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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Die revolutionäre Denkmethode des Nikolaus von Kues

Von Helga Zepp-LaRouche

Bei der Internetkonferenz des Schiller-Instituts hielt Helga Zepp-LaRouche, die Gründerin und Vorsitzende des Instituts, am 12. Dezember die folgende Rede.

Hallo, guten Abend oder guten Nachmittag, je nachdem, wo Sie sind. Als wir uns entschlossen, diese Konferenz kurz nach der US-Wahl abzuhalten, haben wir gewissermaßen vorweggenommen, daß dies ein sehr gefährlicher Moment in der Geschichte sein würde, und wir haben den Titel der Konferenz „Eine Welt auf der Grundlage der Vernunft schaffen“ genannt. Das mag weit hergeholt klingen, aber diese Konferenz soll nicht nur akademisch die aufgeworfenen Fragen diskutieren, sondern sie dient als ein Appell an alle Institutionen, Regierungen, gewählte Volksvertreter, Menschen guten Willens, dem Schiller-Institut zu helfen, eine internationale Allianz von Menschen zu organisieren, die in diese gegenwärtige Situation eingreifen. Denn Lösungen sind da. Es ist durchaus möglich, aus jeder der Krisen einen Ausweg zu finden. Aber das erfordert, daß die Menschen aktiv werden und als Staatsbürger handeln.

Nun, wenn man sich die Welt anschaut, können viele Menschen leicht anfangen zu verzweifeln, denn wenn man an das Sprichwort denkt, „Wen die Götter vernichten wollen, den treiben sie zuerst in den Wahnsinn“, dann findet man an vielen Ecken ein Echo davon. Und es ist auch ganz klar, daß man sich ernsthaft fragen kann: Ist die Menschheit moralisch fähig, zu überleben? Denn das Verhalten vieler Institutionen und auch Menschen scheint manchmal das Gegenteil zu sagen.

Die Kombination von Krisen ist wirklich beispiellos. Lassen Sie mich nur einige von ihnen ansprechen.

Wir haben eine Pandemie. Diese Pandemie wurde in mehreren asiatischen Ländern relativ gut gehandhabt, aber in den Vereinigten Staaten, in Europa und auch in vielen Entwicklungsländern ist sie völlig außer Kontrolle geraten. Allein am 10. Dezember lag die Zahl der Neuinfektionen in den Vereinigten Staaten bei 217.729 neuen Fällen. In einer Woche, vom 3. bis 9. Dezember, starben dort 16.850 Menschen. In Deutschland, das am Anfang relativ gut dastand, gab es am 11. Dezember, also gestern, 27.217 neue Fälle, es ist völlig außer Kontrolle, 524 Todesfälle an einem Tag. Und die Landesregierungen und die Bundesregierung sprechen von der Möglichkeit einer kompletten, totalen Abriegelung, noch vor Weihnachten, dann bis ins neue Jahr hinein.

Das hätte nicht so sein müssen, denn wenn man das getan hätte, was sich als effektive Methode erwiesen hat, nämlich allgemeine Tests, Kontaktverfolgung unter Verwendung von Digitalisierung und moderner Technologie, und dann Menschen in Quarantäne zu schicken – dann hätte man das unter Kontrolle bringen können, aber das geschieht immer noch nicht.

Zu der COVID-Krise kommt noch eine Hungersnot hinzu, das Welternährungsprogramm spricht von einer Hungersnot „biblischen Ausmaßes“, was bedeutet, daß wenn nichts Dramatisches dagegen unternommen wird, im nächsten Jahr 270 Millionen Menschen verhungern könnten. Und offensichtlich könnte dies sehr schnell behoben werden, auch durch die Rettung der Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten und Europa und anderen sogenannten fortgeschrittenen Ländern und die Verdoppelung der Nahrungsmittelproduktion.

Dies ist offensichtlich nur das sichtbarste Ende der eigentlichen Krise, die darin besteht, daß das System kollabiert: Das Finanzsystem ist hoffnungslos bankrott, und all die Billionen, die von der Europäischen Zentralbank hineingepumpt wurden, insgesamt 1,85 Billionen Euro, hauptsächlich durch ein Pandemie-Notkaufprogramm, und von der Federal Reserve irgendwo zwischen 6 und 7 Billionen Dollar: dies alles dient dazu, das bankrotte System zu retten, in die Realwirtschaft fließen kaum Investitionen.

