Ein Aufruf zum Handeln
Von Jacques Cheminade
Jacques Cheminade, dreimaliger Präsidentschaftskandidat in
Frankreich und Vorsitzender von Solidarité et Progrès, hielt im dritten
Abschnitt der Internetkonferenz des Schiller-Instituts den folgenden Vortrag.
Zwischenüberschriften wurden hinzugefügt.
Wir sind an einem dieser Momente der Geschichte angelangt, an dem die
menschliche Überlebensfähigkeit auf dem Spiel steht. Nachdem wir die Redner
der vorangegangenen drei Panels gehört haben, kann dies niemand mehr leugnen.
Es ist ein Moment der Tragödie, weil sich die wichtigsten politischen Führer
der Welt, zumindest in unserer westlichen Welt, nicht mehr verpflichtet
fühlen, sich um andere zu kümmern, für den Vorteil anderer zu sorgen, wie es
im Westfälischen Frieden von 1648 definiert wurde – ein Schlüssel, um Frieden
unter den Nationen zu schaffen. Wir selbst würden zu tragischen Helden werden,
wenn wir uns der selbstzerstörerischen Dynamik unserer Gesellschaften beugen
und uns mehr um unser eigenes Schicksal kümmern als um das Gemeinwohl der
Menschheit.
Was ich mit einem „Aufruf zum Handeln“ meine, ist nicht, den Menschen zu
sagen, was sie zu tun haben – was sicherlich absurd wäre –, sondern durch
meinen Beitrag über das, was zu tun ist, ein Gefühl für die gemeinsame
Verpflichtung von uns allen hier zu vermitteln. Noch sind wir keine
zahlenmäßig große Kraft, aber wir sind das Hauptpotential für die kommende
Welt, weil wir dem Gemeinwohl verpflichtet sind, dem „allgemeinen Wohl von uns
und unserer Nachkommenschaft“. Als Mitglieder oder Freunde des
Schiller-Instituts, von vielfältiger geographischer und intellektueller
Herkunft, setzen wir uns für das Zusammentreffen der Gegensätze
(coincidentia oppositorum) ein, für ein immer wieder erneuertes höheres
Ziel im moralischen, politischen, wirtschaftlichen und ästhetischen Sinne, um
aus allem, was unsere Beiträge inspiriert hat, eine Einheit zu schaffen. Wir
weigern uns, Hamlets zu werden, die selbstsüchtig besessen von einer Kultur
des Todes sind.
Die Kultur des Todes
Wir haben heute weniger Ausreden, auf einem akademischen und
existentialistischen Niveau zu bleiben wie unsere Vorgänger vor dem Zweiten
Weltkrieg. Hören wir uns an, was Leo Alexander, Sachverständiger des
Nürnberger Tribunals, damals über die politischen Sünden des Handelns und
Unterlassens zu sagen hatte:
„Welche Ausmaße diese nationalsozialistischen Verbrechen auch immer
annahmen, es wurde allen, die sie untersuchten, klar, daß sie von kleinen
Anfängen ausgingen (...) Aber es ist wichtig, sich klar zu machen, daß der
unendlich kleine Hebel, von dem diese ganze Geistesströmung ihren Anstoß
erhielt, die Haltung gegenüber den unheilbar Kranken war.“
Seien wir ehrlich, wir haben weniger Ausreden. Schon Lyndon LaRouche warnte
uns in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, daß die heutigen
verbrecherischen Taten in ihren Auswirkungen potentiell um ein Vielfaches
schlimmer seien als die von Adolf Hitler.
Manche haben das als Provokation oder Metapher aufgefaßt, aber was seither
in der Welt passiert, bestätigt diese Aussage voll und ganz. Wir stehen nicht
nur vor „kleinen Anfängen“. Während Menschen verhungern, während Länder wie
Jemen und Syrien gefoltert werden, während der größte Teil der Welt ohne ein
anständiges Gesundheitswesen zur Bekämpfung von Pandemien dasteht, wenden sich
unsere Staatsführer ab oder, schlimmer noch, beteiligen sich an den
Verbrechen. Unsere Vorredner haben dies besser ausgedrückt, als ich es könnte.
Die Erniedrigung des anderen ist zum gängigen barbarischen Verhalten geworden.
