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"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
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Die Rolle der „freien Erfindung“ bei schöpferischen Entdeckungen

Von Jean-Pierre Luminet

Der Autor ist Astrophysiker und emeritierter Forscher des Nationalen Zentrums für Wissenschaftliche Forschung in Paris.

Hallo, in diesem kurzen Vortrag möchte ich über freie Erfindungen sprechen und darüber, wie die derzeitige wissenschaftliche Methode, wenn man sie für bare Münze nimmt, dazu neigt, diese zu bremsen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb der Dichter und Philosoph Paul Valéry in seinen Notizbüchern: „Ereignisse sind der Schaum der Dinge. Aber es ist das Meer, das mich interessiert.“

Dieser Aphorismus läßt einen schwindeln. Es sagt alles darüber aus, was der Physiker unter dem dürren Gerippe der Gleichungen sucht – ebenso wie das, was der Dichter unter dem samtenen Mantel seiner Worte sucht. Als Symbol der Tiefe ist das Meer der Verwahrer des Wesentlichen. Aber was ist das Wesentliche? Für den gewöhnlichen Wissenschaftler ist es die „Realität“ der Welt – wenn der Ausdruck überhaupt etwas bedeutet. Aber ist für den theoretischen Physiker, ebenso wie für den Künstler und den Schöpferischen im allgemeinen, nicht die wirkliche Realität der Welt das Leben des Geistes, der sich von den flüchtigen Effekten der äußeren Ereignisse distanziert?

In Valérys Gedanken ist die Tiefe des Meereslebens reich genug, um auch die zartesten und flüchtigsten Manifestationen der Erfahrung aufzunehmen. „Ein kleiner Schaum, ein offenes Ereignis in der Dunkelheit des Meeres“, stellte er fest. Der Kontrast zwischen dem Meer und dem Schaum drückt die auffällige Diskrepanz aus zwischen der Einheit, die mit Dauerhaftigkeit assoziiert wird, und dem Zufall, der mit Vergänglichkeit assoziiert wird. In anderen Zusammenhängen, wie dem, an dem ich gerade arbeite – nämlich in der modernen theoretischen Physik, die versucht, die Gesetze der Gravitation und der Quantenmechanik zu vereinheitlichen –, drückt sie vielmehr eine Komplementarität aus, bei der die Bestandteile nicht mehr ungeordnet, sondern kohärent sind.

Ich nehme als Beispiel eine brillante Hypothese, die der große Physiker John Wheeler in den 1950er Jahren aufgestellt hat. Die kreativsten Köpfe arbeiten oft nach dem Analogieprinzip. Wheeler stellte sich vor, daß auf der mikroskopischen Ebene die Geometrie der Raumzeit nicht fixiert ist, sondern sich ständig ändert und Quantenfluktuationen unterliegt. Man kann sie mit der Oberfläche eines aufgewühlten Meeres vergleichen. Von weit oben gesehen erscheint das Meer glatt. In niedrigeren Höhen beginnen wir Bewegungen wahrzunehmen, die seine Oberfläche aufrühren, welche jedoch kontinuierlich bleibt. Doch bei genauer Betrachtung ist das Meer unruhig, fragmentiert, diskontinuierlich. Wellen steigen auf, brechen, schleudern Wassertropfen hoch, die zurückfallen. In ähnlicher Weise würde die Raumzeit nach unseren Maßstäben glatt erscheinen, aber wenn man sie auf ultra-mikroskopischer Ebene untersucht, würde ihr „Schaum“ in Form von flüchtigen Ereignissen wahrnehmbar werden: Elementarteilchen, Mikro-Wurmlöcher, sogar ganze Universen. So wie die hydrodynamische Turbulenz durch Kavitation Blasen erzeugt, so würde die raumzeitliche Turbulenz aus dem Quantenvakuum dauerhaft das entstehen lassen, was uns als die Realität der Welt erscheint.