Und zusätzlich zu diesem andauernden Zusammenbruch, der nicht zu Ende ist, gibt es die wirklich wahnsinnigen Bemühungen der Europäischen Union, einen „Green Deal“ durchzusetzen. Sie haben sich gerade gestern getroffen und beschlossen, den CO2-Ausstoß bis 2030 von bisher geplanten 40% auf sogar 55% zu reduzieren. Das Gleiche wird man mit dem Green New Deal in den Vereinigten Staaten versuchen, wenn Biden der neue Präsident wird. Das ist der größte Irrsinn, denn es würde bedeuten, daß man eine kollabierende Wirtschaft weiter schwächt, indem man die Richtung aller Investitionen nur in grüne Technologien vorgibt – und so kann man moderne Industriegesellschaften nicht aufrechterhalten.

Die europäischen und amerikanischen Volkswirtschaften brechen ein, im letzten Jahr um durchschnittlich 10%, während z.B. China bereits im dritten Quartal, nachdem sie sich sehr gut von der COVID-Krise erholt haben, eine Wachstumsrate von 4,9% hatte, und im Monat November sind die chinesischen Exporte um durchschnittlich 25% gestiegen.

Konfrontation gegen China und Rußland

Das ist einer der Gründe für die absolut hysterische Kampagne gegen China. Denn was wir sehen, ist der Zusammenbruch des alten Paradigmas, des neoliberalen Systems, das, was das sogenannte „westliche“ Finanzsystem, das transatlantische System ausgemacht hat. Deshalb hält [US-Außenminister] Pompeo eine Rede nach der anderen und hat damit eine antichinesische Hysterie ausgelöst, die weit über den McCarthyismus hinausgeht. Er hat gerade in Georgia gesprochen und gesagt, daß jeder chinesische Student und Professor in den Vereinigten Staaten ein chinesischer Spion ist.

Sehr gefährlich ist auch, daß [Marshall] Billingslea, der Sonderbeauftragte des Präsidenten für Rüstungskontrolle, am 17. November eine Rede vor dem National Institute of Public Policy gehalten hat, in der er im Grunde genommen nur gegen Rußland und China wetterte. Er sagte, man könne Rußland bei der Rüstungskontrolle nicht trauen, China sei für die Auslösung der Coronavirus-Pandemie auf der ganzen Welt verantwortlich, und Rußland würde eine nukleare Doktrin für den frühzeitigen Einsatz von Atomwaffen vorantreiben, mit der Strategie „eskalieren, um zu gewinnen“.

Diese Behauptung ist eine komplette Lüge. Es ist eigentlich genau das, was die gegenwärtige NATO-Doktrin besagt, aber sie behaupten, daß Rußland einen Plan hat, die NATO anzugreifen und dabei auf die Kapitulation der NATO zu setzen. Billingslea sagte in dieser Rede auch, daß er der Trump-Administration oder Präsident Trump persönlich rät, die Reagan-Gorbatschow-Erklärung, daß niemand einen Atomkrieg gewinnen kann, nicht länger zu bekräftigen.

Aus diesem Grund hat der russische Außenminister Lawrow in der letzten Zeit mehrfach gewarnt, es sei eine sehr gefährliche Illusion, einen begrenzten Atomkrieg gewinnen zu können. Und wie viele andere Experten, u.a. von der Federation of American Scientists, gewarnt haben, gibt es so etwas wie einen „begrenzten Atomkrieg“ nicht, denn es liegt in der Natur von Atomwaffen, daß alle eingesetzt werden, sobald man eine einsetzt.

