Die Lage in Afghanistan nach dem Abzug der ausländischen Truppen
Von Botschafterin Anna Ewstignejewa
Anna Ewstignejewa ist Stellvertretende Ständige Vertreterin der
Russischen Mission bei den Vereinten Nationen.
Vielen Dank, daß Sie mich wieder zu dieser Veranstaltung eingeladen haben. Es
ist mir immer eine Freude und Ehre, an Konferenzen und Webinaren des
Schiller-Instituts teilzunehmen, einem alten Freund unseres Landes. Und das
Thema ist für uns sehr wichtig, der Titel des heutigen Panels lautet: „Kann eine
strategische Krise zwischen den Großmächten vermieden werden?“
Aufgrund der Berichte, die mir hier in New York als russische Delegierte im
UN-Sicherheitsrat vorliegen, und auch in Anbetracht der Bedeutung der Situation
in Afghanistan für die Region und für die Lage zwischen den Großmächten, werde
ich mich darauf konzentrieren.
Ich habe bereits auf einer Ihrer Veranstaltungen im Sommer über Afghanistan
gesprochen, und seit ich das letzte Mal hier gesprochen habe, hat sich die
Situation dramatisch verändert, und Afghanistan hat einen großen und schnellen
Wandel durchgemacht: Ex-Präsident Ghani ist aus dem Land geflohen, die Regierung
ist zusammengebrochen, und die Taliban haben Mitte August die Macht übernommen.
Nach 20 Jahren Präsenz haben die USA und ihre Verbündeten das Land Ende jenes
Monats endgültig verlassen.
Während wir hier sprechen, ist die Situation, die Realität vor Ort, völlig
neu. Niemand hatte erwartet, daß sich die Situation so entwickeln würde, vor
allem die Rückkehr der Taliban nach der Niederlage [der USA] war so schnell und
unerwartet für alle. Es ist jedoch eine objektive Realität. Die Mitglieder der
internationalen Gemeinschaft müssen sich auf die eine oder andere Weise damit
auseinandersetzen, und das haben wir hier in der UNO und im Sicherheitsrat sehr
gut gesehen. Man konnte es auch an den Medienberichten aus den Hauptstädten
sehen, daß fast niemand darauf gefaßt war, auch nicht in Washington. Die
Verwirrung darüber, was zu tun ist, war so offensichtlich, daß ich mir nicht
sicher bin, ob wir dieses Stadium bereits hinter uns gelassen haben und ob vor
Ort in den wichtigen Hauptstädten und auch in Afghanistan in dieser Hinsicht
mehr Klarheit herrscht.
Für die Zukunft halte ich es für wichtiger festzustellen, daß die Taliban bei
ihrer Machtergreifung selbst nicht darauf vorbereitet waren, die
Herausforderungen zu bewältigen, vor denen das Land steht. Auf der einen Seite
ist es für sie eindeutig eine Chance, ein neues Kapitel in der Geschichte
aufzuschlagen und sich der internationalen Gemeinschaft wieder als friedlicher
und verantwortungsbewußter Staat anzuschließen. Gleichzeitig ist aber auch klar,
daß sie nicht in der Lage sind, die Probleme des Landes allein zu bewältigen.
Leider gibt es in Afghanistan keine Einigkeit und keinen Frieden. Die
Terroristen sind auf dem Vormarsch, und es ist absolut kein Geld da, um die
Bedürfnisse der einfachen Menschen zu befriedigen.
Natürlich senden die neuen afghanischen Behörden trotz der Art und Weise, wie
sie an die Macht gekommen sind, jetzt positive Signale aus, um ihre Absicht zu
bekunden, die Ordnung wiederherzustellen, eine integrative Regierung zu bilden,
den Terrorismus und den Drogenhandel zu bekämpfen. Sie zeigen ihren Willen und
ihre Bereitschaft, die Zusammenarbeit mit den Ländern der Region und der
internationalen Gemeinschaft, einschließlich der wichtigsten Geber, zu
verbessern.
Wir sollten jedoch nicht naiv sein: Es sind immer noch die Taliban, die wir
seit Jahren kennen. Deshalb haben wir in verschiedenen Foren und Gesprächen in
der ganzen Welt darauf hingewiesen, daß die neuen Behörden in Afghanistan die
von ihnen selbst eingegangenen Verpflichtungen einhalten sollten, und daß diese
Zusagen durch Taten ergänzt werden sollten.