All dies ist überaus poetisch, das bedeutet aber nicht, daß es physikalisch korrekt ist. 50 Jahre nach seiner Formulierung wird über Wheelers Konzept des Quantenschaums immer noch diskutiert; es haben sich andere Ansätze zur „Quantengravitation“ entwickelt, mit Vorschlägen für verschiedene Sichtweisen der Raumzeit auf ihrer tiefsten Ebene – dem Meer – und ihrer Manifestationen auf allen Größen- und Energieskalen – dem Schaum. Auch wenn noch keine von ihnen zu einer kohärenten Beschreibung geführt hat, so haben diese verschiedenen Theorien doch zumindest das Verdienst, zu zeigen, daß die wissenschaftliche Erforschung der Natur ein gewaltiges Abenteuer des Geistes ist. Die Fragmente der Wirklichkeit unter dem Schaum der Sterne zu entziffern, bedeutet, sich von den Grenzen des Sichtbaren zu lösen, sich von irreführenden Darstellungen zu befreien, ohne jemals zu vergessen, daß die Früchte des wissenschaftlichen Ansatzes unterirdisch von anderen Disziplinen des menschlichen Geistes wie Kunst, Poesie und Philosophie gespeist werden.

Damit sind wir wieder bei Paul Valéry. Die Voraussicht, die aus seinen Worten spricht, sollte uns nicht überraschen, wenn wir seinen Werdegang kennen. Valéry war neugierig auf alles und interessierte sich besonders dafür, wie große Wissenschaftler geistig arbeiten. Er selbst war voller Ideen, und um sich keine entgehen zu lassen, füllte er rastlos die Seiten seines Notizbuches. In den 1920er Jahren traf er mehrmals mit Albert Einstein zusammen, den er bewunderte und der ihn bewunderte. Der immer zu Späßen aufgelegte Vater der Relativitätstheorie erinnerte sich später an eine öffentliche Debatte am Collège de France mit Paul Valéry und dem Philosophen Henri Bergson: „In der Diskussion fragte mich Valéry, ob ich nachts aufstehe, um eine Idee aufzuschreiben. Ich antwortete: Aber man hat doch nur ein oder zwei Ideen im Leben.“

Als Einstein seinerseits einen anderen Dichter, Saint-John Perse, nach seiner Arbeitsweise befragte, war er mit der Erklärung, die er erhielt, nicht unzufrieden: „Aber für den Gelehrten ist es dasselbe. Der Mechanismus der Entdeckung ist weder logisch noch intellektuell... Es beginnt mit einem Sprung der Phantasie.“ Saint-John Perse nannte dies 1960 in seiner Nobelpreisrede für Literatur das „gemeinsame Mysterium“.

Erfahrung und Methoden gewinnen noch keine Erkenntnis

Einstein hat später von der ursprüngliche Rolle der Phantasie bei der wissenschaftlichen Kreativität gesprochen. In diesem Stadium ist es faszinierend, die eingegangene Wette zu betrachten, daß die freie Erfindung auf die grundlegenden Konzepte stößt, die uns erlauben, die Welt zu interpretieren. Schon Einstein vertrat die Auffassung, daß die Prinzipien einer globalen Theorie nicht allein aus der Erfahrung bzw. aus der wissenschaftlichen Methode im strengen Sinne des Wortes gewonnen werden können. Einstein sagt: „Wir wissen heute, daß die Wissenschaft nicht allein aus der unmittelbaren Erfahrung entstehen kann und daß es unmöglich ist, beim Bau des Wissenschaftsgebäudes auf die freie Erfindung zu verzichten, deren Nützlichkeit wir nur im Nachhinein im Lichte unserer Erfahrung überprüfen können. Meine Überzeugung ist, daß wir in der Lage sind, dank rein mathematischer Konstruktionen die Konzepte und die sie verbindenden Gesetze zu finden, welche die Türen zum Verständnis von Naturphänomenen öffnen können.“

