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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Das Opium in Afghanistan ausrotten:
moderne Landwirtschaft entwickeln, das Land jetzt aufbauen

Interview mit Pino Arlacchi,
ehemaliger Exekutivdirektor des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung

Prof. Pino Arlacchi war Exekutivdirektor des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechens­bekämpfung (UNODC), Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen sowie Berichterstatter des Europäischen Parlaments für Afghanistan. Dies ist eine bearbeitete Abschrift seines Interviews, das als Beitrag zur Konferenz des Schiller-Instituts „Afghanistan: Ein Wendepunkt in der Geschichte nach der gescheiterten Ära der Regimewechsel“ am 31. Juli 2021 aufgezeichnet wurde. Das Gespräch führte Claudio Celani.

Claudio Celani: Guten Morgen! Wir sind hier mit Pino Arlacchi, einer lebenden Legende im Kampf gegen das internationale Verbrechen. Er war Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen und verantwortlich für den internationalen Kampf gegen Drogen. Er hat seine Mission als Mitglied des italienischen Parlaments und des Europäischen Parlaments fortgesetzt, wo er Berichterstatter für Afghanistan war. Außerdem hat er viele Regierungen auf der ganzen Welt beraten.

Pino, Sie haben ein Buch geschrieben, das ich gerade lese, es ist auf Italienisch. Es heißt Gegen die Angst. In diesem Buch sprechen Sie mehrere Themen an. Eines, das uns heute beschäftigt, ist Afghanistan. Aber wir werden auch auf viele andere Punkte eingehen, wenn Sie gestatten.

Lassen Sie mich zunächst sagen, die meisten unserer Zuhörer wissen wahrscheinlich nicht, daß es Ihnen während Ihrer Zeit bei den Vereinten Nationen gelungen ist, fast die gesamte Opiumproduktion in Afghanistan auszumerzen. Ist das wahr? Können Sie uns darüber berichten?

Die Ausrottung des Opiums 2001

Pino Arlacchi: Ja, das waren die Taliban, die das unter unserer Aufsicht und unserem Druck getan haben. Als ich mein Mandat antrat, reiste ich sofort nach Afghanistan und versuchte, mit ihnen über die Beseitigung des Rauschgiftanbaus im Land zu verhandeln – sie beherrschten damals fast das ganze Land –, im Gegenzug für ein langfristiges alternatives Entwicklungsprogramm für die afghanischen Bauern. Mein Vorschlag war ein Zehn-Jahres-Programm. Sie schlugen vor, es gleich innerhalb eines Jahr umzusetzen und im Gegenzug das gesamte Geld des Entwicklungsplans sofort auszuhändigen.

Dann begannen die langen Verhandlungen mit den Partnern, bei denen es ein Auf und Ab gab. Irgendwann hatte ich genug von ihrem Verhalten, denn erst akzeptierten sie das formale Verbot der Drogenproduktion, des Mohnanbaus, im Land, aber dann fingen sie an, sich ein wenig zu sträuben, und so weiter. An diesem Punkt bat ich den UN-Sicherheitsrat, mehr Sanktionen zu verhängen, und wir fingen an, sie ernsthafter unter Druck zu setzen. Im Grunde hatten wir ein gutes Verhältnis zu ihnen. Sie waren viel vernünftiger, als sie in der Presse dargestellt wurden.

Nach intensiver Arbeit mit ihnen, indem wir ihnen einerseits halfen und andererseits Druck ausübten, kamen wir zu diesem Ergebnis. Im Sommer 2001 gab es fast keine Opiumproduktion mehr in dem Land, weil sie beschlossen, das Verbot durchzusetzen, das sie zuvor auf unseren Rat hin verhängt hatten.

Leider sind im Oktober desselben Jahres, nach den Ereignissen vom 11. September 2001, die Vereinigten Staaten in Afghanistan einmarschiert. Und anstatt unsere Arbeit und unseren Plan fortzusetzen und die Vereinbarung mit den Taliban über die alternative Entwicklung zu verlängern, entschieden sich die USA von Anfang an für einen anderen Weg.

