sein wird.
Wenn wir über eine wirkliche Veränderung der Beziehung nachdenken, dann
wird diese Veränderung nicht ohne neue innovative Ideen auskommen, die über
die konventionellen Weisheiten hinausgehen. Ich hoffe, daß Konferenzen wie
die, an der wir heute teilnehmen, einen Beitrag dazu leisten können, über die
konventionellen Weisheiten hinauszugehen und über kreativere, unorthodoxe Wege
nachzudenken, um die amerikanisch-russischen Beziehungen zu verbessern, aber
auch über allgemeinere Probleme des globalen Managements, die wir alle heute
angehen müssen.
Ich danke Ihnen.
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