Das Opium in Afghanistan ausrotten:
moderne Landwirtschaft entwickeln, das Land jetzt aufbauen
Interview mit Pino Arlacchi,
ehemaliger Exekutivdirektor des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung
Prof. Pino Arlacchi war Exekutivdirektor des Büros der
Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC),
Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen sowie Berichterstatter des
Europäischen Parlaments für Afghanistan. Dies ist eine bearbeitete Abschrift
seines Interviews, das als Beitrag zur Konferenz des Schiller-Instituts
„Afghanistan: Ein Wendepunkt in der Geschichte nach der gescheiterten Ära der
Regimewechsel“ am 31. Juli 2021 aufgezeichnet wurde. Das Gespräch führte
Claudio Celani.
Claudio Celani: Guten Morgen! Wir sind hier mit
Pino Arlacchi, einer lebenden Legende im Kampf gegen das internationale
Verbrechen. Er war Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen und
verantwortlich für den internationalen Kampf gegen Drogen. Er hat seine
Mission als Mitglied des italienischen Parlaments und des Europäischen
Parlaments fortgesetzt, wo er Berichterstatter für Afghanistan war. Außerdem
hat er viele Regierungen auf der ganzen Welt beraten.
Pino, Sie haben ein Buch geschrieben, das ich gerade lese, es ist auf
Italienisch. Es heißt Gegen die Angst. In diesem Buch sprechen Sie
mehrere Themen an. Eines, das uns heute beschäftigt, ist Afghanistan. Aber wir
werden auch auf viele andere Punkte eingehen, wenn Sie gestatten.
Lassen Sie mich zunächst sagen, die meisten unserer Zuhörer wissen
wahrscheinlich nicht, daß es Ihnen während Ihrer Zeit bei den Vereinten
Nationen gelungen ist, fast die gesamte Opiumproduktion in Afghanistan
auszumerzen. Ist das wahr? Können Sie uns darüber berichten?
Die Ausrottung des Opiums 2001
Pino Arlacchi: Ja, das waren die Taliban, die das unter
unserer Aufsicht und unserem Druck getan haben. Als ich mein Mandat antrat,
reiste ich sofort nach Afghanistan und versuchte, mit ihnen über die
Beseitigung des Rauschgiftanbaus im Land zu verhandeln – sie beherrschten
damals fast das ganze Land –, im Gegenzug für ein langfristiges alternatives
Entwicklungsprogramm für die afghanischen Bauern. Mein Vorschlag war ein
Zehn-Jahres-Programm. Sie schlugen vor, es gleich innerhalb eines Jahr
umzusetzen und im Gegenzug das gesamte Geld des Entwicklungsplans sofort
auszuhändigen.
Dann begannen die langen Verhandlungen mit den Partnern, bei denen es ein
Auf und Ab gab. Irgendwann hatte ich genug von ihrem Verhalten, denn erst
akzeptierten sie das formale Verbot der Drogenproduktion, des Mohnanbaus, im
Land, aber dann fingen sie an, sich ein wenig zu sträuben, und so weiter. An
diesem Punkt bat ich den UN-Sicherheitsrat, mehr Sanktionen zu verhängen, und
wir fingen an, sie ernsthafter unter Druck zu setzen. Im Grunde hatten wir ein
gutes Verhältnis zu ihnen. Sie waren viel vernünftiger, als sie in der Presse
dargestellt wurden.
Nach intensiver Arbeit mit ihnen, indem wir ihnen einerseits halfen und
andererseits Druck ausübten, kamen wir zu diesem Ergebnis. Im Sommer 2001 gab
es fast keine Opiumproduktion mehr in dem Land, weil sie beschlossen, das
Verbot durchzusetzen, das sie zuvor auf unseren Rat hin verhängt hatten.
Leider sind im Oktober desselben Jahres, nach den Ereignissen vom 11.
September 2001, die Vereinigten Staaten in Afghanistan einmarschiert. Und
anstatt unsere Arbeit und unseren Plan fortzusetzen und die Vereinbarung mit
den Taliban über die alternative Entwicklung zu verlängern, entschieden sich
die USA von Anfang an für einen anderen Weg.
