Alle oder keiner!
Warum eine Weltgesundheitsplattform jeden von uns schützt
Von Dr. Joycelyn Elders
Dr. Joycelyn Elders war als U.S. Surgeon General Leiterin des
öffentlichen Gesundheitswesens in den Vereinigten Staaten. In der
Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 8. Mai 2021 sagte sie
folgendes.
Guten Tag! Ich freue mich ganz besonders, mich heute an Sie zu wenden,
sowohl an diejenigen von Ihnen, die seit den Anfängen im letzten Jahr dabei
sind, als auch an diejenigen, die heute morgen vielleicht zum ersten Mal dabei
sind. Ich grüße Helga und Sie alle, die Sie auf der ganzen Welt zu dieser
Konferenz des Schiller-Instituts versammelt sind.
Zu Beginn freue ich mich, Ihnen berichten zu können, daß unser Komitee
einige greifbare Fortschritte in unseren Bemühungen gemacht hat, unsere
manchmal divergierenden Kräfte zusammenzubringen für das, was wir den
„Zusammenfall der Gegensätze“ nennen. Es ist uns gelungen, sowohl in den
Vereinigten Staaten als auch international unsere vorrangigen
Demonstrationsprojekte zu initiieren, und meine Aufgabe ist es heute, etwas
über den Kontext dieser Projekte zu sagen, die nur ein Anfang sind, aber
schlüssig zeigen, was getan werden kann.
Das Thema der heutigen Konferenz lautet: „Der moralische Bankrott der
transatlantischen Welt schreit nach einem neuen Paradigma.“ Was ist dieser
moralische Bankrott? Es ist ein Bankrott der Maßstäbe für Exzellenz -
Maßstäbe, die von uns mehr verlangen, als wir glauben, tun zu können, mehr,
als wir glauben, geben zu können, und manchmal auch mehr, als wir glauben,
ertragen zu können. In einer Welt voller Aufruhr, wie wir sie jetzt erleben,
ist Exzellenz keine Option. Exzellenz ist eine Notwendigkeit. Wir müssen
körperlich fähig, intellektuell qualifiziert und emotional entschlossen sein,
nicht aufzugeben, bis das Problem, vor dem wir stehen, gelöst ist – bis die
Aufgabe erledigt ist.
Es ist jedoch sehr besorgniserregend für diejenigen von uns, die versucht
haben, ihr Leben nach diesen Maßstäben zu leben, und die diese Maßstäbe allen
empfohlen haben, daß unser Land nun seine Maßstäbe für Exzellenz aufgibt,
zugunsten einer bequemen, aber vielleicht tödlichen Mittelmäßigkeit.
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Wir reden davon, eine weltweite
Pandemie mit Impfstoffen zu besiegen. Aber was ist mit Wasser und Nahrung? Es
sollte jedem von uns klar sein, daß es ohne sauberes Wasser und Nahrung keine
Gesundheit gibt. Es wäre töricht, wenn wir uns um die Eindämmung der Pandemie
bemühen würden, ohne uns gleichzeitig Gedanken darüber zu machen, wie das
Problem der Ernährung und des Trinkwassers in den ärmsten Ländern unserer Welt
angegangen werden muß. Über 2 Milliarden Menschen auf der Erde haben keinen
Zugang zu sauberem Wasser. 2,5 Milliarden Menschen sind mehr oder weniger von
Ernährungsunsicherheit betroffen, darunter 41 Millionen direkt hier in den
Vereinigten Staaten. David Beasley vom Welternährungsprogramm sagt, daß in
diesem Jahr mehr als 270 Millionen Menschen der Hungertod droht. Nach Angaben
der Weltbank und der WHO hat die Hälfte der Welt keinen Zugang zu
grundlegenden Gesundheitsdiensten. 1,6 Milliarden Menschen haben keinen
angemessenen Wohnraum. Schätzungsweise 1,2 Milliarden Menschen haben keinen
Zugang zu Elektrizität.
Ob Menschen Zugang zu Elektrizität haben oder nicht, ist ein Indikator
dafür, ob sie über ein wesentliches Werkzeug zur Überwindung von Krankheiten
verfügen oder nicht. Wie kann man sonst ein Krankenhaus betreiben, wichtige
Medikamente lagern oder große Mengen an Lebensmitteln konservieren? Ist es
angesichts dieser Situation eine Überraschung, daß wir eine COVID-Pandemie
haben? Ist es angesichts des Versagens vieler Regierungen, vor allem in Europa
und Amerika, schnell, mitfühlend und wissenschaftlich auf diesen Ausbruch zu
reagieren, eine Überraschung, daß diese Pandemie immer noch nicht unter
Kontrolle ist und wir alarmierende Ausbreitungsraten auf der ganzen Welt
sehen, darunter neue Varianten von Indien über Brasilien bis San
Francisco?
