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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Alle oder keiner!

Warum eine Weltgesundheitsplattform jeden von uns schützt

Von Dr. Joycelyn Elders

Dr. Joycelyn Elders war als U.S. Surgeon General Leiterin des öffentlichen Gesundheitswesens in den Vereinigten Staaten. In der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 8. Mai 2021 sagte sie folgendes.

Guten Tag! Ich freue mich ganz besonders, mich heute an Sie zu wenden, sowohl an diejenigen von Ihnen, die seit den Anfängen im letzten Jahr dabei sind, als auch an diejenigen, die heute morgen vielleicht zum ersten Mal dabei sind. Ich grüße Helga und Sie alle, die Sie auf der ganzen Welt zu dieser Konferenz des Schiller-Instituts versammelt sind.

Zu Beginn freue ich mich, Ihnen berichten zu können, daß unser Komitee einige greifbare Fortschritte in unseren Bemühungen gemacht hat, unsere manchmal divergierenden Kräfte zusammenzubringen für das, was wir den „Zusammenfall der Gegensätze“ nennen. Es ist uns gelungen, sowohl in den Vereinigten Staaten als auch international unsere vorrangigen Demonstrationsprojekte zu initiieren, und meine Aufgabe ist es heute, etwas über den Kontext dieser Projekte zu sagen, die nur ein Anfang sind, aber schlüssig zeigen, was getan werden kann.

Das Thema der heutigen Konferenz lautet: „Der moralische Bankrott der transatlantischen Welt schreit nach einem neuen Paradigma.“ Was ist dieser moralische Bankrott? Es ist ein Bankrott der Maßstäbe für Exzellenz - Maßstäbe, die von uns mehr verlangen, als wir glauben, tun zu können, mehr, als wir glauben, geben zu können, und manchmal auch mehr, als wir glauben, ertragen zu können. In einer Welt voller Aufruhr, wie wir sie jetzt erleben, ist Exzellenz keine Option. Exzellenz ist eine Notwendigkeit. Wir müssen körperlich fähig, intellektuell qualifiziert und emotional entschlossen sein, nicht aufzugeben, bis das Problem, vor dem wir stehen, gelöst ist – bis die Aufgabe erledigt ist.

Es ist jedoch sehr besorgniserregend für diejenigen von uns, die versucht haben, ihr Leben nach diesen Maßstäben zu leben, und die diese Maßstäbe allen empfohlen haben, daß unser Land nun seine Maßstäbe für Exzellenz aufgibt, zugunsten einer bequemen, aber vielleicht tödlichen Mittelmäßigkeit.

Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Wir reden davon, eine weltweite Pandemie mit Impfstoffen zu besiegen. Aber was ist mit Wasser und Nahrung? Es sollte jedem von uns klar sein, daß es ohne sauberes Wasser und Nahrung keine Gesundheit gibt. Es wäre töricht, wenn wir uns um die Eindämmung der Pandemie bemühen würden, ohne uns gleichzeitig Gedanken darüber zu machen, wie das Problem der Ernährung und des Trinkwassers in den ärmsten Ländern unserer Welt angegangen werden muß. Über 2 Milliarden Menschen auf der Erde haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. 2,5 Milliarden Menschen sind mehr oder weniger von Ernährungsunsicherheit betroffen, darunter 41 Millionen direkt hier in den Vereinigten Staaten. David Beasley vom Welternährungsprogramm sagt, daß in diesem Jahr mehr als 270 Millionen Menschen der Hungertod droht. Nach Angaben der Weltbank und der WHO hat die Hälfte der Welt keinen Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten. 1,6 Milliarden Menschen haben keinen angemessenen Wohnraum. Schätzungsweise 1,2 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu Elektrizität.

Ob Menschen Zugang zu Elektrizität haben oder nicht, ist ein Indikator dafür, ob sie über ein wesentliches Werkzeug zur Überwindung von Krankheiten verfügen oder nicht. Wie kann man sonst ein Krankenhaus betreiben, wichtige Medikamente lagern oder große Mengen an Lebensmitteln konservieren? Ist es angesichts dieser Situation eine Überraschung, daß wir eine COVID-Pandemie haben? Ist es angesichts des Versagens vieler Regierungen, vor allem in Europa und Amerika, schnell, mitfühlend und wissenschaftlich auf diesen Ausbruch zu reagieren, eine Überraschung, daß diese Pandemie immer noch nicht unter Kontrolle ist und wir alarmierende Ausbreitungsraten auf der ganzen Welt sehen, darunter neue Varianten von Indien über Brasilien bis San Francisco?