Der damalige Verteidigungsminister Rumsfeld verhandelte persönlich, nicht mit den Taliban, sondern mit den Warlords. Die Vereinigten Staaten unterstützten sie. Und der Inhalt der Verhandlungen war, daß die USA sich um die Drogenproduktion nicht scheren würden, im Austausch für die Unterstützung der Warlords im sog. „Krieg gegen den Terrorismus“ – ohne zu wissen, daß eben dieselben Leute den Terrorismus dort unterstützten, wo die Vereinigten Staaten ihn bekämpfen wollten. So verschwand unser Plan in der Versenkung, und in nur zwei Jahren schnellte die Schlafmohnproduktion in Afghanistan auf ein enormes Niveau und setzte sich mit einer anderen Dynamik fort, bis heute.

Celani: Wie wirksam war der Plan, den Sie mit der Taliban-Regierung umgesetzt haben?

Arlacchi: Der erste Schritt des Plans bestand darin, ein formelles Verbot des Schlafmohns zu erlassen. Weil sie ein bißchen an den Worten des Korans herumdeutelten, zogen wir ein paar Experten für islamische Theologie hinzu, die ein klares Urteil gegen den Mohnanbau fällten.

Dann haben wir im Grunde das Verbot für sie formuliert. Und dann begannen wir, sie bei der Umsetzung unter Druck zu setzen, wobei wir einige Mittel einsetzten, die wir für die Umsetzung zur Verfügung hatten – zunächst in einem kleinen Gebiet, nur um ihre Fähigkeiten zu testen, in Kandahar und Umgebung. Dieser Test verlief nicht schlecht. Und dann haben wir das fortgesetzt, und wir machten die gleiche Arbeit mit ihren Feinden – mit der Gruppe von Milizen, die von dem großen Kommandeur der Nordallianz unterstützt wurde. Und zu unserer Überraschung – wir hatten nicht geglaubt, daß sie unseren Plan jemals im ganzen Land umsetzen würden – haben sie auch mitgemacht!

Das war also die Prämisse. Wenn es ausreichend internationale Hilfe gegeben hätte, die zu der Zeit, über die wir hier sprechen, nicht allzu groß war, eine wirklich kleine Summe – mein ursprünglicher Plan war auf 100 Millionen Dollar in fünf Jahren veranschlagt, 20 Millionen Dollar im Jahr für die Beseitigung des Schlafmohns –, wenn sich die internationale Gemeinschaft auch nur ein bißchen an der Umsetzung des Entwicklungsplans beteiligen würde, dann gäbe es in Afghanistan keine Opiumproduktion mehr. Der Markt würde einfach verschwinden.

Und das geschah teilweise in demselben Jahr in Europa, dem Hauptabnehmer von Schlafmohn – 90% des Schlafmohns, der Heroinproduktion und der Drogenproduktion Afghanistans gehen nach Europa. Das wirkte sich auf die Preise aus, und es wurde zum Teil wieder zunichte gemacht durch Lagerstätten, die Drogenhändler an der Grenze zwischen Afghanistan und Tadschikistan anlegten. Sie hatten fast 100 Tonnen Rauschgift in Depots an der Grenze versteckt.

Aber auch das haben wir durch unsere Zusammenarbeit mit der russischen Raumfahrtbehörde entdeckt. Wir erstellten eine sehr genaue Karte dieser Drogenlager, die vor allem in Tadschikistan verstreut waren. Und ich habe auch beim UN-Sicherheitsrat die Genehmigung einer Aktion gegen diese Lagerstätten beantragt, was aber wegen des vehementen Widerstands vor allem der britischen Regierung nicht genehmigt wurde.

Die allgemeine Lehre ist aber, daß es möglich ist, die Opiumproduktion zu beseitigen. Das ist nicht wirklich besonders teuer. Und jetzt – wir sprachen bisher von der Zeit vor 20 Jahren – ist die Situation genauso wie vor 20 Jahren. Die Amerikaner waren jetzt gezwungen, mit den Taliban zu verhandeln und ein Abkommen zu schließen. Die Taliban beherrschen wieder den größten Teil Afghanistans, und der Schlafmohnanbau ist etwas mehr als damals.

Ist es heute wieder möglich?

Celani: Glauben Sie, daß Ihr Plan heute umgesetzt werden kann? Wie ist die Situation in Afghanistan heute im Vergleich zu vor 20 Jahren?