Der damalige Verteidigungsminister Rumsfeld verhandelte persönlich, nicht
mit den Taliban, sondern mit den Warlords. Die Vereinigten Staaten
unterstützten sie. Und der Inhalt der Verhandlungen war, daß die USA sich um
die Drogenproduktion nicht scheren würden, im Austausch für die Unterstützung
der Warlords im sog. „Krieg gegen den Terrorismus“ – ohne zu wissen, daß eben
dieselben Leute den Terrorismus dort unterstützten, wo die Vereinigten Staaten
ihn bekämpfen wollten. So verschwand unser Plan in der Versenkung, und in nur
zwei Jahren schnellte die Schlafmohnproduktion in Afghanistan auf ein enormes
Niveau und setzte sich mit einer anderen Dynamik fort, bis heute.
Celani: Wie wirksam war der Plan, den Sie mit der
Taliban-Regierung umgesetzt haben?
Arlacchi: Der erste Schritt des Plans bestand darin, ein
formelles Verbot des Schlafmohns zu erlassen. Weil sie ein bißchen an den
Worten des Korans herumdeutelten, zogen wir ein paar Experten für islamische
Theologie hinzu, die ein klares Urteil gegen den Mohnanbau fällten.
Dann haben wir im Grunde das Verbot für sie formuliert. Und dann begannen
wir, sie bei der Umsetzung unter Druck zu setzen, wobei wir einige Mittel
einsetzten, die wir für die Umsetzung zur Verfügung hatten – zunächst in einem
kleinen Gebiet, nur um ihre Fähigkeiten zu testen, in Kandahar und Umgebung.
Dieser Test verlief nicht schlecht. Und dann haben wir das fortgesetzt, und
wir machten die gleiche Arbeit mit ihren Feinden – mit der Gruppe von Milizen,
die von dem großen Kommandeur der Nordallianz unterstützt wurde. Und zu
unserer Überraschung – wir hatten nicht geglaubt, daß sie unseren Plan jemals
im ganzen Land umsetzen würden – haben sie auch mitgemacht!
Das war also die Prämisse. Wenn es ausreichend internationale Hilfe gegeben
hätte, die zu der Zeit, über die wir hier sprechen, nicht allzu groß war, eine
wirklich kleine Summe – mein ursprünglicher Plan war auf 100 Millionen Dollar
in fünf Jahren veranschlagt, 20 Millionen Dollar im Jahr für die Beseitigung
des Schlafmohns –, wenn sich die internationale Gemeinschaft auch nur ein
bißchen an der Umsetzung des Entwicklungsplans beteiligen würde, dann gäbe es
in Afghanistan keine Opiumproduktion mehr. Der Markt würde einfach
verschwinden.
Und das geschah teilweise in demselben Jahr in Europa, dem Hauptabnehmer
von Schlafmohn – 90% des Schlafmohns, der Heroinproduktion und der
Drogenproduktion Afghanistans gehen nach Europa. Das wirkte sich auf die
Preise aus, und es wurde zum Teil wieder zunichte gemacht durch Lagerstätten,
die Drogenhändler an der Grenze zwischen Afghanistan und Tadschikistan
anlegten. Sie hatten fast 100 Tonnen Rauschgift in Depots an der Grenze
versteckt.
Aber auch das haben wir durch unsere Zusammenarbeit mit der russischen
Raumfahrtbehörde entdeckt. Wir erstellten eine sehr genaue Karte dieser
Drogenlager, die vor allem in Tadschikistan verstreut waren. Und ich habe auch
beim UN-Sicherheitsrat die Genehmigung einer Aktion gegen diese Lagerstätten
beantragt, was aber wegen des vehementen Widerstands vor allem der britischen
Regierung nicht genehmigt wurde.
Die allgemeine Lehre ist aber, daß es möglich ist, die Opiumproduktion zu
beseitigen. Das ist nicht wirklich besonders teuer. Und jetzt – wir sprachen
bisher von der Zeit vor 20 Jahren – ist die Situation genauso wie vor 20
Jahren. Die Amerikaner waren jetzt gezwungen, mit den Taliban zu verhandeln
und ein Abkommen zu schließen. Die Taliban beherrschen wieder den größten Teil
Afghanistans, und der Schlafmohnanbau ist etwas mehr als damals.
Ist es heute wieder möglich?
Celani: Glauben Sie, daß Ihr Plan heute umgesetzt werden
kann? Wie ist die Situation in Afghanistan heute im Vergleich zu vor 20
Jahren?
Arlacchi: Im Inland ist die Situation im Grunde die gleiche.
