Die Notwendigkeit der Klassischen Kunst oder
„Woher kommt es, daß wir noch Barbaren sind?“
Von Helga Zepp-LaRouche
Die Vorsitzende des Schiller-Instituts eröffnete am 26.
April den zweiten Tag der Internetkonferenz mit dem folgenden Vortrag.
Angesichts des großen internationalen Publikums, das an dieser Konferenz
teilnimmt, sollte ich vielleicht ein paar Worte dazu sagen, warum das
Schiller-Institut nach dem großen deutschen Dichter der Freiheit benannt ist.
Der Hauptgrund liegt in seinem wunderbaren Menschenbild, das mit der Idee
verbunden ist, daß sich jeder Mensch prinzipiell zu einer schönen Seele
entwickeln kann, laut Schiller einem Menschen, für den Freiheit und
Notwendigkeit, Pflicht und Leidenschaft in eins fallen – ein Zustand, der nur
auf das Genie zutrifft. Und das Schiller-Institut stimmt auch absolut mit
Schiller überein, daß der Weg, wie dieses Ziel zu erreichen sei, in der
ästhetischen Erziehung liegt, die in dem Moment erfolgreich ist, wenn sie als
Zweck verfolgt wird.
Ich verdanke es meinen Deutschlehrern, daß sie in mir die Begeisterung für
Schillers Begriff der schönen Seele, sein Konzept des Erhabenen und sein hohes
Ideal der Kunst geweckt haben, und damit Gedanken, die mir ganz persönlich
immer wieder einen Schlüssel zu innerer Kraft und der Selbständigkeit des
Denkens gegeben haben. Ich betrachte es als eine glückliche Fügung, daß ich in
der Erziehung zuerst das Ideal schöner Menschlichkeit kennengelernt habe, und
mich erst danach – gewappnet durch diese Vision, was der Mensch sein kann –
mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt habe.
Mein verstorbener Ehemann Lyndon LaRouche und ich teilten die Überzeugung,
daß die moralische Überlebensfähigkeit der Menschheit von ihrem Vermögen
abhängt, sich in ihrem Denken zu einer Ebene zu entwickeln, die derjenigen der
klassischen Kunst entspricht. Ich habe diese Überzeugung in vielen Vorträgen
und Reden oft geäußert, und hatte oftmals den Eindruck, daß die meisten
Menschen dies für eine mehr oder weniger ausgefallene Meinung meinerseits
hielten. In den letzten Wochen jedoch erhielt diese Sichtweise eine
Bestätigung aus einer ganz, ganz praktischen Perspektive. Nicht wenige Leute
reagierten auf die von einigen Staaten wegen der Coronavirus- Pandemie
verordneten Ausgangs- oder Kontaktsperren mit dem gesteigerten Ausleben ihrer
hedonistischen Impulse, mit „Fluchten“ an den Strand oder in die Berge, und
junge Leute feierten sogenannte „Corona-Parties“ oder sehnen sich nach der
Wiedereröffnung von Clubs und Tatoo-Läden, vollkommen gleichgültig gegenüber
den Auswirkungen, die solches Verhalten auf den Gesamtverlauf der Pandemie und
das Leben vieler anderer Menschen haben kann.
Friedrich Schiller hatte wie viele seiner Zeitgenossen die Anfangsphase der
Französischen Revolution in der Hoffnung verfolgt, daß sie den Geist der
Amerikanischen Revolution nach Europa bringen würde, er wurde 1792 sogar von
der französischen Nationalversammlung mit der französischen Ehrenbürgerschaft
ausgestattet. Nachdem der Jakobinerterror jedoch das Ruder übernommen hatte,
wandte er sich mit Entsetzen ab. In den Ästhetischen Briefen, in denen
er als Antwort auf die Entwicklungen in Frankreich das Konzept der
ästhetischen Erziehung weiterentwickelte, stellte er die Frage: „Woher kommt
es, daß wir noch Barbaren sind?“, und im fünften dieser Briefe beschreibt er
den Zustand seiner Zeitgenossen, den er im Spiegelbild der heutigen Gegenwart
noch übertroffen finden würde:
„In seinen Taten malt sich der Mensch, und welche Gestalt ist es, die sich
in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet! Hier Verwilderung, dort Erschlaffung:
die zwei Äußersten des menschlichen Verfalls, beide in einem Zeitraum
vereinigt!
In den niederen und zahlreicheren Klassen stellen sich uns rohe gesetzlose
Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln
und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen… Die
losgebundene Gesellschaft, anstatt aufwärts in das organische Leben zu eilen,
fällt in das Elementarreich zurück.
Auf der anderen Seite geben uns die zivilisierten Klassen den noch
widrigeren Anblick der Schlaffheit und einer Depravation des Charakters, die
desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist. Ich erinnere mich
nicht mehr, welcher alte oder neue Philosoph die Bemerkung machte, daß das
Edlere in seiner Zerstörung das Abscheulichere sei.“
Schiller beantwortet dieses Dilemma mit der These, daß jede Verbesserung im
Politischen nur durch die ästhetische Erziehung – die Veredelung des
Charakters des einzelnen – zustande kommen kann. Im neunten Brief definiert er
die schöne Kunst als den Bereich, der den Menschen zu den neuen Räumen des
Denken und Fühlens führen kann, die ihn über Barbarei und Erschlaffung
erheben.