Arlacchi: Im Inland ist die Situation im Grunde die gleiche. Die Taliban beherrschen weiter den größten Teil Afghanistans. Auf internationaler Ebene ist die Lage vielleicht etwas günstiger. Es sind mehr Akteure beteiligt. Vor 20 Jahren waren die Rolle und das Gewicht Chinas noch ziemlich unbedeutend. Jetzt ist China ein wichtiger Akteur in der Region. Das Gewicht der Vereinigten Staaten hat sich durch den Abzug der Truppen und das Scheitern der Invasion in Afghanistan drastisch verringert. Es gibt noch andere Akteure, wie die Russen und die anderen Akteure in der Region – die Länder, die an Afghanistan grenzen –, die Pläne für die Zukunft Afghanistans schmieden.

Mit den Russen habe ich nach meiner Arbeit in der Europäischen Union, im Europäischen Parlament versucht, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Die Russen waren sehr kooperativ. Ich hatte zusammen mit Viktor Iwanow, Russlands Anti-Drogen-Zar zu der Zeit, einen Plan zur Umsetzung entwickelt. Die Russen hatten zugestimmt, ihn umzusetzen und zu finanzieren, auch wenn sie von der Idee der alternativen Entwicklung nicht begeistert waren. Aber ich habe sie überzeugt, daß das nötig war. Sie wollten ein Abkommen mit der EU, um den Plan gemeinsam umzusetzen. Aber die EU hatte einfach kein Interesse. Iwanow kam nach Brüssel; wir sprachen mit der EU-Kommission, dem Parlament usw. Im Parlament gab es eine grundsätzlich positive Haltung, aber die Kommission interessierte sich einfach nicht für diesen Vorschlag, obwohl er effektiv hätte sein können.

Aufbau mit der BRI

Celani: Sie haben China erwähnt. Unterstützen Sie die Rolle von Chinas Gürtel- und Straßen-Initiative (BRI) für die Zukunft Afghanistans?

Arlacchi: Ich unterstütze sie voll und ganz. Ich bin mir sicher, denn der chinesische Plan für die Neue Seidenstraße ist ernst gemeint. Er wird nun schon seit einigen Jahren umgesetzt. Und da die Entwicklungsphilosophie des Plans sehr stark ist, glaube ich, daß die Erfolgschancen jetzt viel größer sind als zu der Zeit, als ich dort war. Es geht darum, sich ausreichend darauf zu konzentrieren und diesen [Anti-Drogen-] Plan nicht in Form eines größeren Plans für Afghanistan zu verwässern. Das ist der wichtigste Punkt, die wichtigste Bedingung für den Erfolg.

Celani: Afghanistan muß durch wirtschaftliche Entwicklungskorridore mit seinen Nachbarn wie mit dem Rest der Welt verbunden werden. Sie erwähnen in Ihrem Buch die positiven Auswirkungen der Gürtel- und Straßen-Initiative bei der Förderung der Konnektivität. Kann die BRI Afghanistan zu einem positiven kulturellen Knotenpunkt machen?

Arlacchi: Ja, denn es geht nicht nur um Konnektivität. Der Aufbau der Infrastruktur bedeutet, die Basis für die Wirtschaftsentwicklung zu schaffen, was parallel zu den Entwicklungsplänen geschehen sollte. Das ist der Grund, warum es nicht verwässert werden sollte. Bessere Straßen können in Afghanistan sehr gut funktionieren, denn Afghanistan ist ein klassisches Transitland für den gesamten Handel zwischen Ost und West. Aber die Drogenproduktion ist ein ganz spezifisches Problem, das in ganz spezifischen Gebieten auftritt. Gürtel und Straße sind also in Ordnung, aber das sollte mit einem sehr zielgerichteten Entwicklungsplan einhergehen: der Beseitigung der Drogen-/Opiumproduktion usw. in dem Gebiet, in dem diese Produktion stattfindet. Das betrifft insbesondere das Gebiet von Kandahar sowie Zentral- und Südafghanistan.

Hilfe zur Entwicklung statt Geld

Celani: Wie viel würde die Umsetzung Ihres Afghanistan-Plans heute kosten?