Ich habe zu Beginn dieser Pandemie gesagt, daß es auf der Welt immer Krankheiten geben mag, ja, daß es immer Epidemien geben mag, aber daß es keineswegs zwingend ist, eine Pandemie zu haben. Wenn sich im 21. Jahrhundert eine pandemische Krankheit ausbreitet, ist das ein Versagen der Moral und nicht der Medizin.

Dieser moralische Zusammenbruch zeigt sich in der Tat in einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Elend und Leid unserer Mitmenschen rund um den Globus. Es ist nicht nur unmoralisch, sondern auch medizinisch selbstzerstörerisch, diese Zustände einfach hinzunehmen. Sauberes Wasser und Nahrung sind Grundrechte, wie die Rechte auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit. Man ist nicht am Leben ohne Nahrung und Wasser, man ist nicht frei, denn man ist nicht am Leben, und man ist sicherlich nicht glücklich. Wenn Sie also an das glauben, was wir die unveräußerlichen Rechte der Unabhängigkeitserklärung nennen, dann müssen Sie davon ausgehen, daß es das unveräußerliche Recht eines jeden Menschen auf diesem Planeten ist – ganz besonders der jungen Menschen, die für die Bedingungen ihrer Geburt nicht verantwortlich sind – sauberes Wasser, Nahrung und Medizin zu haben; wenn nicht um ihrer selbst willen, dann um unserer eigenen Sicherheit und der unseres Landes willen.

Wasser, Nahrung, Wohnung und Gesundheit sind keine Privilegien oder Luxusgüter. Sie sind Notwendigkeiten für uns alle und für jeden von uns, denn wie wir heute sehen, vernachlässigen wir diese Dinge für unsere Mitmenschen auf unsere eigene Gefahr. Man darf sie nicht nur denjenigen zur Verfügung stellen, die sie sich „leisten“ können. Das ist die selbstmörderische Ökonomie der Gleichgültigkeit. Niemand von uns kann es sich in unserer elektronisch vernetzten Welt leisten, daß diese Notwendigkeiten nicht für jeden erschwinglich gemacht werden. Das ist die Ökonomie des selbsterhaltenden Mitgefühls.

Ohne die Bereitstellung dieser grundlegenden Notwendigkeiten kann es keinen wirksamen Schutz der öffentlichen Gesundheit geben, der ein weltweites Anliegen sein muß. Das ist die Lehre aus der Pandemie. Wenn wir nicht dazu kommen, diese grundlegende Wahrheit zu erkennen, werden wir alle untergehen. Wie Helga und das Komitee für die Coincidentia Oppositorum betonen, müssen wir eine Weltgesundheitsplattform schaffen. Jedes Land braucht ein modernes Gesundheitssystem. Das bedeutet nicht nur Krankenhäuser und ausgebildetes Personal, sondern auch Infrastruktur, Straßen, Brücken, Verkehrsnetze, Elektrizität usw.

Das ist machbar. Wir haben die Ressourcen. Aber wir müssen uns wieder die moralischen Standards aneignen, die erforderlich sind, um das zu tun, was nur scheinbar unmöglich ist. Länder, die zusammenarbeiten, können das schaffen. Die Pilotprojekte des Komitees – Mitarbeiter der Gesundheitsfürsorge in Washington und unser Lebensmittel- und Medizin-Hilfsprojekt in Mosambik - zeigen, wie eine Anstrengung, die Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Interessen vereint, etwas bewirken kann. Sie werden jetzt mehr darüber von unseren Rednern hören, die direkt an diesen Projekten beteiligt sind.

Aber ich sage es noch einmal: Gleichgültigkeit, Selbstgefälligkeit und Apathie sind unser Feind. Sie sind die Pandemie, die wir besiegen müssen. Wir brauchen Menschen jeden Alters, vor allem junge Menschen, die aufstehen und sagen: Ich werde meinen Teil dazu beitragen, diese Ungerechtigkeiten zu korrigieren und von diesem Tag an auf jede erdenkliche Weise daran arbeiten, eine bessere Welt für die gesamte Menschheit zu schaffen. Das ist der Maßstab der Exzellenz, der vielleicht die Minimalbedingung für unser weiteres Überleben auf diesem Planeten ist – für unsere Gesundheit als eine menschliche Gattung, die sich für Einheit statt Spaltung, Gesundheit statt Krankheit und Leben statt Tod entscheidet.

Vielen Dank und lassen Sie uns an die Arbeit gehen.