Der finanzielle „Große Sprung nach hinten“ in den Fängen einer grünen
Finanzdiktatur ist zur Politik des Westens geworden, die, wenn sie
durchgesetzt wird, aufgrund der fehlenden physischen wirtschaftlichen
Entwicklung unweigerlich zu einer Politik führt, die man höflich als
Bevölkerungsreduktion und weniger höflich als Massenmorde bezeichnet. In den
Vereinigten Staaten wurde in wenigen Monaten mehr Staatsgeld ausgegeben als in
zwei Jahrhunderten der amerikanischen Geschichte. Und Japan, Westeuropa und
Lateinamerika gehen in die gleiche Richtung, geben Geld an die Geldverwalter,
aber nicht an produktive Investitionen.
Das Ergebnis ist, daß die gegenwärtige Produktion und die zu erwartende
wirtschaftliche Produktion in der Zukunft nicht einmal mehr in der Lage sind,
das gegenwärtige Niveau der Weltbevölkerung aufrechtzuerhalten. Hier handelt
es sich nicht um einen technischen Fehler, sondern um die vorsätzlich
zerstörerische Politik einer Oligarchie zur Erhaltung ihrer Macht gegen die
Interessen der anderen.
Solch ein bösartiges Verhalten führt zum Krieg. Joe Biden, der Präsident
der Vereinigten Staaten, hat es gewagt, den Präsidenten Rußlands einen
„Mörder“ zu nennen. Während Putin das mit einem ironischen Lächeln hinnimmt,
wurde der russische Botschafter in Washington nach Rußland zurückgerufen, und
Dmitrij Medwedew, stellvertretender Vorsitzender des russischen
Sicherheitsrates, erklärte: „Ich kann nur Freud zitieren: Nichts im Leben ist
so teuer wie Krankheit und Dummheit.“
Zur gleichen Zeit kündigten die USA an, „Mini-Kernwaffen“ zu stationieren
und damit die Schwelle für einen Atomkrieg zu senken. Die NATO führt ihre
Militärübungen „Defender 2021“ in der Nähe der russischen Grenzen durch, und
Jens Stoltenberg, der NATO-Generalsekretär, fordert eine „Globale NATO“, die
bis nach Asien ausgedehnt werden soll, während die britische Regierung dem
aggressiven Traum von einem „Globalen Britannien“ nachrennt.
Noch schlimmer ist, wie wir alle wissen, die westliche Politik gegenüber
China. Außenminister Anthony Blinken, Verteidigungsminister Lloyd Austin und
die gesamte Biden-Administration rufen offen zu kollektiven Vorbereitungen für
militärische Konfrontationen mit China auf.
Vom Projekt für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert aus der Cheney-Ära
über das Dokument zur Nationalen Verteidigungsstrategie von 2018 bis hin zur
aktuellen vorläufigen Sicherheitsstrategie (Interim National Security
Strategic Guidance) und dem von Präsident Biden unterzeichneten Brief zum
rechtlichen und politischen Rahmen für den Einsatz militärischer Gewalt durch
die Vereinigten Staaten und damit zusammenhängende nationale
Sicherheitsoperationen – überall herrscht derselbe kriegslüsterne Ton vor,
garniert mit einigen scheinheiligen Verweisen auf „Demokratie“ und
„Schutzverantwortung“.
Wir sagen natürlich „Nein“ zu all diesen Drohungen. Die Auflösung der NATO,
um all diesen imperialen Bedrohungen ein Ende zu setzen, ist zwingend
notwendig geworden. Ein Gesprächskreis der französischen Streitkräfte,
bestehend aus hohen pensionierten Generälen, hat dazu aufgerufen, „den
verrückten Zug der NATO zu stoppen“, bevor es zu spät ist. Aber es ist
natürlich noch viel mehr nötig.
Helga Zepp LaRouche fordert:
- den sofortigen Aufbau eines modernen Gesundheitswesens in jedem Land
der Welt;
- die Verdoppelung der Weltagrarproduktion, um Hunger und Armut für eine
wachsende Weltbevölkerung zu beseitigen,
- das Ende der Kasinowirtschaft durch ein globales Glass-Steagall-Gesetz
zur Trennung der Banken,
- ein Neues Bretton-Woods-Kreditsystem, um produktive Kredite für
Investitionen in die Realwirtschaft bereitzustellen,
- die Schaffung von 1,5 Milliarden neuen produktiven Arbeitsplätzen, um
die Weltwirtschaft nach der Pandemie wieder aufzubauen und ernsthaft mit der
Überwindung der globalen Unterentwicklung zu beginnen,
- die Zusammenarbeit mit Rußland und China, um die Neue Seidenstraße in
Südwestasien und Afrika zu entwickeln und damit die Ursachen der
Flüchtlingskrise zu bekämpfen und gleichzeitig eine dauerhafte Friedensordnung
zu schaffen.