Wie Konfuzius war Schiller der Auffassung, daß man die Menschen in ihrer
Muße, wenn sie von den Bürden des Alltags befreit sind, spielerisch auf die
höhere Ebene der schönen Künste heben müsse, daß sie in dem Augenblick, in dem
sie sich auf die Kreativität des Komponisten, des Malers, des Dichters
einlassen, die Domäne ihrer gewöhnlichen Begehren verlassen und zumindest in
dem Augenblick der Versenkung in das Kunstwerk an etwas Größerem teilnehmen,
was die Ebene der Sinnlichkeit überschreitet. Deshalb bestand Schiller darauf,
daß Kunst nur dann diesen Namen verdiene, wenn sie schön sei, weil nur die
Schönheit, als ein Begriff der sowohl der Vernunft entspricht als auch die
Sinnlichkeit anspricht, den Geist mit den Emotionen versöhnen, also die
Emotionen auf die Ebene der Vernunft empor entwickeln könne.
Schiller vertrat diese Ansicht schon in einer seiner frühen Schriften, der
Theosophie des Julius, wo er sagt:
„Alle Geister werden angezogen von Vollkommenheit. Alle – es gibt hier
Verirrungen, aber keine einzige Ausnahme – alle streben nach dem Zustand der
höchsten freien Äußerung ihrer Kräfte, alle besitzen den gemeinschaftlichen
Trieb, ihre Tätigkeit auszudehnen, alles an sich zu ziehen, in sich zu
versammeln, sich eigen zu machen, was sie als gut, als vortrefflich, als
reizend erkennen. Anschauung des Schönen, des Wahren, des Vortrefflichen, ist
augenblickliche Besitznehmung dieser Eigenschaften. Welchen Zustand wir
wahrnehmen, in diesen treten wir selbst. In dem Augenblick, wo wir sie uns
denken, sind wir Eigentümer einer Tugend, Urheber einer Handlung, Erfinder
einer Wahrheit, Inhaber einer Glückseligkeit. Wir selber werden das empfundene
Objekt.“
Wir werden selber das empfundene Objekt – in dieser Einsicht lag auch
Platons Warnung, daß Kinder auf keinen Fall die Tragödien der großen Dichter
der griechischen Antike anschauen dürften, weil ihr kindlicher Geist nicht
gewappnet sei für die dort zutage kommenden Themen, wie Nemesis, Rache und
Verhängnis. Schiller bestand sogar darauf, daß der Künstler sich zum höchsten
Ideal der Menschheit veredeln müsse, ehe er es wagen dürfe, sein Publikum zu
rühren – so sehr war er sich der tiefgehenden Wirkung der Kunst bewußt, im
Guten, wie im Schlechten. Wilhelm von Humboldt schrieb nach Schillers Tod in
seinem Aufsatz Über Schiller und den Gang seiner
Geistesentwicklung:
„Über den Begriff der Schönheit, über das Ästhetische im Schaffen und
Handeln, also über die Grundlagen aller Kunst so wie über die Kunst selbst,
enthalten diese Arbeiten alles Wesentliche auf eine Weise, über die niemals
möglich sein wird, hinauszugehen... Niemals vorher sind diese Materien so
rein, so vollständig und lichtvoll abgehandelt worden. Es war aber damit
unendlich viel nicht bloß für die sichere Scheidung der Begriffe, sondern auch
für die ästhetische und sittliche Bildung gewonnen. Kunst und Dichtung waren
unmittelbar an das Edelste im Menschen geknüpft, dargestellt als dasjenige,
woran er erst zum Bewußtsein der ihm innewohnenden, über die Endlichkeit
hinaus strebenden Natur erwacht.“
Haben wir in der Gegenwart diese Empfänglichkeit für diese Dimension der
menschlichen Identität verloren – jene Instanz, in der das individuelle Leben
des einzelnen an die höheren Ziele der Menschheit geknüpft ist? Ist es so, daß
die komplexen transzendenten Kreationen klassischer Kunst, die ebendies
bewerkstelligt, zu einem vergangenen Reich Orplid gehören, und die Gegenwart
den Zuschauersportarten und Schönheitssalons gehört?
Vielleicht gibt es jedoch eine hoffnungsvollere Aussicht. Während der
Corona- Ausgangssperren ergaben sich an vielen Orten der Welt spontane
Manifestation eines tieferen Bedürfnisses nach klassischer Kunst. Menschen in
Italien, Frankreich, Deutschland und anderen Ländern begannen spontan, von
ihren Balkonen Verdi und Beethoven zu singen oder auf ihrem Instrument zu
spielen. Und vielleicht setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß nach
dieser Pandemie, die uns ohne Zweifel noch eine Weile begleiten wird, nichts
mehr so sein wird wie vorher. Auf jeden Fall wird sie uns eine Gesinnung
abverlangen, die sich am klarsten bei Schillers Begriff des Erhabenen finden
läßt, die, wie Schiller sagt, zwar nicht unsere schwache physische Existenz
schützt, wohl aber uns moralisch sicher machen kann.
Nutzen wir also diese Zeit voller beispielloser Herausforderungen, um uns
tiefer als je zuvor mit den Werken der besten klassischen Kunst zu
beschäftigen, und durch den Dialog zwischen den größten Kompositionen aller
Kulturen dieser Welt die Basis für eine neue Renaissance der Klassik zu
schaffen, die die Essenz des neuen Paradigma ist, das dieser Krise folgen muß.
Denn es ist wahr, was Schiller in der Einführung zur Braut von Messina
sagt:
„Die wahre Kunst aber hat es nicht bloß auf ein vorübergehendes Spiel
abgesehen; es ist ihr Ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen
augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in
der Tat frei zu machen, und dieses dadurch, daß sie eine Kraft in ihm erweckt,
übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher Stoff auf
uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu
rücken, in ein freies Werk unseres Geistes zu verwandeln und das Materielle
durch Ideen zu beherrschen.“
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