Friedrich Schiller Denkmal
Friedrich Schiller



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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Über die Verwendung des Chors in der Politik

Von Diane Sare

Ich denke, mit dieser Konferenz verfolgen wir die Absicht, daß wir nie wieder in eine solche Situation gelangen dürfen. Denn die Welt wurde in einer Weise von Krankheit und Tod heimgesucht, wie es nie hätte geschehen dürfen. Wie bereits oft erwähnt, hat Lyndon LaRouche in den 70er und 80er Jahren genau davor gewarnt. Das Problem war bekannt. Es war daher auch vermeidbar. Aber wir haben es nicht verhindert. In den großen, mächtigen Vereinigten Staaten haben wir inzwischen 35.000 Tote zu beklagen, und weltweit sind mehr als 204.000 Menschen am Coronavirus gestorben. Wenn man weiß, daß etwas passieren wird, was so viele Menschen umbringt – glauben Sie nicht, daß es sinnvoll wäre, etwas zu tun, um es zu verhindern?

Es ist eine Frage der Kultur, warum wir es unterlassen haben zu handeln, und wie wir sicherstellen werden, daß wir nicht noch einmal auf diese Weise versagen. Lassen Sie mich Ihnen einige unangenehme Fragen stellen, über die wir nachdenken müssen, wenn wir wollen, daß die Welt nach dieser Krankheit besser sein wird als die Welt zuvor:

    1. Warum gab es in China im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, Frankreich, Italien und den meisten anderen Nationen so wenige Todesfälle pro Kopf der Bevölkerung?

    2. Wenn Leute davon sprechen, daß man ältere und schwächere Menschen einfach sterben lassen sollte, um „die Wirtschaft offen zu halten“, warum werden diese Leute nicht in staatliche Anstalten für geisteskranke Straftäter gesteckt?

    3. Warum gibt es keine Anstrengungen, um etwas gegen die Situation in den Gefängnissen und Obdachlosenheimen zu unternehmen?

    4. Warum hört man nichts von Anstrengungen, um etwas gegen die Situation der 4,2 Milliarden Menschen auf der Welt zu unternehmen, die keine sanitären Anlagen haben – darunter 2 Millionen Amerikaner?

Als wir den Lockdown in Wuhan gesehen haben, der am 23. Januar begann, wie viele von uns haben sich da vorgestellt, daß wir uns zum Zeitpunkt dieser Konferenz alle in unsere Wohnungen zurückziehen müßten? Wir hätten es besser wissen können und sollen! Viele von uns, die hier versammelt sind, waren zu der Zeit, als Herr LaRouche vor globalen Pandemien warnte, bereits Mitglieder seiner Organisation, und dennoch sind wir jetzt überrascht.

Jeder gibt schnell jemandem die Schuld für diese Krise, aber die Suche nach einem Sündenbock wird uns nur daran hindern, sie zu lösen. Wir täten gut daran, uns an die Bergpredigt zu erinnern, wie sie im Matthäus-Evangelium berichtet wird – und das aus vielen Gründen, aber heute sticht besonders dies hervor:

    Matthäus 7,3: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“

Es lohnt sich, daran zu erinnern, daß Christus uns auch sagt, Gottes Maßstab ist die Vollkommenheit.

    Matthäus 5: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“

Dies ist ein hoher Anspruch, den nur wenige auf sich selbst beziehen, sondern lieber nur auf andere anwenden.

Shakespeare und die Barmherzigkeit

Wir werden nun von Shakespeare über eine damit zusammenhängende Frage hören. Ich möchte Leah De Gruchy vorstellen, eine der Aktivistinnen der wachsenden weltweiten Jugendbewegung. Sie kommt aus New Jersey.

Leah de Gruchy: Hallo zusammen. Vielen Dank, daß Sie heute hier bei uns sind.