Arlacchi: Ich schätze, daß es nicht viel mehr sein wird als damals, wenn es ein Erfolg sein soll. Die Frage ist, wie viel wir hier für diesen Plan ausgeben, und wie viel von dieser Investition tatsächlich in den betroffenen Gebieten ankommt. Das ist der wichtigste Punkt. Ich habe nämlich bei der Erstellung des Plans mit der EU-Strategie und der Untersuchung beider Seiten gelernt, wie die Entwicklungsgelder für Afghanistan fließen, wie sie umgesetzt werden und welche Auswirkungen sie haben.

Ich habe gelernt, daß der größte Teil dieser Gelder – sagen wir 80% – nicht in Afghanistan ankommt, daß sie das Ziel nicht erreichen. Das meiste dieser Gelder geht verloren. Verloren nicht nur wegen der enormen Korruption der afghanischen Regierung. Das ist die gängige Erklärung. Sie mag wahr sein, und wir erfahren das immer wieder. Aber was nicht gesagt wird und was die Leute nicht wissen – und ich habe in meinem Plan versucht, das zu berücksichtigen: daß 80% dieser Gelder Afghanistan nicht erreichen. Die EU gibt mehr oder weniger eine Milliarde Euro pro Jahr für Entwicklungshilfe in Afghanistan aus, die Vereinigten Staaten etwas mehr. Aber nicht mehr als 200-300 Millionen Dollar fließen wirklich in den Bau von Schulen, Straßen, öffentlichen Einrichtungen usw.

Hinzu kommt die Korruption der afghanischen Regierung, die, sagen wir, nicht mehr als 40 oder 50% dieser Summe ausmacht. Das Geld, das tatsächlich dort ankommt, ist also sehr wenig. Deshalb erfordert die Umsetzung dieses Plans eine Agentur für die Umsetzung, ein System für die Umsetzung, das die meisten dieser Gegenindikationen aus dem Weg räumt.

Große Lügen über China und Rußland

Celani: In Ihrem Buch schreiben Sie, das Haupthindernis für Frieden und Entwicklung sei „die große Lüge“, wie Sie es nennen. China und Rußland sind die Opfer dieser „großen Lüge“. Können Sie diesen Gedanken näher erläutern?

Arlacchi: Das größte Mißverständnis über China - die größte Lüge – besteht darin, China als eine aggressive Macht zu beschreiben, eine Supermacht, die das Gleiche tun will wie die USA in den letzten 60 Jahren: China als das neue Amerika, die neue dominante Supermacht, was gar nicht Chinas Absicht ist und was völlig außerhalb seines kulturellen, politischen und sogar wirtschaftlichen Profils liegt.

Das ist der Hauptfehler, der gemacht wird. Man glaubt, daß China, das bald die führende Wirtschaftsmacht der Welt sein wird, eine große Rüstungsindustrie aufbauen und praktisch das wiederholen wird, was die USA getan haben. Militärisch gleichzuziehen und eine auf Gewalt basierende Beziehung zu den meisten Ländern der Welt anzustreben, ihre Kultur, ihre Institutionen, ihre Interessen auf der ganzen Welt zu verbreiten – das ist nicht Chinas Plan. China ist keine expansive Macht. Seine lange Geschichte zeigt, daß China sich im wesentlichen auf sich selbst konzentriert, und sein Interessensbereich ist Asien. Was den Rest der Welt angeht, so möchte China mit anderen Weltmächten in einer multipolaren Welt leben und koexistieren.

China hat ein starkes Bündnis mit Rußland, das ebenfalls Opfer desselben Mißverständnisses ist. Das moderne Rußland ist das Ergebnis der Auflösung der Sowjetunion. Das Ende der Sowjetunion ging nicht mit Versuchen einher, die ehemalige kommunistische Macht in Osteuropa und in den Nachbarländern auszubauen. Es ging mit einem informellen Pakt für friedliche Koexistenz einher, demzufolge die NATO sich nicht nach Osten zur russischen Grenze ausdehnen sollte und Rußland allmählich ein Partner der Europäischen Union und der europäischen Länder würde.

Es gab einen Moment, vor nicht viel mehr als fünf oder sechs Jahren, da näherte sich Rußland der NATO als befreundetes Land an. Doch an einem bestimmten Punkt verwandelte sich dieses friedliche Projekt des Aufbaus einer besseren und dauerhaften, friedlichen neuen Beziehung zwischen Europa und Rußland in sein Gegenteil!