Kultureller Optimismus
Ich habe ähnliche Vorschläge für mein Land, Frankreich, gemacht. Zu oft
höre ich Leute sagen: „Die Voraussetzungen sind nicht gegeben“, „Es ist zu
schön, um wahr zu sein“, und sogar: „Ich glaube, die Menschen sind nicht so
gut, wie Sie glauben.“ Das ist der moralische Verfall der Bevölkerung in
unserer westlichen Welt. Konfrontiert mit den permanenten Lügen ihrer Führung
haben sie allzu oft den Glauben an das Gute verloren.
Um diesen Kulturpessimismus zu bekämpfen, rufe ich zum Handeln auf. Unser
viertes Panel wird das Engagement von Ärzten, Landwirten und anderen zeigen,
die sich an vorderster Front für das menschliche Leben einsetzen; sie
präsentieren ihre Beweise dafür, daß das Gute verwirklicht werden könnte und
sollte, daß eine bessere Welt möglich ist, basierend auf einer moralischen
Verpflichtung und modernen Produktions- und Transportmitteln, um Plattformen
für die menschliche Entwicklung zu bauen. Die drei gerade laufenden
Mars-Missionen drücken diesen kulturellen Optimismus aus, den wir alle
brauchen, um eine Welt der Entdecker jenseits der Grenzen des bekannten
Universums aufzubauen, und dies sowohl physisch als auch geistig und in einem
wirklichen Sinne spirituell.
Denjenigen unter Ihnen, die es noch nicht gelesen haben, rate ich dringend,
Lyndon LaRouches Buch Die kommenden 50 Jahre: Dialog der Kulturen
Eurasiens zu lesen, und wer es bereits gelesen hat, sollte es noch einmal
tun, jeweils mit der Absicht, das Potential Ihres Engagements besser zu
erforschen, um mehr Vertrauen in die eigenen Kräfte zu gewinnen.
Der Kampf um die Zukunft ist keine Lektion, die man lernt und befolgt,
sondern ein Aufruf zur Kreativität in unseren Köpfen und zum Handeln im Namen
der Gerechtigkeit. Ich möchte an Platons erstes Buch von Der
Staat erinnern, wo er Glaukon, Polemarchus und Thrasymakus dazu
anleitet, zu erforschen, was Gerechtigkeit ist. Er zeigt ihnen, daß
Gerechtigkeit weder bedeutet, sich der öffentlichen Meinung zu unterwerfen und
Vorteile zu erwarten, noch seinen Freunden zu dienen und seinen Feinden zu
schaden, noch den Vorteil des Stärkeren zu suchen. Sokrates betont: „Die Liebe
für Ruhm und Geld gilt als etwas Schändliches, und das zu Recht“, und er fährt
fort: „Macht ist eine notwendige Aufgabe, nicht den eigenen Vorteil zu suchen,
sondern den Vorteil der Regierten und vor allem der Schwächsten unter
ihnen.“
Dafür müssen wir uns mobilisieren. Die Schwierigkeit beginnt, wenn wir uns
die heutige Situation anschauen: Westliche Mächte teilen die Welt in zwei
Kategorien ein, Freunde und Feinde. Ohne Sinn für das Gemeinwohl infizieren
sie die öffentliche Meinung in diesem Sinn und verfolgen das
Teile-und-Herrsche-Prinzip zur Kontrolle der Bevölkerung. Dies führt
„logischerweise“ in die Welt des Trasymachus und des Alkibiades, d.h. zu
Herrschaft durch Gewalt und Krieg jeder gegen jeden.
Unser Aufruf zum Handeln ist daher ein Aufruf, die Denkweise unserer
Mitbürger zu ändern und so zu handeln, daß es nicht nur möglich ist, sondern
am meisten Spaß macht, denn es macht Spaß, das Gute zu tun. Um uns gegenseitig
zu organisieren, müssen wir also rücksichtslos sein, weil wir von jedem von
uns das Beste erwarten. Mit einem solchen Engagement hat Gandhi die
Unabhängigkeit Indiens und Martin Luther King das Ende der Rassentrennung
erreicht.
Der Sieg ist also nicht nur möglich, sondern notwendig. Gehen wir, als ein
uns selbst auferlegtes Ziel, viel weiter als Gandhi und Martin (und wir können
andere Beispiele finden), nicht um sie in diesem und jenem nachzuahmen,
sondern um ihre Träume zu erfüllen. Laßt uns viele Träume wahr werden lassen
und die Trommel der Geschichte schlagen, aber diesmal, wie im ersten Panel
gesagt wurde, mit der besten aller möglichen Musiken, um eine Harmonie der
Interessen entlang einer Weltlandbrücke zu erreichen.
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