In diesem Sinne gibt es keinen großen Unterschied zu dem, was wir von unseren
Partnern hören. Die Botschaft, daß die Taliban ihre Verpflichtungen einhalten
sollten, hören wir von den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, China
und den Ländern der Region. Natürlich sagen wir das auch. Aber es ist völlig
klar, daß Stabilität in Afghanistan letztlich im Interesse aller liegt.
Eine der größten Herausforderungen für die Stabilität des Landes ist der
Terrorismus. In letzter Zeit hat sich gezeigt, daß die Aktivitäten von ISIL
besonders besorgniserregend sind. Die jüngsten Terroranschläge sind
verabscheuungswürdige terroristische Akte, und es ist klar, daß ISIL versucht,
seine Macht und seinen Einfluß im Land zu demonstrieren und die ethnischen und
religiösen Spaltungen in diesem armen Land zu beeinflussen und zu vertiefen.
Das ist auch für uns von großer Bedeutung, da wir und unsere
zentralasiatischen Partner uns nahe stehen. Es besteht die Gefahr eines
Übergreifens auf die Region. Die Drogenproduktion geht damit Hand in Hand, denn
sie ist eine der Hauptfinanzquellen für terroristische Aktivitäten. Das muß
unterbunden werden. Abgesehen davon hat Afghanistan auch mit massiver
Korruption, wirtschaftlicher und finanzieller Abhängigkeit,
Menschenrechtsproblemen und anderen Problemen zu kämpfen.
Es ist offensichtlich, daß das Land früher viele Dinge mit Finanzspritzen von
außen gehandhabt hat. Jetzt ist dieser Geldfluß fast vollständig versiegt. Es
gibt keinen Haushalt, kein Geld für die Grundversorgung, keine Gehälter für
Polizei, Lehrer und Ärzte. Die humanitäre Hilfe, auch wenn sie aufgestockt
wurde, ist kein Allheilmittel, um das Problem nachhaltig zu lösen; sie ist nur
ein kurzfristiges Pflaster.
Es ist jedoch sehr wichtig zu betonen, daß diese Herausforderungen und
Bedrohungen in Afghanistan schon lange bestehen. Sie bestehen in dem Land schon
seit Jahren, und man ist sich inzwischen darüber im klaren, daß diese Probleme
in all den Jahren der internationalen Präsenz einfach ignoriert wurden. Trotzdem
sehen wir in Afghanistan keine eigenständige Wirtschaft und keinen
eigenständigen Staat. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht entsprechend
und schnell auf die Situation reagiert, wird Afghanistan weiter in den Abgrund
rutschen. Sehr gefährlich ist auch, daß es die Region mitreißen könnte.
Obwohl die Lage in Afghanistan relativ einheitlich beurteilt wird, gibt es
hier, wie ich bereits sagte, verschiedene Nuancen. Es gibt Nuancen in den
Botschaften der verschiedenen Akteure an die Taliban. Es besteht definitiv ein
tiefes Mißtrauen gegenüber den Taliban und ein noch größeres Mißtrauen zwischen
den Hauptakteuren. Ganz abgesehen davon, daß wir wissen, daß alle versuchen,
ihre geopolitischen Interessen in bester Weise zu sichern, die über Afghanistan
und die Stabilität in der Region hinausgehen.
Aber wir arbeiten immer noch in der Troika und der erweiterten Troika
zusammen, und beim letzten Mal wurde ausführlich darüber gesprochen. Es ist ein
sehr wichtiger Teil unserer Position in Afghanistan, daß dieses Format Rußland,
die USA, China und Pakistan umfaßt. Es ist jetzt das wichtigste Format für die
Entscheidungsfindung, insbesondere im politischen Bereich.
Aber es sollte auf jeden Fall durch ein breiteres Format ergänzt werden, das
wir in Moskau auch haben, ein Format, das regionale Akteure und auch Vertreter
der Taliban einbezieht. Vor kurzem, vor etwa einem Monat, fand ein Treffen des
Moskauer Formats statt, und es wurde bestätigt, daß es eine einzigartige
Plattform für alle regionalen Akteure und die politische Führung Afghanistans
ist, um die Herausforderungen und akuten Probleme im Land und in der Region zu
erörtern.