Um die Frage der poetischen Aussage Paul Valérys aufzugreifen, in ihren Möglichkeiten, aber auch in ihren Grenzen angesichts des Feldes von Gleichungen, die sich unserer gewöhnlichen Sprache entziehen: Dies muß der Zweck einer wahren Wissenschaftskultur sein - ganz im Gegensatz zu der schädlichen Mode der Zeit, die eher darin besteht, Tabellen mit Zahlen, Formeln, Codes und irreführenden Statistiken anzuhäufen und sie jungen Menschen einzutrichtern, die etwas lernen und verstehen wollen. Wahre Wissenschaftskultur muß mutig anerkennen, daß die Welt, die uns umgibt und formt, ein schwindelerregendes Geheimnis ist, und versuchen, es weniger unaussprechlich zu machen. Indem sie diese Fremdartigkeit akzeptiert, wird es für die Öffentlichkeit und insbesondere für junge Menschen von Nutzen sein, ein paar feste Steine aufzusammeln, zumindest für einen kurzen Augenblick, in dem sich das Universum weiterbewegt. Wie der große Johannes Kepler 1605 an einen Astronomenkollegen schrieb: „Wir kommen voran, indem wir uns in einem Traum vorwärts tasten, ganz ähnlich wie weise, aber unreife Kinder.“

Wie andere große Erneuerer in der Wissenschafts- und Ideengeschichte bietet Kepler ein lehrreiches Vorbild dafür, wie man die Welt ohne vorgefaßte Meinung konzipieren kann. 1975 veröffentlichte der Philosoph Paul Feyerabend sein Werk Wider den Methodenzwang, dessen Hauptthese, gestützt durch zahlreiche historische Beispiele, lautet, daß die klassische wissenschaftliche Methode nicht nur nicht der einzig gültige Weg zur Erlangung von Wissen ist, sondern daß sie, zu strikt angewandt, Kreativität und Innovation behindert. Die Wissenschaft sei ein im wesentlichen anarchistisches Unterfangen in dem Sinne, daß der Ursprung unserer Ideen von überall her kommen kann, aus Kunst, Literatur, Poesie, Philosophie und sogar aus der Mythologie. Ein theoretischer Anarchismus sei daher menschlicher und eher dazu geeignet, den Fortschritt zu fördern als Doktrinen, die auf Recht und Ordnung basieren. Ich würde jedoch nicht so weit gehen wie die extremen Feyerabend-Schüler, die sagen „alles ist gut“, „alles ist gleichwertig“, was zu einem absoluten Kulturrelativismus führt, der zum Beispiel ein Lied von Schubert und einen Song von Madonna auf die gleiche Stufe stellt. Wie in allen Dingen besteht die Weisheit darin, den richtigen Weg zwischen beiden zu wählen.

Was jedoch die Befürworter der Methode zum Ausschluß jeder anderen Form des Denkens angeht, warum sollte man ignorieren oder vorgeben zu ignorieren, daß die schöpferische Phantasie von Wissenschaftlern unbestreitbar auf mythische Bilder zurückgreift? Zum Beispiel erscheinen die in allen Kulturen bekannten Erzeugungsprinzipien – das Begehren, der Baum, das Ei, das Wasser, die Leere, das Chaos – eindeutig als Archetypen des kosmogonischen Denkens, nämlich primitive und universelle Symbole, die zum „kollektiven Unbewußten“ gehören, um Jungs Terminologie zu verwenden. Der Begriff Archetyp wurde erstmals von Kepler verwendet: „Die Spuren der Geometrie prägen sich in der Welt ein, als sei die Geometrie eine Art Archetyp der Welt“, schrieb er 1606 in seiner Abhandlung De stella nova (Über den neuen Stern im Fuß des Schlangenträgers).

Es stimmt, daß die Werke der großen Denker auf dem Gebiet der Fundamentalphysik selten den philosophischen Hintergrund offenbaren, auf dem sie beruhen. Beim ersten Lesen ist man gewöhnlich versucht, ein Werk als extrem rationalistisch und als grundsätzlich skeptisch zu betrachten. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter dem kritischen Geist des erfinderischen Physikers oft ein intensives Interesse an den dunklen Regionen der Wirklichkeit und der menschlichen Phantasie, die dem Begriff der Vernunft scheinbar entgegengesetzt sind. Das erkenntnistheoretische Werk von Wolfgang Pauli, einem der Väter der Quantenmechanik, wendet Skepsis auf die Skepsis selbst an, um aufzuspüren, wie Wissen aufgebaut ist, bevor wir zu einem rationalen Verständnis der Dinge gelangen.