Ausgehend von all diesen Fragen und der Idee der Vollkommenheit, die Diane angesprochen hat, möchte ich nun zu der Frage übergehen, die Shakespeare über die Barmherzigkeit stellt. In Shakespeares Stück Der Kaufmann von Venedig befindet sich ein „christlicher“ Kaufmann namens Antonio in einer scheinbar unmöglichen Situation: In dem Bemühen, seinem Freund Bassanio zu helfen, einen Kredit zu bekommen, mit dem er die Hand seiner geliebten Porzia gewinnen könnte, verspricht Antonio, ein buchstäblich aus seinem eigenen Körper herausgeschnittenes Pfund Fleisch als Sicherheit zu hinterlegen, falls er den Kredit, den er sich von dem „jüdischen“ Geldverleiher Shylock leiht, nicht zurückzahlen kann. (Und ich weise auf ihre unterschiedlichen Religionen hin, weil dies ein wesentlicher Spannungspunkt in dem Stück ist, ihr jeweiliger einziger Punkt, der sie sich in ihrem Haß gegeneinander sozusagen gerechtfertigt fühlen läßt. Man könnte es mit der gleichen Spannung vergleichen, die wir heute zwischen „Demokratie und Kommunismus“ haben.) Antonio stimmt also einem solchen Geschäft zu, im Vertrauen darauf, daß seine Handelsschiffe gewinnbringend zurückkehren werden, so daß die Aussicht auf die Einlösung seines Pfandes eine zwar reale, aber unwahrscheinliche Möglichkeit darstellt. Doch kurz nachdem er erfahren hat, daß er alle seine Schiffe auf See verloren hat, und damit jede Hoffnung auf Rückzahlung, wird Antonio vor das Gericht in Venedig gebracht, wo Shylock begierig darauf wartet, seine Kaution einzutreiben.

In diesem Moment trifft die als Mann verkleidete Porzia ein und überbringt als Rechtsgelehrter eine Botschaft, die von Shakespeare selbst kommen könnte. In diesem Fall übernimmt Porzia die Rolle eines altgriechischen Chors, um zu uns allen zu sprechen, nicht nur über diesen Rechtsstreit, sondern über alle Fälle, in denen jemand Unrecht getan hat und die andere Person die Gelegenheit hat, Gnade zu zeigen. Deshalb fragt Shylock Porzia, nachdem ihm gesagt wurde, daß er barmherzig sein müsse: „Wodurch genötigt, muß ich? Sagt mir das.“ Darauf folgt die Antwort von Porzia (siehe nebenstehenden Kasten).

Porzia.

Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang.
Sie träufelt wie des Himmels milder Regen
Zur Erde unter ihr; zwiefach gesegnet:
Sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt;
Am mächtigsten in Mächtgen, zieret sie
Den Fürsten auf dem Thron mehr als die Krone.
Das Zepter zeigt die weltliche Gewalt,
Das Attribut der Würd’ und Majestät,
Worin die Furcht und Scheu der Kön’ge sitzt.
Doch Gnad ist über diese Zeptermacht,
Sie thronet in dem Herzen der Monarchen,
Sie ist ein Attribut der Gottheit selbst,
Und ird’sche Macht kommt göttlicher am nächsten,
Wenn Gnade bei dem Recht steht. Darum, Jude,
Suchst du um Recht schon an, erwäge dies:
Daß nach dem Lauf des Rechtes unser keiner
Zum Heile käm; wir beten all um Gnade,
Und dies Gebet muß uns der Gnade Taten
Auch üben lehren. Dies hab ich gesagt,
Um deine Forderung des Rechts zu mildern;
Wenn du darauf bestehst, so muß Venedigs
Gestrenger Hof durchaus dem Kaufmann dort
Zum Nachteil einen Spruch tun.
( – Shakespeare, Kaufmann von Venedig,
     4. Aufzug, 1. Szene)

Was können wir, ohne eine gründliche literarische Analyse der Rede vorzunehmen, daraus mitnehmen?

Erstens: Das besondere der Barmherzigkeit wird nicht erzwungen. Niemand kann jemanden zur Barmherzigkeit zwingen. Kein Gesetz der Erde kann jemanden zwingen, zu lieben. Es muß die eigene Entscheidung sein.

Zweitens, daß wir unserem Schöpfer am ähnlichsten werden, wenn wir barmherzig sind und sowohl uns selbst als auch unsere Schuldner segnen.

Und drittens, daß es keinen einzigen unter uns gibt, der nicht der Barmherzigkeit bedarf, und daß ohne Barmherzigkeit keiner von uns erlöst werden wird.

Es ist auch erwähnenswert, daß Porzia in dieser Szene anerkennt, daß der vorliegende barbarische Fall, in dem ein Mann ein Pfund Menschenfleisch als Einlösung eines Kredits verlangt, vor diesem Gericht in Venedig rechtmäßig ist. Der Kredit war rechtmäßig. Es gab kein menschliches Gesetz, das dies untersagt hätte. Aber wegen seiner barbarischen Natur verstößt es gegen das Naturrecht.