In Bezug auf die westlichen Partner muß ich sagen, daß wir bisher nur das
altbekannte Rezept hören: Druck ausüben, je mehr, desto besser, Sanktionen
aufrechterhalten – Erpressung mit humanitärer und wirtschaftlicher Hilfe. Das
ist die Rhetorik, die wir von denen hören, die das Land so unverantwortlich und
so abrupt verlassen haben.
Unserer Ansicht nach ist klar, daß alle Versuche, zu diktieren und zu
manipulieren, die Situation kaum beeinflussen können, denn die Taliban haben
sich daran gewöhnt, unter restriktiven Bedingungen zu leben. Aber was wir tun
müssen, ist, auf die Wünsche der Menschen einzugehen, die einen funktionierenden
Staat haben und tatsächlich Hilfe bekommen wollen: Nahrungsmittel, Gehälter,
Bildung und all diese Dinge. Unserer Ansicht nach müssen wir also pragmatisch
vorgehen. Wir haben bereits darüber gesprochen, und da ist Rußland sehr
konsequent.
Wir sollten nicht wieder die gleichen Fehler begehen, und wir rufen unsere
westlichen Partner auf, wie wir in Rußland sagen: „Tritt nicht auf die Harke“,
denn sie wird dich immer wieder am Kopf treffen. Die Demokratisierungspläne sind
in Afghanistan wie in vielen anderen Teilen der Welt gescheitert, so daß es
wahrscheinlich an der Zeit ist, das alte Rezept zu ändern.
Wie Helga (Zepp-LaRouche) bereits sagte, ist es von grundlegender Bedeutung,
daß wir jetzt humanitäre Hilfe leisten, daß die akuten Probleme ohne
Verzögerungen gelöst werden. Die UNO führt dabei den Vorsitz und versucht, die
humanitäre Hilfe zu verstärken. Es gibt ein Sanktionsregime, das die Aufstockung
der humanitären Hilfe behindert. Es geht nicht darum, die Sanktionen aufzuheben,
sie zu ändern oder sie in kurzer Zeit zu überprüfen. Aber es ist wichtig,
Entscheidungen über Ausnahmen zu treffen, die es Wirtschaftsakteuren und
humanitären Organisationen ermöglichen, vor Ort besser zu arbeiten.
Es ist von grundlegender Bedeutung, daß Beschlüsse zur Freigabe der
Vermögenswerte gefaßt werden. Wie ich bereits sagte, ist die humanitäre Hilfe
nur ein Pflaster. Es sollte Geld in das Land fließen, damit die Gehälter gezahlt
werden können, auch wenn viele Menschen für den Staat arbeiten und das für die
Amerikaner ein großes Hindernis ist. Lehrer, Ärzte, Menschen, die für die
Grundversorgung arbeiten, sollten ihr Geld bekommen. Andernfalls besteht die
große Gefahr, daß das Land zusammenbricht und noch mehr Menschen aus dem Land
fliehen. Es ist wichtig, daß wir unser Bestes tun, um eine gut ausgebildete
Bevölkerung zu erhalten, Menschen, die sozusagen Afghanistans Intelligenz
darstellen, diejenigen, die das Land noch nicht verlassen haben. Denn ohne sie
wird es schwierig sein, über ein stabiles Afghanistan zu sprechen.
Ich weiß, daß es Bemühungen seitens der Vereinigten Staaten gibt, diese
Probleme zu lösen, aber es ist sehr traurig, daß die Gelder der Weltbank und die
anderen Vermögenswerte noch nicht freigegeben wurden. Es liegt ganz in ihren
Händen, aber es besteht die Hoffnung, daß sie verstehen, welche Risiken es mit
sich bringt, wenn sie nicht schnell handeln.
Aber es gibt Raum für Zusammenarbeit. Wenn wir das Mißtrauen zumindest bis zu
einem gewissen Grad überwinden, wenn man nicht in Forderungen an die Taliban
verharrt und eine pragmatische Haltung im Geiste der Zusammenarbeit einnimmt,
dann können wir meiner Meinung nach das Blatt wenden und die Dinge verbessern.
Aber wir müssen schnell handeln, und zwar in gutem Glauben.
Ich bedanke mich noch einmal ganz herzlich für die Einladung. Ich wünsche dem
Schiller-Institut alles Gute und bin bereit, später Fragen zu beantworten. Ich
danke Ihnen.
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