Der Einfluß archetypischer Vorstellungen auf die Bildung wissenschaftlicher Theorien ist unbestreitbar. Wie wir bei Albert Einsteins Aussagen gesehen haben, kann sich der theoretische Physiker nicht mit einer rein empirischen Sichtweise zufrieden geben, der zufolge Naturgesetze nur aus experimentellen Material nach einem strengen Protokoll aufgestellt werden können. Vielmehr geht es um die Frage, welche Rolle Entscheidungen spielen, die man im Beobachtungsprozeß trifft, und um Rolle der Intuition. Die Brücke, die das anfänglich ungeordnete experimentelle Material verbindet, liegt in Urbildern, die im kollektiven Unterbewußten vorexistieren. Diese Archetypen sind nicht mit rational formulierten Ideen verbunden. Vielmehr handelt es sich um Formen oder Bilder mit einem starken emotionalen Gehalt, die nicht unmittelbar vom Denken festgehalten werden. Der „Fall Kepler“, dem Pauli ein Buch gewidmet hat, ist in dieser Hinsicht beispielhaft. Pauli benutzt das Beispiel von Keplers Übernahme des kopernikanischen Systems; laut Pauli übte das kopernikanische System Überzeugungskraft auf Kepler aus, weil er darin eine Übereinstimmung mit dem Dreieinigkeitssymbol, dem Archetypus des christlichen Denkens, fand.

Diese Konzeption der Naturerkenntnis, nach der die einheitliche Ordnung des Kosmos zunächst nicht rational formulierbar ist, weist uns im Kern auf Platon und den Neoplatonismus von Plotin und Proclus, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Bei Platon sind die Urbilder unveränderlich und existieren unabhängig vom menschlichen Bewußtsein (Platon verwendet den Begriff „Seele“). Immanuel Kants Anwendung einer Apriori-Form der Sinneswahrnehmung auf den geometrischen Raum ist ebenso zu beanstanden, denn dies führte ihn zu dem Argument, daß Euklids Postulate dem menschlichen Denken inhärent seien.

Die Archetypen der Psychologie sind jedoch nicht fixiert; sie können sich bezogen auf einen gegebenen Wissensstand weiterentwickeln. Der Kosmologe versucht, die unbestimmte Weite des Raumes mit Hilfe eines geometrischen Modells zu beschreiben. Mehrere Modelle sind möglich: die Beschreibung, zu der man gelangt, hängt insbesondere vom Schärfegrad ab, mit dem der physikalische Raum analysiert wird. Tatsächlich war der euklidische Raum lange Zeit der einzige den Mathematikern bekannte Raum. (Das war auch noch zu Kants Zeit der Fall, bevor die nicht-euklidischen Geometrien entdeckt wurden.) Darüber hinaus hat der Mensch eine instinktive Neigung, seine Sinneswahrnehmungen im Sinne der euklidischen Geometrie zu interpretieren. Man hat gezeigt, daß die halbkreisförmigen Bogengänge in unserem Innenohr, wo die Winkelbewegung des Kopfes in drei senkrechten Ebenen erfaßt wird, im Geist einen Raum mit lokal euklidischer Struktur hervorrufen. Es bedurfte also einer besonderen geistigen Anstrengung, um zu verstehen, daß Euklids Postulate nicht die einzig möglichen sind. Die Aussage, daß der Raum drei oder elf Dimensionen hat, daß er endlich oder unendlich, flach oder gekrümmt, einfach oder vielfach verbunden ist, ist keineswegs offensichtlich, ja sogar kontra-intuitiv! In diesem Fall muß die Idee notwendigerweise der rationalen Erfahrung vorausgehen.

Wir müssen daher in der Tat das, was ich als freie theoretische Erfindung bezeichnet habe, in den Mittelpunkt des Entdeckungsprozesses stellen. Wie der Dichter Novalis schrieb: „Theorien sind wie Angeln: nur wer sie auswirft, kann etwas fangen!“

Seit mehreren Jahrzehnten gehört es zu den Aufgaben des Schiller-Instituts, diese fruchtbare Denkweise über die Welt zu fördern, und ich freue mich, daß ich sie mit Ihnen teilen konnte. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.