Billingslea beschuldigte China auch, sein Atomwaffenarsenal hinter einer „Großen Mauer der Geheimhaltung“ aufzubauen. Nun, die Realität ist, während sowohl die Vereinigten Staaten als auch Rußland, soweit ich weiß, irgendwo zwischen 6000 und 7000 Atomraketen haben, hat China ganze 290. Und angesichts der Tatsache, daß es diese kontinuierliche Anti-China-Kampagne gibt, fühlen sie sich dort natürlich gezwungen, ihr Atomwaffenarsenal aufbauen zu müssen. Es entsteht eine Dynamik, in der es eine Verhärtung in China gibt, das ist ganz klar – wie das Sprichwort sagt: Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es zurück. Man befindet sich also in einer Eskalationsspirale, die extrem gefährlich ist. Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, sagte, das alles sei nur ein Vorwand für die USA, ihre Mittel- und Kurzstrecken-Atomraketen zu modernisieren.

Es ist eine Ironie, daß die Trump-Administration nur fünf Tage vor dieser wütenden Rede von Billingslea eine Anfrage der Federation of American Scientists verweigert hatte, die Zahl ihrer Atomsprengköpfe zu veröffentlichen. Früher, bis 2018, haben sie das getan, aber jetzt nicht mehr. Und Hans Kristensen [von der Federation] meinte, Billingsleas Anschuldigungen gegen China wären viel glaubwürdiger, wenn die Vereinigten Staaten ihre Zahlen in dieser Hinsicht offenlegten.

Es gibt also eine unglaubliche Situation an all diesen Fronten. Und denken wir daran, was wir im letzten Panel besprochen haben, die unglaublichen Ereignisse in den Vereinigten Staaten: die fünf Jahre dauernden Operationen gegen Trump, zuerst als Kandidat, dann in der gesamten Zeit seiner Präsidentschaft; Russiagate, das nicht bewiesen werden konnte; Impeachment, das auf Lügen basierte; und jetzt schließlich der versuchte oder tatsächliche Betrug bei der Wahl – und eine unglaubliche Zensur durch die großen Fernsehsender, die einseitig den Wahlsieger küren, und durch die sozialen Medien, die Inhalte zensieren! Man hat also eine Situation, die wirklich außer Kontrolle geraten ist. Und deshalb sollten wir einen Schritt zurücktreten und überlegen: Wie können wir einen anderen Denkansatz entwickeln? Denn ich denke, das ist die dringendste Frage, und der entsprechende Titel dieser Konferenz ist die „Koinzidenz der Gegensätze“.

Ideologien hinterfragen

Ich möchte zurückgehen zu dem, was mein verstorbener Mann Lyndon LaRouche in jedem Land, das er je bereiste, betont hat: Er riet den Menschen, vor allem den jungen Leuten, daß sie anfangen sollten, über ihre jeweilige Ideologie nachzudenken. Denn wenn man in den Vereinigten Staaten ist, kann man sehr einfach erkennen, daß die Menschen in Europa anders denken, in jedem europäischen Land denkt man anders; die Menschen in Lateinamerika denken anders. Aber wenn man in seinem Land ist, denkt man nicht viel darüber nach; man hält alles für selbstverständlich. Und Lyndon LaRouche ist berühmt dafür – Sie können das überprüfen, indem Sie seine vielen Bücher lesen, was Sie eine ganze Weile beschäftigen wird –, daß er sich sehr darum bemüht hat, den Menschen eine Methode an die Hand zu geben, wie man sich seiner eigenen Denkweise bewußt werden kann.

Wir erleben gerade jetzt als Teil dieser zivilisatorischen Zusammenbruchskrise eine echte Krise in der Methode des Denkens. Es herrscht eine enorme Verwirrung der Meinungen, und das hat nach dem Ausbruch der Pandemie einen absoluten Krisenpunkt erreicht, wo Leute, die bis dahin ziemlich rational waren, in die wildesten Interpretationen und Verschwörungstheorien verfielen und versuchten, sich etwas zu erklären, was offensichtlich sehr beängstigend ist. Nun aber stellen die meisten Menschen die axiomatische Basis ihrer Ansichten nicht in Frage. Sie halten sie für selbstverständliche Wahrheiten, für die einzig wahre Wahrheit.