Die Taliban beherrschen weiter den größten Teil Afghanistans. Auf
internationaler Ebene ist die Lage vielleicht etwas günstiger. Es sind mehr
Akteure beteiligt. Vor 20 Jahren waren die Rolle und das Gewicht Chinas noch
ziemlich unbedeutend. Jetzt ist China ein wichtiger Akteur in der Region. Das
Gewicht der Vereinigten Staaten hat sich durch den Abzug der Truppen und das
Scheitern der Invasion in Afghanistan drastisch verringert. Es gibt noch
andere Akteure, wie die Russen und die anderen Akteure in der Region – die
Länder, die an Afghanistan grenzen –, die Pläne für die Zukunft Afghanistans
schmieden.
Mit den Russen habe ich nach meiner Arbeit in der Europäischen Union, im
Europäischen Parlament versucht, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Die Russen
waren sehr kooperativ. Ich hatte zusammen mit Viktor Iwanow, Russlands
Anti-Drogen-Zar zu der Zeit, einen Plan zur Umsetzung entwickelt. Die Russen
hatten zugestimmt, ihn umzusetzen und zu finanzieren, auch wenn sie von der
Idee der alternativen Entwicklung nicht begeistert waren. Aber ich habe sie
überzeugt, daß das nötig war. Sie wollten ein Abkommen mit der EU, um den Plan
gemeinsam umzusetzen. Aber die EU hatte einfach kein Interesse. Iwanow kam
nach Brüssel; wir sprachen mit der EU-Kommission, dem Parlament usw. Im
Parlament gab es eine grundsätzlich positive Haltung, aber die Kommission
interessierte sich einfach nicht für diesen Vorschlag, obwohl er effektiv
hätte sein können.
Aufbau mit der BRI
Celani: Sie haben China erwähnt. Unterstützen Sie die Rolle
von Chinas Gürtel- und Straßen-Initiative (BRI) für die Zukunft
Afghanistans?
Arlacchi: Ich unterstütze sie voll und ganz. Ich bin mir
sicher, denn der chinesische Plan für die Neue Seidenstraße ist ernst gemeint.
Er wird nun schon seit einigen Jahren umgesetzt. Und da die
Entwicklungsphilosophie des Plans sehr stark ist, glaube ich, daß die
Erfolgschancen jetzt viel größer sind als zu der Zeit, als ich dort war. Es
geht darum, sich ausreichend darauf zu konzentrieren und diesen [Anti-Drogen-]
Plan nicht in Form eines größeren Plans für Afghanistan zu verwässern. Das ist
der wichtigste Punkt, die wichtigste Bedingung für den Erfolg.
Celani: Afghanistan muß durch wirtschaftliche
Entwicklungskorridore mit seinen Nachbarn wie mit dem Rest der Welt verbunden
werden. Sie erwähnen in Ihrem Buch die positiven Auswirkungen der Gürtel- und
Straßen-Initiative bei der Förderung der Konnektivität. Kann die BRI
Afghanistan zu einem positiven kulturellen Knotenpunkt machen?
Arlacchi: Ja, denn es geht nicht nur um Konnektivität. Der
Aufbau der Infrastruktur bedeutet, die Basis für die Wirtschaftsentwicklung zu
schaffen, was parallel zu den Entwicklungsplänen geschehen sollte. Das ist der
Grund, warum es nicht verwässert werden sollte. Bessere Straßen können in
Afghanistan sehr gut funktionieren, denn Afghanistan ist ein klassisches
Transitland für den gesamten Handel zwischen Ost und West. Aber die
Drogenproduktion ist ein ganz spezifisches Problem, das in ganz spezifischen
Gebieten auftritt. Gürtel und Straße sind also in Ordnung, aber das sollte mit
einem sehr zielgerichteten Entwicklungsplan einhergehen: der Beseitigung der
Drogen-/Opiumproduktion usw. in dem Gebiet, in dem diese Produktion
stattfindet. Das betrifft insbesondere das Gebiet von Kandahar sowie Zentral-
und Südafghanistan.
Hilfe zur Entwicklung statt Geld
Celani: Wie viel würde die Umsetzung Ihres Afghanistan-Plans
heute kosten?