Der Fehler, den die Russen machten, war, daß sie nach dem Fall des Kommunismus keinen formellen Vertrag über Nichtangriff und friedliche Zusammenarbeit abschlossen. Er war informell. Die NATO expandierte nach Osten und bedrohte Rußland, das natürlich entsprechend reagierte. Und der Höhepunkt dieser Krise war die Ukraine-Krise in den Jahren 2012-14, in der es eine große Auseinandersetzung mit Rußland gab, die völlig unnötig und völkerrechtlich und politisch völlig ungerechtfertigt war.

Die Ukraine war ein Teil Rußlands, mit der eigenen ukrainischen Sprache, aber ein großer Teil der Ukraine spricht Russisch. Die Ukraine ist ein Land, das in seiner Geschichte lange Zeit russisch war. Sich dort einzumischen und zu versuchen, sich in eine regionale Angelegenheit einzumischen und praktisch einen Staatsstreich gegen Rußland zu inszenieren, indem man einen demokratisch gewählten Präsidenten stürzt, der aus der Ukraine fliehen mußte, eine Regierung einsetzt, die stark von Extremisten mit nationalsozialistischem und faschistischem Hintergrund beeinflußt ist, und Rußland an seiner Grenze durch ein großes Land wie die Ukraine weiter provoziert – das war wirklich ein großer politischer Fehler, an dem die EU unter dem Druck der USA weiter festhält.

Das Minsker Abkommen hat diesen Zustand eingefroren, aber wir befinden uns immer noch in einem äußerst anfälligen Gleichgewicht, in dem die EU kein Interesse daran hat, weiter ohne Rücksicht auf die Fakten eine unverantwortliche, aggressive Politik gegen Rußland zu verfolgen, anstatt das zu tun, was langfristig im Interesse der EU und Europas sein sollte, nämlich eine Einigung, die Schaffung eines einheitlichen Raums des Handels und möglicherweise irgendwann auch der Politik. Viele dachten, daß Rußland eines Tages Teil einer größeren Union sein sollte, die Europa und Rußland umfaßt; wir sprechen hier von der Politik. Das waren Träume aus der Vergangenheit, die vielleicht wiederbelebt werden sollten und die Politik gegenüber Rußland völlig umkehren könnten.

Mackinders Geopolitik und die Ukraine

Celani: Sie bezeichnen die Motivation hinter der „großen Lüge“ als Geopolitik, insbesondere britische Geopolitik. Sie nennen in Ihrem Buch namentlich Halford Mackinder. Können Sie uns etwas über ihn erzählen?

Arlacchi: Er war ein großer Gelehrter mit kolonialem Hintergrund. Sein Hauptinteresse galt daher der Frage, wie man die britische und westliche Vorherrschaft auf der Welt erhalten kann. Er war aber äußerst scharfsinnig und intelligent. Er erkannte den Hauptpunkt, das Haupthindernis für den Fortbestand der Vorherrschaft der angelsächsischen und westlichen Macht. So wollte er die Schaffung einer Spaltung, einer fixen Trennung zwischen Westeuropa und Rußland. Er sagte: „Wer Osteuropa beherrscht, der beherrscht die Welt“, was eine Metapher war und bedeutet, daß die Vereinigung oder Integration dieses Teils Eurasiens um jeden Preis verhindert werden sollte, insbesondere durch die anglo-amerikanische Macht. Und warum? Weil es die Vereinigten Staaten an den Rand drängt, die Macht des Vereinigten Königreichs an den Rand drängt und eine langfristige Tendenz in den Vordergrund rückt, nämlich die eurasische Integration.

Eurasien ist ein Megakontinent, der Jahrtausende lang ein einziger Kontinent war. Nach dem Zweiten Weltkrieg und auch schon davor war er völlig zersplittert. Aber es ist an der Zeit, wieder in diese Richtung zu gehen, und ich glaube, daß die besten Köpfe der Welt, in Rußland und in Europa, dieser Idee, die mir sehr am Herzen liegt, zustimmen werden.