Wenn man eine erkenntnistheoretische Untersuchung dieser Gegensätze vornimmt, stellt man fest, daß sie oft auf der Grundlage von Nominalismus gebildet werden – Menschen verbeißen sich in ein bestimmtes Wort und tun so, als würde das alles erklären - oder von Empirismus oder Positivismus. Schlußfolgerungen ziehen sie als Ergebnis von Reduktionismus und Deduktionismus, und bei der Analyse betrachten sie die Welt durch eine konkave Brille: Sie projizieren die Landkarte des eigenen Geistes und der eigenen Überzeugungen und Absichten auf die vermeintliche Sicht des anderen.

Man sieht das heute deutlich: Es ist typisch für die Leute, die z.B. das vermeintliche geopolitische Interesse der EU gegen das von Rußland, China und den USA abgrenzen, oder für die Kreise, die China imperiale Absichten vorwerfen, die sie selbst haben. Dabei kommt jeder, der dies nüchtern untersucht, zu dem Schluß, daß China mit seinem Entwicklungsmodell nicht nur die extreme Armut in China selbst beseitigt hat - gerade vor zwei Wochen haben sie das vollendet, und China hat 850 Millionen seiner Menschen aus der Armut befreit, in eine große, wachsende Mittelschicht -, sondern daß es dieses Entwicklungsmodell auch den Entwicklungsländern anbietet, was die imperialen Absichten der Ankläger herausfordert.

Wie ich schon sagte, das übergreifende Thema dieser Konferenz ist das Konzept der Coincidentia Oppositorum, das Zusammenfallen der Gegensätze. Dieses Konzept wurde von Nikolaus von Kues entwickelt, dem bedeutendsten Denker im Europa des 15. Jahrhunderts, der als erster die Prinzipien des modernen souveränen Nationalstaates entwickelte, der mit der Zustimmung der Regierten regiert, wo es eine reziproke Beziehung zwischen Regierung, Volksvertretern und Regierten geben muß.

Die cusanische Denkmethode

Er ist auch der Vater der modernen Naturwissenschaft. Er entwickelte eine neue Methode des Denkens, mit ganz neuen Gedanken, und er sagte sehr selbstbewußt, daß er etwas vorschlägt, was noch kein Mensch zuvor gedacht hatte. Und diese Methode liegt auch allen philosophischen Schriften und der wirtschaftswissenschaftlichen Methode meines verstorbenen Mannes Lyndon LaRouches und seiner physikalischen Ökonomie zugrunde.

Es ist im wesentlichen die Idee, daß die menschliche Vernunft die Fähigkeit hat, eine Lösung auf einer völlig anderen und höheren Ebene zu definieren als die, auf der all die Konflikte und Widersprüche entstanden sind. Es geht um die Fähigkeit, ein Eins zu denken, das von höherer Größe und Macht ist als das Viele. Wenn man seinen Geist trainiert, so zu denken, hat man den unfehlbaren Schlüssel zur Kreativität, und man kann diese Denkweise auf praktisch alle Bereiche des Denkens anwenden.

Um sich der Koinzidenz von Gegensätzen anzunähern, muß man mit einer Ablehnung der aristotelischen Methode beginnen. Aristoteles sagt, wenn etwas A ist, kann es nicht gleichzeitig B sein. Aber die Koinzidenz ist auch nicht A plus B, geteilt durch zwei, oder irgendeine andere algebraische oder arithmetische Berechnung. Nikolaus entwickelte dieses Konzept in mehreren seiner Schriften, aber am ausführlichsten in der De Docta Ignorantia (Über die gelehrte Unwissenheit), und diese wurde sofort von dem Heidelberger Professor und Scholastiker Johannes Wenck in einer Abhandlung De Ignota Litteratura (Der unwissende Gelehrte) angegriffen. Nikolaus antwortete darauf einige Jahre später, weil er diese Schrift nicht gleich erhielt, in einer kleinen Schrift, die ich allen empfehle, Apologia Doctae Ignorantiae (Verteidigung der gelehrten Unwissenheit). Darin beklagt er, daß heute – also zu der Zeit - die aristotelische Tradition vorherrsche, die das Zusammenfallen von Gegensätzen als Häresie wertet, weil diese Schule diesen Ansatz als etwas ihren Intentionen ganz Entgegengesetztes vollständig ablehne. Diese Intentionen waren eigentlich oligarchischer Natur, was er dort nicht sagt, aber darum ging es. Deshalb, sagte Cusa, wäre es ein Wunder, und es würde ihre Denkschule auf den Kopf stellen, wenn sie Aristoteles aufgeben und zu einer höheren Perspektive gelangen würden.