Shakespeare will uns also offenbar zeigen, daß schreckliche Dinge, barbarische Dinge, völlig legal unter dem Schutz eines von Menschen geschaffenen Rechtssystems begangen werden können. Zum Beispiel die Demontage des öffentlichen Gesundheitssystems. Zum Beispiel die Triage von Menschen, die sich am wenigsten wehren können. Wie die Weigerung, die Infrastruktur im Entwicklungssektor und unsere eigene Infrastruktur zu entwickeln, und stattdessen die Wall Street zu retten. Oder, Gott möge es verhüten, wie ein Nuklearkrieg mit China. All das wäre „legal“ – aber moralisch verwerflich.

Hatte Shylock nun Grund, verärgert zu sein? Auf jeden Fall! Die sogenannten „Christen“ spuckten Shylock an, beschimpften ihn, verleumdeten ihn – machten ihn zu ihrem Feind. In der berühmten Rede aus dem dritten Akt, Szene 1, fragt Shylock: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?“ – wodurch wir nur einen flüchtigen Blick auf sein Leiden bekommen. Doch was schließt Shylock aus dieser Behandlung? Seine Rede geht weiter: „Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? Sind wir euch in allen Dingen ähnlich, so wollen wir's euch auch darin gleich tun. Wenn ein Jude einen Christen beleidigt, was ist seine Demut? Rache. Wenn ein Christ einen Juden beleidigt, was muß seine Geduld sein nach christlichem Vorbild? Nu, Rache. Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben, und es muß schlimm hergehen, oder ich will es meinen Meistern zuvortun.“

Was hingegen heißt uns Gott? Daß wir vollkommen sind. Daß wir unsere Feinde lieben, vergeben, ihnen trotz Mißhandlungen dienen und sogar bis zum Tod gehorchen, damit wir denen, die sich uns widersetzen, zeigen können, wer Gott ist, und unsere Übeltäter als die Betrüger und Lügner und Heuchler entlarven, die sie sind. Aber Shylock ist in dem Moment, in dem seine Menschlichkeit am meisten gefordert ist, so sehr von Haß und Rachegefühlen geblendet, daß er nicht besser ist als die sogenannten Christen, die er verachtet; und nachdem er sich geweigert hat, Barmherzigkeit zu zeigen, wird ihm selbst keine Barmherzigkeit gezeigt, und er verliert am Ende weit mehr, als er sich jemals vorstellen konnte.

Ich denke, viele werden sagen: „Aber diese Sache mit der Barmherzigkeit ist nur für Christen“, oder: „Aber das gilt doch nur für den einzelne, nicht für die Außen- und Innenpolitik.“ Stimmt das aber? Was glauben wir, was Regierung ist? Akzeptieren wir einfach, daß Regierung immer ein notwendiges Übel sein wird, mit dem wir leben müssen, obwohl wir davon ausgehen, daß es uns auf Schritt und Tritt hintergeht? In einer konstitutionellen Republik, die aus dem Volk, durch das Volk und für das Volk besteht, ist es da nicht notwendig, daß wir alle, auch wenn wir kein offizielles Amt bekleiden, Teil dieser Regierung sind? Wenn also die Regierung nicht richtig funktioniert, dann funktionieren auch wir nicht richtig, und umgekehrt, wenn wir nicht richtig funktionieren, dann funktioniert die Regierung sicherlich nicht richtig.

Was ist aber der Grundsatz, der das ordnungsgemäße Funktionieren bestimmt? Welches ist der Auftrag oder die Absicht, die uns zu einem ordnungsgemäßen Funktionieren führt? Das ist nicht nur die Verfassung. Die Verfassung steht auf dem Papier, sie gibt es, zumindest dem Namen nach, während unser Land völlig degeneriert ist. Wenn wir hoffen wollen, das Land wieder in Ordnung zu bringen, dann müssen wir jeder einzeln die Verantwortung dafür übernehmen, uns selbst in den alten Zustand zu versetzen. Und das ist genau die Stelle, an der die klassische Kultur ins Spiel kommt. Nicht, indem man jemanden zur Liebe zwingt, was ohnehin unmöglich wäre, sondern indem man jemanden dazu veranlaßt, den Weg der Agape zu beschreiten.

Die Beziehung zu den Generationen vor und nach uns

Diane Sare: Kehren wir zu den eingangs gestellten Fragen zurück: Was hat uns daran gehindert, zu handeln, um diese Tragödie abzuwenden, die bereits so viele Menschenleben gefordert hat und noch viele weitere in diesem Augenblick fordert?

Was mir zu fehlen scheint, ist nicht einfach eine Unfähigkeit, mit Blick auf die Zukunft zu handeln, sondern eine falsche Vorstellung von der Beziehung zwischen dem einzelnen und der Menschheit. Als ich darüber nachdachte, kam mir eine seltsame Ironie in den Sinn: Selbst jemand mit einem monströs großen Ego muß an andere Menschen denken – braucht tatsächlich andere Menschen –, denn das Ego kann nur dadurch genährt werden, daß man sich fragt, was die anderen Menschen von einem denken.