Ich habe zu Beginn dieser Pandemie gesagt, daß es auf der Welt immer
Krankheiten geben mag, ja, daß es immer Epidemien geben mag, aber daß es
keineswegs zwingend ist, eine Pandemie zu haben. Wenn sich im 21. Jahrhundert
eine pandemische Krankheit ausbreitet, ist das ein Versagen der Moral und
nicht der Medizin.
Dieser moralische Zusammenbruch zeigt sich in der Tat in einer
Gleichgültigkeit gegenüber dem Elend und Leid unserer Mitmenschen rund um den
Globus. Es ist nicht nur unmoralisch, sondern auch medizinisch
selbstzerstörerisch, diese Zustände einfach hinzunehmen. Sauberes Wasser und
Nahrung sind Grundrechte, wie die Rechte auf Leben, Freiheit und das Streben
nach Glückseligkeit. Man ist nicht am Leben ohne Nahrung und Wasser, man ist
nicht frei, denn man ist nicht am Leben, und man ist sicherlich nicht
glücklich. Wenn Sie also an das glauben, was wir die unveräußerlichen Rechte
der Unabhängigkeitserklärung nennen, dann müssen Sie davon ausgehen, daß es
das unveräußerliche Recht eines jeden Menschen auf diesem Planeten ist – ganz
besonders der jungen Menschen, die für die Bedingungen ihrer Geburt nicht
verantwortlich sind – sauberes Wasser, Nahrung und Medizin zu haben; wenn
nicht um ihrer selbst willen, dann um unserer eigenen Sicherheit und der
unseres Landes willen.
Wasser, Nahrung, Wohnung und Gesundheit sind keine Privilegien oder
Luxusgüter. Sie sind Notwendigkeiten für uns alle und für jeden von uns, denn
wie wir heute sehen, vernachlässigen wir diese Dinge für unsere Mitmenschen
auf unsere eigene Gefahr. Man darf sie nicht nur denjenigen zur Verfügung
stellen, die sie sich „leisten“ können. Das ist die selbstmörderische Ökonomie
der Gleichgültigkeit. Niemand von uns kann es sich in unserer elektronisch
vernetzten Welt leisten, daß diese Notwendigkeiten nicht für jeden
erschwinglich gemacht werden. Das ist die Ökonomie des selbsterhaltenden
Mitgefühls.
Ohne die Bereitstellung dieser grundlegenden Notwendigkeiten kann es keinen
wirksamen Schutz der öffentlichen Gesundheit geben, der ein weltweites
Anliegen sein muß. Das ist die Lehre aus der Pandemie. Wenn wir nicht dazu
kommen, diese grundlegende Wahrheit zu erkennen, werden wir alle untergehen.
Wie Helga und das Komitee für die Coincidentia Oppositorum betonen, müssen wir
eine Weltgesundheitsplattform schaffen. Jedes Land braucht ein modernes
Gesundheitssystem. Das bedeutet nicht nur Krankenhäuser und ausgebildetes
Personal, sondern auch Infrastruktur, Straßen, Brücken, Verkehrsnetze,
Elektrizität usw.
Das ist machbar. Wir haben die Ressourcen. Aber wir müssen uns wieder die
moralischen Standards aneignen, die erforderlich sind, um das zu tun, was nur
scheinbar unmöglich ist. Länder, die zusammenarbeiten, können das schaffen.
Die Pilotprojekte des Komitees – Mitarbeiter der Gesundheitsfürsorge in
Washington und unser Lebensmittel- und Medizin-Hilfsprojekt in Mosambik -
zeigen, wie eine Anstrengung, die Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen
und Interessen vereint, etwas bewirken kann. Sie werden jetzt mehr darüber von
unseren Rednern hören, die direkt an diesen Projekten beteiligt sind.
Aber ich sage es noch einmal: Gleichgültigkeit, Selbstgefälligkeit und
Apathie sind unser Feind. Sie sind die Pandemie, die wir besiegen müssen. Wir
brauchen Menschen jeden Alters, vor allem junge Menschen, die aufstehen und
sagen: Ich werde meinen Teil dazu beitragen, diese Ungerechtigkeiten zu
korrigieren und von diesem Tag an auf jede erdenkliche Weise daran arbeiten,
eine bessere Welt für die gesamte Menschheit zu schaffen. Das ist der Maßstab
der Exzellenz, der vielleicht die Minimalbedingung für unser weiteres
Überleben auf diesem Planeten ist – für unsere Gesundheit als eine menschliche
Gattung, die sich für Einheit statt Spaltung, Gesundheit statt Krankheit und
Leben statt Tod entscheidet.
Vielen Dank und lassen Sie uns an die Arbeit gehen.
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