Im Gegensatz zur aristotelischen Methode, die sich in den Kampf zwischen Gegensätzen verstrickt, betrachtet die Sichtweise der Koinzidenz der Gegensätze den Vorgang von einer höheren Ebene aus. Dies wurde in dem kurzen Video angesprochen, das sie am Anfang [der Konferenz] gesehen haben, wo ich begründe, warum Lyndon LaRouches gesammelte Werke veröffentlicht werden müssen: Die Sicht der Koinzidenz ist so, als betrachte man das Geschehen von einem hohen Turm aus. Von dort sieht man den Jäger, die Gejagten und den Prozeß der Jagd. Das verschafft einem einen ganz anderen Sichtpunkt, als wenn man selbst der Jäger oder der Gejagte ist oder ständig mit der Nase am Boden herumläuft.

Auf diese Ebene des Denkens zu gelangen, bedarf jedoch einer enormen Anstrengung. Man kann es nicht einfach anknipsen, es ist ein intellektueller Kampf. Aber wenn man das bewältigt, hat man die Kraft, sich Bereiche zu eröffnen, die sonst völlig verschlossen wären. Nikolaus verweist darauf, wie Denker wie Avicenna auf die negative Theologie zurückgegriffen haben, um den Verstand aus der Gewohnheit herauszuholen, sich an von der Sinnesgewißheit gelieferten Scheinwahrheiten festzuklammern. Aber das scharfsinnigste, sagt Cusa, war Platos Argument im Parmenides-Dialog, der vielleicht der anspruchsvollste aller Dialoge Platos ist.

Platons Parmenides-Dialog

Parmenides war der Anführer der von der Methode her reduktionistischen Eleatischen Schule, die lehrte, daß das Wesen der Dinge nur durch den Denkprozeß erreicht werden könne, ohne irgendeinen Bezug zu materiellen Dingen. Aber dieses Wesentliche müsse von strengster Einfachheit sein, ohne jede Vielheit und Vielfalt, vor allem ohne jede Veränderung und Bewegung. Alle von den Sinnen gegebene Mannigfaltigkeit und die dadurch angedeutete Veränderung seien nur Schein, sagte Parmenides, bloße Illusion, daher könne Mannigfaltigkeit und Veränderung nie zum Wesen gehören oder daran teilhaben.

Im Dialog verlockt Platon nun Parmenides dazu, genau dieses eklatante Paradox seines Denkens aufzudecken, nämlich daß er das Prinzip der Veränderung ausgelassen hat.

In der von Platon begründeten Tradition ist diese „Veränderung“ allerdings nicht die lineare Ausdehnung eines euklidischen Raumes, sondern die kontinuierliche Abfolge neuer axiomatisch-revolutionärer Entdeckungen, was zu einer verschachtelten Reihe von Entdeckungen universeller physikalischer Prinzipien führt, die das Wissen über das physikalische Universum vertiefen und die schöpferischen Kräfte aller Menschen vervollkommnen, denen dieser Fortschritt vermittelt wird. Nikolaus sagt an einer Stelle, daß durch diese Bildung jeder Mensch die Entwicklung des gesamten Universums bis zu diesem Punkt in seinem Geist nachvollzieht. Dieser Mikrokosmos des Geistes, der sich mit dem Makrokosmos – dem Universum – in Übereinstimmung befindet, versetzt jeden Menschen potentiell in die Lage, vorausschauend zu wissen, was die nächste Entdeckung sein muß, um den gesetzmäßigen Prozeß der Schöpfung fortzusetzen.

Das ist sehr wichtig, weil dies engstens mit dem Konzept der relativen potentiellen Bevölkerungsdichte zusammenhängt, das Lyndon LaRouche entwickelt hat, da es uns ebenfalls einen Maßstab für die notwendige nächste Entdeckung liefert.