Das ist nicht die Art von Beziehung, die meines Erachtens jeder von uns zu seinen Mitmenschen anstreben sollten. Eigentlich ist die Beziehung, die wir zur Menschheit haben, am gesündesten, wenn es eine Beziehung zu den Menschen ist, die nicht mehr und noch nicht am Leben sind. Auf diese Weise können wir der Verführung des Zeitgeistes entgehen. Lyndon LaRouche pflegte die Menschen aufzuziehen, die meinen, daß die Geschichte am Tag ihrer Geburt begann und am Tag ihres Todes endet. Er selbst sagte uns, er sei quasi mehr als 2000 Jahre alt, und aufgrund seiner Empfindung von Unsterblichkeit sollte ich wohl in der Gegenwart von ihm sprechen.

Lyn lebte gleichzeitig in der Vergangenheit wie auch in der Zukunft, weshalb er mit soviel Leidenschaft sprach – wir alle erinnern uns an sein Internetforum vom 25. Juli 2007 und seine prononcierte Stimme, als er sagte: „Es gibt keine Möglichkeit eines Nicht-Zusammenbruchs – keine!“ Er sah den Zusammenbruch vor seinem geistigen Auge deutlicher als die Menschen, die vor ihm saßen. Es überrascht ihn nicht, daß wir alle von unseren abgelegenen, sozial distanzierten Orten aus miteinander sprechen. Er sagte uns, daß dies so kommen würde.

Wie können wir diese gleiche informierte Leidenschaft entwickeln – die Einsicht, den Balken aus unserem eigenen Auge zu entfernen, der uns daran hindert, das zu sehen, was wir sehen müssen, um handeln zu können?

Zum Glück gibt es Beethoven, um uns zu helfen. Seine Absicht drückt sich klar in seiner Musik aus. Ich möchte hier nur mit dem bösartigen Spruch aufräumen, Genie grenze an Wahnsinn oder sei völlig willkürlich und nicht das Produkt einer Absicht. Deswegen möchte ich Ihnen einige Worte von Beethoven selbst mitteilen. Er schreibt in einem Brief an den tschechischen Komponisten Johann Nepomuk Kanka:

    „Sie wissen selbst, der Geist der wirkende darf nicht an die elenden Bedürfnisse gefesselt werden, und mir wird dadurch noch manches mich selbst beglückendes für das leben entzogen, selbst meinem Hange und meiner mir selbst gemachten Pflicht vermittelst meiner Kunst für die bedürftige Menschheit zu handeln, habe ich müßen und muß ich noch schranken sezen.“ –

Und in einem Brief an die Gräfin Marie Erdoedy:

    „Wie ich aus ihren lezten Zeilen an mich sehe, leiden sie wohl noch sehr meine liebe Freundin, Es ist nicht anders mit dem Menschen, auch hier soll sich seine Kraft bewähren d.H. auszuhalten ohne zu murren u. seine Nichtigkeit zu fühlen u. wieder seine Vollkommenheit zu erreichen, deren unß der höchste dadurch würdigen will.“

Drückt das nicht genau die Qualität der Selbstveränderung aus, die jetzt von uns verlangt wird?

Lyn hat uns einmal gesagt, daß man, bevor man in eine Schlacht zieht, zuerst mit sich selbst kämpfen muß – denn wenn wir nicht physisch gefesselt sind – und Lyn hat sich nicht einmal davon abhalten lassen –, was hindert uns daran, nach der Wahrheit zu handeln? Zum einen gibt es offensichtlich die Verpflichtung, die Wahrheit zu kennen, was eine gewisse Demut erfordert, und dann, wenn wir den Mut gehabt haben, unsere eigenen Fehler zu überprüfen, können wir den Mut finden, uns gegen die Fehler anderer zu stellen. Wir selbst sind unser größtes Hindernis.

Die Kraft, unsere Schwächen zu ergründen, kommt nicht aus dem Ego oder in der Absonderung zu uns, sondern aus einer Liebe zur Menschheit in Zukunft und Vergangenheit, die uns dazu zwingt, das Unbehagen zu ertragen, unsere Unvollkommenheiten zuzugeben. Das erfordert Stärke; Wut und Härte erscheinen zwar stark, weil sie einschüchternd wirken, doch sie versuchen einzuschüchtern, weil sie schwach und von Angst getrieben sind. Demut empfindet der Bösartige, der sich oft durch eigene Arroganz selbst zerstört, als Schwäche.