Arlacchi: Ich schätze, daß es nicht viel mehr sein wird als
damals, wenn es ein Erfolg sein soll. Die Frage ist, wie viel wir hier für
diesen Plan ausgeben, und wie viel von dieser Investition tatsächlich in den
betroffenen Gebieten ankommt. Das ist der wichtigste Punkt. Ich habe nämlich
bei der Erstellung des Plans mit der EU-Strategie und der Untersuchung beider
Seiten gelernt, wie die Entwicklungsgelder für Afghanistan fließen, wie sie
umgesetzt werden und welche Auswirkungen sie haben.
Ich habe gelernt, daß der größte Teil dieser Gelder – sagen wir 80% – nicht
in Afghanistan ankommt, daß sie das Ziel nicht erreichen. Das meiste dieser
Gelder geht verloren. Verloren nicht nur wegen der enormen Korruption der
afghanischen Regierung. Das ist die gängige Erklärung. Sie mag wahr sein, und
wir erfahren das immer wieder. Aber was nicht gesagt wird und was die Leute
nicht wissen – und ich habe in meinem Plan versucht, das zu berücksichtigen:
daß 80% dieser Gelder Afghanistan nicht erreichen. Die EU gibt mehr oder
weniger eine Milliarde Euro pro Jahr für Entwicklungshilfe in Afghanistan aus,
die Vereinigten Staaten etwas mehr. Aber nicht mehr als 200-300 Millionen
Dollar fließen wirklich in den Bau von Schulen, Straßen, öffentlichen
Einrichtungen usw.
Hinzu kommt die Korruption der afghanischen Regierung, die, sagen wir,
nicht mehr als 40 oder 50% dieser Summe ausmacht. Das Geld, das tatsächlich
dort ankommt, ist also sehr wenig. Deshalb erfordert die Umsetzung dieses
Plans eine Agentur für die Umsetzung, ein System für die Umsetzung, das die
meisten dieser Gegenindikationen aus dem Weg räumt.
Große Lügen über China und Rußland
Celani: In Ihrem Buch schreiben Sie, das Haupthindernis für
Frieden und Entwicklung sei „die große Lüge“, wie Sie es nennen. China und
Rußland sind die Opfer dieser „großen Lüge“. Können Sie diesen Gedanken näher
erläutern?
Arlacchi: Das größte Mißverständnis über China - die größte
Lüge – besteht darin, China als eine aggressive Macht zu beschreiben, eine
Supermacht, die das Gleiche tun will wie die USA in den letzten 60 Jahren:
China als das neue Amerika, die neue dominante Supermacht, was gar nicht
Chinas Absicht ist und was völlig außerhalb seines kulturellen, politischen
und sogar wirtschaftlichen Profils liegt.
Das ist der Hauptfehler, der gemacht wird. Man glaubt, daß China, das bald
die führende Wirtschaftsmacht der Welt sein wird, eine große Rüstungsindustrie
aufbauen und praktisch das wiederholen wird, was die USA getan haben.
Militärisch gleichzuziehen und eine auf Gewalt basierende Beziehung zu den
meisten Ländern der Welt anzustreben, ihre Kultur, ihre Institutionen, ihre
Interessen auf der ganzen Welt zu verbreiten – das ist nicht Chinas Plan.
China ist keine expansive Macht. Seine lange Geschichte zeigt, daß China sich
im wesentlichen auf sich selbst konzentriert, und sein Interessensbereich ist
Asien. Was den Rest der Welt angeht, so möchte China mit anderen Weltmächten
in einer multipolaren Welt leben und koexistieren.
China hat ein starkes Bündnis mit Rußland, das ebenfalls Opfer desselben
Mißverständnisses ist. Das moderne Rußland ist das Ergebnis der Auflösung der
Sowjetunion. Das Ende der Sowjetunion ging nicht mit Versuchen einher, die
ehemalige kommunistische Macht in Osteuropa und in den Nachbarländern
auszubauen. Es ging mit einem informellen Pakt für friedliche Koexistenz
einher, demzufolge die NATO sich nicht nach Osten zur russischen Grenze
ausdehnen sollte und Rußland allmählich ein Partner der Europäischen Union und
der europäischen Länder würde.
Es gab einen Moment, vor nicht viel mehr als fünf oder sechs Jahren, da
näherte sich Rußland der NATO als befreundetes Land an. Doch an einem
bestimmten Punkt verwandelte sich dieses friedliche Projekt des Aufbaus einer
besseren und dauerhaften, friedlichen neuen Beziehung zwischen Europa und
Rußland in sein Gegenteil!
