Aus einem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung meißeln
Von Dr. Joycelyn Elders
Dr. Joycelyn Elders, ehemalige Leiterin der Gesundheitsdienste
(Surgeon General) der Vereinigten Staaten, hielt bei der Internetkonferenz des
Schiller-Instituts am 13. Dezember den folgenden Vortrag.
Ich freue mich immer, so wie heute, auf den Konferenzen des
Schiller-Instituts zu sprechen. Ich danke Ihnen für die Einladung. Ich möchte
die Gelegenheit nutzen, um die Zuhörer darauf aufmerksam zu machen, daß ich
als ehemaliger Surgeon General der Vereinigten Staaten einem Zweig der
uniformierten Dienste der Vereinigten Staaten angehöre. Das heißt, einem Zweig
des Militärs, der keine Waffen trägt. Der Name dieses Zweigs ist „United
States Public Health Service Commissioned Corps”.
Jetzt, Ende 2020, befinden wir uns an einem Wendepunkt in unserem Kampf,
nicht nur mit COVID-19, sondern auch mit uns selbst. Wir müssen erwachsen
werden und erkennen, daß alle Nationen der Welt über ein zuverlässiges
Gesundheitssystem, ein Präventionssystem und ein Notfallwarnsystem verfügen
müssen, um die Ausbreitung von Pandemien zu verhindern. Alte Vorstellungen von
Spaltung in der Situation eines solchen öffentlichen Gesundheitsnotstands sind
heute noch tödlicher als die Krankheit selbst. Auch wenn es jetzt mehr
Infektionen gibt, wir verfügen jetzt zum Glück aber auch über mehr
Informationen. Obwohl es mehr Krankenhausaufenthalte gibt, verfügen wir auch
über mehr Wissen über eine wirksame Behandlungen. Wir haben zwar mehr
Todesfälle, aber wir haben den Ansatz einer Lösung in Form von Impfstoffen,
die jetzt entwickelt, getestet und angewendet werden.
Dank des Erfolgs von Initiativen, einschließlich der Operation Warp Speed,
ist die Welt nun in der Lage, eine großangelegte Mobilisierung zu beginnen.
Ohne eine entsprechende Mobilisierung des Vertrauens können wir jedoch nicht
erfolgreich sein. Jede Bevölkerungsgruppe muß informiert, konsultiert und dann
zur Teilnahme aufgefordert werden. Wir müssen auch feststellen, daß die
psychologischen Auswirkungen der Krankheit ebenso verheerend sind wie die
physischen. Wir brauchen eine Mobilisierung der Hoffnung.
Dr. Martin Luther King hat einmal davon gesprochen, aus einem Berg der
Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu meißeln. Um das zu tun – Hoffnung aus
der gegenwärtigen Situation zu ziehen –, bedarf es wissenschaftlicher
Erkenntnisse, medizinischer Entdeckungen und einer disziplinierten, klaren
Bereitstellung der Werkzeuge, um Gegenmittel, Behandlungen und Medikamente
anzuwenden und zu verbessern. Darüber hinaus muß dies weltweit geschehen,
gerade um Nebenwirkungen der Impfstoffe sowie die Möglichkeit von
Virusmutationen oder sogar des Entstehens neuer Krankheiten festzustellen,
während wir die alte bekämpfen. Hätte es diese Art der Zusammenarbeit bereits
vor dem Ausbruch von COVID-19 gegeben, wären wir jetzt nicht mit Millionen von
Toten weltweit konfrontiert.
Wir hier sind uns über einen Grundsatz völlig einig: Es muß eine weltweite
Mobilisierung in der Tiefe geben, die eine Zusammenarbeit zwischen allen
gesellschaftlichen Gruppen einschließt – militärische Fähigkeiten,
medizinische Fähigkeiten sowie wissenschaftliche Forschung und Entwicklung auf
allen Ebenen und aus allen Nationen. In gewissem Sinne sind wir alle, die für
die Krankheit anfällig sind, jetzt zufällige Wehrpflichtige in einem Krieg um
die öffentliche Gesundheit geworden.
David Beasley vom UN-Welternährungsprogramm hat die Vereinten Nationen
soeben darüber informiert, dass in den nächsten sechs Monaten oder länger bis
zu 270 Millionen Menschen der Tod durch Hunger – und nicht durch COVID –
droht. Dies ändert nichts am Schwerpunkt unserer Gesundheitsinitiative.
Vielmehr unterstreicht es das Ausmaß der unmittelbaren Notlage, da sich die
Krankheit bei insgesamt anfälligen Menschen wahrscheinlich noch schneller
ausbreiten wird.
Deshalb haben wir heute auf dieser Konferenz einen Querschnitt von Personen
aus den Bereichen Militär, Medizin, Landwirtschaft und Regierung versammelt,
um vor der Welt und insbesondere vor der Jugend der Welt zu sprechen. Wir
brauchen alle – und den Einfallsreichtum aller –, um einen neuen Zusammenfall
der Gegensätze zwischen Nationen, Zivilisationen und Gesellschaften zu
erreichen, die alle zumindest von der Notwendigkeit des Überlebens überzeugt
sind. Dieser Dialog wird einen Stein der Hoffnung aus einem Berg der
Verzweiflung herausmeißeln. Dieser Dialog erfordert es, eine internationale
Antwort im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu erreichen.
Eine solche Frage wurde bereits am Ende des Zweiten Weltkriegs aufgeworfen.
Es ist an der Zeit, sie zu verwirklichen. Das bedeutet nicht ein
„Eine-Welt“-Gesundheitssystem; es bedeutet, daß jede Nation, insbesondere
durch Jugendbrigaden, sich dafür einsetzt, daß jeder Durchbruch, der von einer
Nation erzielt wird, allen zugänglich gemacht werden kann.
Mit Blick auf die Vereinigten Staaten habe ich bereits gesagt:
„Ein Team des öffentlichen Gesundheitswesens kann weit mehr zur Erhaltung
unserer Gesundheit beitragen als 100 Chirurgen. Diese Mitarbeiter des
öffentlichen Gesundheitswesens sind keine Ärzte oder Krankenschwestern. Für
das Verteilen von Masken, das Messen der Temperatur und sogar für die
Kontaktverfolgung und einige Diagnosen ist es nicht erforderlich, daß man
einen medizinischen Abschluß hat oder zwölf Jahre lang zur Schule gegangen
ist. Wir brauchen ein Korps für öffentliche Gesundheit, das mit dem
Ingenieurkorps der Armee und vielen anderen Behörden zusammenarbeiten könnte.
Wir brauchen Millionen von Mitarbeitern des öffentlichen Gesundheitswesens in
den Vereinigten Staaten, und die Welt braucht Dutzende von Millionen.“
Das habe ich im September gesagt, und jetzt im Dezember trifft es noch mehr
zu. Im Februar, März, April oder Mai wird es noch mehr zutreffen. Wir dürfen
also nicht warten, um anzufangen, damit man sich in sechs Monaten wieder
trifft und sagt: „Wissen Sie was, Sie hatten Recht mit dem, was Sie gesagt
haben.“ Wir wissen, daß wir Recht haben. Jetzt müssen wir tun, was richtig
ist.
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