So sind wir alle in dieser Zeit in eine relative Isolation gezwungen, aber wir dürfen uns nicht von der Zukunft der Menschheit isolieren, und die nahe Zukunft ist heikel, doch die nahe Zukunft, d.h. die Zeitschiene unseres Handelns, wenn wir diese Pandemie hinter uns lassen, wird die Zukunft für die kommenden Jahrhunderte bestimmen.

Schillers Sicht der Rolle des Chores

Im Beethoven-Jahr hat sich der Chor des New Yorker Schiller-Instituts die Missa Solemnis, Beethovens großartiges Spätwerk, als sein Apollo-Projekt gewählt.

Das ist eines der anspruchsvollsten Chorwerke, das je komponiert wurde, aber wir finden, daß es die Mühe wert ist, auch wenn wir in unseren virtuellen Proben nie wirklich hören können, wie wir klingen (das erinnert mich an Keats' Wort: „ungehörte Klänge sind süßer...“)

Wie Schiller in Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie schrieb:

    „Um dem Chor sein Recht anzuthun, muß man sich also von der wirklichen Bühne auf eine mögliche versetzen; aber das muß man überall, wo man zu etwas Höherm gelangen will.“

Inmitten des Grauens von Leichen, die in Massengräbern in Parks rund um New York City verscharrt werden, und von Pflegeheimen, die zusätzliche Räume in Leichenhallen umwandeln, und inmitten des Grauens und Leidens von Krankenschwestern und Ärzten, die viele lange Schichten ohne Schlaf und Schutzkleidung arbeiten, dient der Chor in unserem täglichen Leben genau dem Zweck, den Schiller ihm im Drama zuschreibt:

    „So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er Ruhe in die Handlung – aber die schöne und hohe Ruhe, die der Charakter eines edeln Kunstwerkes sein muß. Denn das Gemüth des Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten; es soll kein Raub der Eindrücke sein, sondern sich immer klar und heiter von den Rührungen scheiden, die es erleidet. Was das gemeine Urtheil an dem Chor zu tadeln pflegt, daß er die Täuschung aufhebe, daß er die Gewalt der Affecte breche, das gereicht ihm zu seiner höchsten Empfehlung; denn eben diese blinde Gewalt der Affecte ist es, die der wahre Künstler vermeidet, diese Täuschung ist es, die er zu erregen verschmäht. Wenn die Schläge, womit die Tragödie unser Herz trifft, ohne Unterbrechung auf einander folgten, so würde das Leiden über die Thätigkeit siegen. Wir würden uns mit dem Stoffe vermengen und nicht mehr über demselben schweben. Dadurch, daß der Chor die Theile auseinander hält und zwischen die Passionen mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt, gibt er uns unsere Freiheit zurück, die im Sturm der Affecte verloren gehen würde.“

Beethovens Messen, sowohl die Messe in C als auch die Missa Solemnis, verwenden in noch stärkerem Maße und auf erstaunliche Weise das Prinzip des Chors. Anders als in früheren Oratorien, in denen die Solisten in vielen Passagen ganz allein singen, und auch der Chor allein ist, sind die Solisten und der Chor hier völlig miteinander verflochten – man kann den Unterschied zwischen ihnen klar erkennen, aber die Beziehung zwischen Solisten und Chor erlaubt es dem Chor, auf die Solisten in einer kontinuierlichen Entwicklung von Komplexität und Schönheit zu reagieren.

Beethovens Absicht in seinen Messen, wie auch Bachs Absicht durch die Verwendung des „Chors“ in Form von Chorälen in der Matthäus- und Johannes-Passion, ist es, die Identität der Gemeinde zur Teilhabe an Gott zu erheben. Beethoven verbrachte vier Jahre mit der Komposition der Missa Solemnis, weil er mit sich rang, wie er die Bedeutung der Messe in der Musik am besten wiedergeben könnte. Der Text der sogenannten „Lateinischen Messe“ beginnt mit den griechischen Worten „Kyrie Eleison“ (Herr, erbarme dich), denn mit diesen Worten entfernen wir den Balken von unserem Auge, der uns daran hindert, die Wahrheit zu sehen. Beethovens Vertonung dieser Worte in seinen beiden Messen, insbesondere natürlich in der Missa Solemnis, beseelt uns mit der Qualität der Empfindung, die wir als kriegerische Engel in diese heilige Mission für die Unsterblichkeit der Menschheit einbringen müssen.