Der Fehler, den die Russen machten, war, daß sie nach dem Fall des
Kommunismus keinen formellen Vertrag über Nichtangriff und friedliche
Zusammenarbeit abschlossen. Er war informell. Die NATO expandierte nach Osten
und bedrohte Rußland, das natürlich entsprechend reagierte. Und der Höhepunkt
dieser Krise war die Ukraine-Krise in den Jahren 2012-14, in der es eine große
Auseinandersetzung mit Rußland gab, die völlig unnötig und völkerrechtlich und
politisch völlig ungerechtfertigt war.
Die Ukraine war ein Teil Rußlands, mit der eigenen ukrainischen Sprache,
aber ein großer Teil der Ukraine spricht Russisch. Die Ukraine ist ein Land,
das in seiner Geschichte lange Zeit russisch war. Sich dort einzumischen und
zu versuchen, sich in eine regionale Angelegenheit einzumischen und praktisch
einen Staatsstreich gegen Rußland zu inszenieren, indem man einen demokratisch
gewählten Präsidenten stürzt, der aus der Ukraine fliehen mußte, eine
Regierung einsetzt, die stark von Extremisten mit nationalsozialistischem und
faschistischem Hintergrund beeinflußt ist, und Rußland an seiner Grenze durch
ein großes Land wie die Ukraine weiter provoziert – das war wirklich ein
großer politischer Fehler, an dem die EU unter dem Druck der USA weiter
festhält.
Das Minsker Abkommen hat diesen Zustand eingefroren, aber wir befinden uns
immer noch in einem äußerst anfälligen Gleichgewicht, in dem die EU kein
Interesse daran hat, weiter ohne Rücksicht auf die Fakten eine
unverantwortliche, aggressive Politik gegen Rußland zu verfolgen, anstatt das
zu tun, was langfristig im Interesse der EU und Europas sein sollte, nämlich
eine Einigung, die Schaffung eines einheitlichen Raums des Handels und
möglicherweise irgendwann auch der Politik. Viele dachten, daß Rußland eines
Tages Teil einer größeren Union sein sollte, die Europa und Rußland umfaßt;
wir sprechen hier von der Politik. Das waren Träume aus der Vergangenheit, die
vielleicht wiederbelebt werden sollten und die Politik gegenüber Rußland
völlig umkehren könnten.
Mackinders Geopolitik und die Ukraine
Celani: Sie bezeichnen die Motivation hinter der „großen
Lüge“ als Geopolitik, insbesondere britische Geopolitik. Sie nennen in Ihrem
Buch namentlich Halford Mackinder. Können Sie uns etwas über ihn erzählen?
Arlacchi: Er war ein großer Gelehrter mit kolonialem
Hintergrund. Sein Hauptinteresse galt daher der Frage, wie man die britische
und westliche Vorherrschaft auf der Welt erhalten kann. Er war aber äußerst
scharfsinnig und intelligent. Er erkannte den Hauptpunkt, das Haupthindernis
für den Fortbestand der Vorherrschaft der angelsächsischen und westlichen
Macht. So wollte er die Schaffung einer Spaltung, einer fixen Trennung
zwischen Westeuropa und Rußland. Er sagte: „Wer Osteuropa beherrscht, der
beherrscht die Welt“, was eine Metapher war und bedeutet, daß die Vereinigung
oder Integration dieses Teils Eurasiens um jeden Preis verhindert werden
sollte, insbesondere durch die anglo-amerikanische Macht. Und warum? Weil es
die Vereinigten Staaten an den Rand drängt, die Macht des Vereinigten
Königreichs an den Rand drängt und eine langfristige Tendenz in den
Vordergrund rückt, nämlich die eurasische Integration.
Eurasien ist ein Megakontinent, der Jahrtausende lang ein einziger
Kontinent war. Nach dem Zweiten Weltkrieg und auch schon davor war er völlig
zersplittert. Aber es ist an der Zeit, wieder in diese Richtung zu gehen, und
ich glaube, daß die besten Köpfe der Welt, in Rußland und in Europa, dieser
Idee, die mir sehr am Herzen liegt, zustimmen werden.