Falsche Konflikte durch Angst

Celani: Sie rufen zu einer Erneuerung des sokratischen Denkens in der Außenpolitik auf. Einer der größten Denker im Sinne des sokratischen Gedankens ist Nikolaus von Kues, der eine Methode zur Überwindung politischer Konflikte entwickelte. Er nannte seine Methode „den Zusammenfall der Gegensätze“. Im wesentlichen vertrat er die Ansicht, daß man Konflikte nie auf der Ebene lösen kann, auf der sie entstanden sind.

Diese Methode ist zum Leitkonzept eines internationalen Komitees geworden, der von der Vorsitzenden des internationalen Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, gegründet wurde. Sind Sie mit dieser Methode des Zusammenfalls von Gegensätzen einverstanden?

Arlacchi: Ja, ich stimme zu, aber man muß definieren, was ein vernünftiger Gegensatz ist. Der größte Teil der heutigen Gegensätze ist ein Schwindel. Es wurden Feindschaften geschaffen, die es nicht geben sollte. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist das zum wichtigsten Problem in der internationalen Politik geworden: die Schaffung von Feindschaften, die keinen Grund haben, zu existieren.

Warum gibt es Feindschaft gegen China und Rußland? In der Vergangenheit waren sie Kommunisten, es gab einen totalen, umfassenden Gegensatz zwischen den Systemen usw. Aber warum noch nach dem Fall des Kommunismus, nach der wirtschaftlichen und politischen Öffnung Chinas gegenüber dem Rest der Welt, etc.? Warum?

Weil sie einen Feind brauchen. Es gibt sehr mächtige Interessen, die große Feindschaften schaffen, und ich habe die beiden wichtigsten Konzentrationen dieser Produzenten von Feindschaft identifiziert: erstens der Militär- und Sicherheitskomplex und die Rüstungsindustrie, besonders in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa und anderen Ländern. Und zweitens der Medienkomplex, der Angst braucht, um Zeitungen zu verkaufen, Zuschauer zu haben usw. Sie leben von der Angst – Ängste, die erfunden oder übertrieben werden oder einfach neu zum Leben erweckt werden, um alle möglichen Probleme zu reanimieren.

Ich nenne in meinem Buch drei oder vier Hauptbeispiele für diese Übertreibung und unmotivierte Angst. Eines ist der Terrorismus. Die tatsächliche Auswirkung von Terroristen auf die nationale Politik, aber auch auf die persönliche und kollektive Sicherheit, ist enorm gering. Aber die Angst ist sehr gut für die Rüstungsindustrie und sehr gut für alle, die politisch mit der Angst spekulieren.

Die Einwanderung in Europa ist eine große Angst. Gemessen an den wirklichen Problemen, den wirklichen Auswirkungen der Einwanderung, ist es ein Nichts. Die Auswirkungen der Einwanderung auf die Kriminalität sind nicht das, was die Zeitungen und die Regierung beschreiben; dafür gibt es zahlreiche Beweise. Die Kleinkriminalität geht überall in den Vereinigten Staaten und in Europa zurück, trotz der enormen Zunahme der Einwanderung. Ich zitiere viele andere Quellen, aus denen hervorgeht, daß es einen allgemeinen Rückgang der Gewalt gibt, einen Rückgang nicht nur der internationalen Gewalt, des Krieges zwischen Nationen, sondern auch der Gewalt und der Tötungsdelikte.

Es handelt sich um einen historischen Rückgang, der auf die Tendenz des Fortschritts der Menschheit zurückzuführen ist, und das über einen sehr langen Zeitraum. Es ist eine Tendenz über Jahrtausende, die sehr stark zunimmt. Wir leben also in einer Welt, die zum Besseren verändert werden kann; und wer immer dafür kämpft, steht auf der richtigen Seite der Geschichte. Er ist nicht die Stimme eines Predigers in der Wüste; er ist nicht nur das, was wir eine anima bella nennen, ein Idealist, der an das Gute glaubt und damit glücklich ist. Nein, wir sind die Menschen, die überzeugt sind, daß wir eine bessere, anständigere Welt aufbauen können. Wir stehen auf der richtigen Seite der Geschichte. Aber das steht im Gegensatz zu sehr mächtigen Interessen - das sind die Interessen, die Feinde schaffen und aufbauen und die Angst vor diesen Feinden schüren.