Falsche Konflikte durch Angst
Celani: Sie rufen zu einer Erneuerung des sokratischen
Denkens in der Außenpolitik auf. Einer der größten Denker im Sinne des
sokratischen Gedankens ist Nikolaus von Kues, der eine Methode zur Überwindung
politischer Konflikte entwickelte. Er nannte seine Methode „den Zusammenfall
der Gegensätze“. Im wesentlichen vertrat er die Ansicht, daß man Konflikte nie
auf der Ebene lösen kann, auf der sie entstanden sind.
Diese Methode ist zum Leitkonzept eines internationalen Komitees geworden,
der von der Vorsitzenden des internationalen Schiller-Instituts, Helga
Zepp-LaRouche, gegründet wurde. Sind Sie mit dieser Methode des Zusammenfalls
von Gegensätzen einverstanden?
Arlacchi: Ja, ich stimme zu, aber man muß definieren, was ein
vernünftiger Gegensatz ist. Der größte Teil der heutigen Gegensätze ist ein
Schwindel. Es wurden Feindschaften geschaffen, die es nicht geben sollte. Nach
dem Ende des Kalten Krieges ist das zum wichtigsten Problem in der
internationalen Politik geworden: die Schaffung von Feindschaften, die keinen
Grund haben, zu existieren.
Warum gibt es Feindschaft gegen China und Rußland? In der Vergangenheit
waren sie Kommunisten, es gab einen totalen, umfassenden Gegensatz zwischen
den Systemen usw. Aber warum noch nach dem Fall des Kommunismus, nach der
wirtschaftlichen und politischen Öffnung Chinas gegenüber dem Rest der Welt,
etc.? Warum?
Weil sie einen Feind brauchen. Es gibt sehr mächtige Interessen, die große
Feindschaften schaffen, und ich habe die beiden wichtigsten Konzentrationen
dieser Produzenten von Feindschaft identifiziert: erstens der Militär- und
Sicherheitskomplex und die Rüstungsindustrie, besonders in den Vereinigten
Staaten, aber auch in Europa und anderen Ländern. Und zweitens der
Medienkomplex, der Angst braucht, um Zeitungen zu verkaufen, Zuschauer zu
haben usw. Sie leben von der Angst – Ängste, die erfunden oder übertrieben
werden oder einfach neu zum Leben erweckt werden, um alle möglichen Probleme
zu reanimieren.
Ich nenne in meinem Buch drei oder vier Hauptbeispiele für diese
Übertreibung und unmotivierte Angst. Eines ist der Terrorismus. Die
tatsächliche Auswirkung von Terroristen auf die nationale Politik, aber auch
auf die persönliche und kollektive Sicherheit, ist enorm gering. Aber die
Angst ist sehr gut für die Rüstungsindustrie und sehr gut für alle, die
politisch mit der Angst spekulieren.
Die Einwanderung in Europa ist eine große Angst. Gemessen an den wirklichen
Problemen, den wirklichen Auswirkungen der Einwanderung, ist es ein Nichts.
Die Auswirkungen der Einwanderung auf die Kriminalität sind nicht das, was die
Zeitungen und die Regierung beschreiben; dafür gibt es zahlreiche Beweise. Die
Kleinkriminalität geht überall in den Vereinigten Staaten und in Europa
zurück, trotz der enormen Zunahme der Einwanderung. Ich zitiere viele andere
Quellen, aus denen hervorgeht, daß es einen allgemeinen Rückgang der Gewalt
gibt, einen Rückgang nicht nur der internationalen Gewalt, des Krieges
zwischen Nationen, sondern auch der Gewalt und der Tötungsdelikte.
Es handelt sich um einen historischen Rückgang, der auf die Tendenz des
Fortschritts der Menschheit zurückzuführen ist, und das über einen sehr langen
Zeitraum. Es ist eine Tendenz über Jahrtausende, die sehr stark zunimmt. Wir
leben also in einer Welt, die zum Besseren verändert werden kann; und wer
immer dafür kämpft, steht auf der richtigen Seite der Geschichte. Er ist nicht
die Stimme eines Predigers in der Wüste; er ist nicht nur das, was wir eine
anima bella nennen, ein Idealist, der an das Gute glaubt und damit
glücklich ist. Nein, wir sind die Menschen, die überzeugt sind, daß wir eine
bessere, anständigere Welt aufbauen können. Wir stehen auf der richtigen Seite
der Geschichte. Aber das steht im Gegensatz zu sehr mächtigen Interessen - das
sind die Interessen, die Feinde schaffen und aufbauen und die Angst vor diesen
Feinden schüren.
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