Für Platon ist jede einzelne solche Erkenntnis das Ergebnis einer entsprechenden Entdeckung, die der menschliche Geist auf „intuitive“ Weise hervorbringen kann. Deshalb betonte auch Einstein: „Phantasie ist wichtiger als Wissen. Wissen ist begrenzt, Phantasie aber umfaßt die ganze Welt.“ Sie regt den Fortschritt an und bringt die Evolution hervor.

Platons Antwort auf Parmenides ist daher sein ontologischer Begriff des Werdens als der Fähigkeit des menschlichen Geistes, ständig solche Hypothesen zu erzeugen, oder die Hypothese der höheren Hypothese, in der jene allumfassende Veränderung das Eine ist, das auf einer höheren Ebene das Viele einschließt.

Die Quadratur des Kreises

Dieselbe Denkmethode wandte Nikolaus an, als er ein Problem löste, das viele Denker und Mathematiker seit der Antike schlaflos gelassen hatte, nämlich das Problem der Quadratur des Kreises. Archimedes, ein früherer Mathematiker, hatte versucht, das Problem mit der Methode der Erschöpfung zu lösen, indem er eine immer größere Anzahl von Vielecken auf dem Kreis ein- und umschrieb. Die irrige Annahme ist, daß die Umfänge der beiden Polygone irgendwann mit dem Kreis zusammenfallen. Auf diese Weise fand Archimedes zwar eine brauchbare Annäherung an die Zahl Pi (π), aber in Wirklichkeit war das Problem nicht gelöst. Denn Cusa sagt, je mehr Ecken ein Vieleck hat, desto weiter entfernt es sich vom Kreis.

Es bedurfte Cusas revolutionärer Denkweise, um das Problem der Quadratur des Kreises zu lösen, indem er deutlich machte, daß ein Kreis nicht durch eine Geometrie konstruiert werden kann, die auf der axiomatischen Annahme von selbstevidenten Punkten und Geraden beruht, sondern daß man eine axiomatisch andere Geometrie anwenden muß, bei der die Kreiswirkung die euklidische selbstevidente Annahme des Punktes und der Geraden ersetzt. Dieses sogenannte isoperimetrische Prinzip vom Primat des Kreises macht deutlich, daß man vom Kreis zum Vieleck gelangen kann, aber nicht umgekehrt. Auf diese Weise lieferte Nikolaus den schlüssigen Beweis für den Unterschied zwischen dem auf die Kommensurablen beschränkten Bereich der Mathematik und dem davon komplett abgegrenzten Bereich der Inkommensurablen.

Dieser Fortschritt vom Verständnis der Quadratur des Kreises bei Archimedes zum überlegenen Verständnis bei Cusa veranschaulicht auch die Rolle der menschlichen Entdeckung eines bereits existierenden universellen Prinzips – den Übergang von dessen Existenz als Potential, das aber zuvor dem Blick des menschlichen Wissens verborgen war, hin zur „Verwirklichung“ dieses Prinzips durch die Akte der menschlichen Entdeckung. Dieser kontinuierliche Prozeß der Entdeckung ist ontologisch primär, das heißt, das Eine ist primär in Bezug auf den Inhalt eines jeden und aller der Vielen.

Bernhard Riemann, auf dessen wissenschaftlicher Methode der Name des LaRouche-Riemann-Wirtschaftsmodells mit beruht, führt in einer von Lyndon LaRouche zitierten Schrift, Zur Psychologie und Metaphysik, denselben Gedanken aus, indem er die menschliche Seele als einen Bestand an kompakten, eng und vielfältig miteinander verbundener Ideen beschrieb, die „Geistesmassen“, oder wie Lyn sie nannte „Gedankenobjekte“. Jede neue solche Geistesmasse schwingt mit allen vorher angesammelten mit und steht in wechselseitiger Beziehung zu ihnen, umso mehr, je mehr eine innere Verwandtschaft zwischen ihnen besteht. Riemann sagt auch, daß diese kompakten Geistesmassen weiter existieren, auch wenn der Mensch, der sie geschaffen hat, gestorben ist und Teil dessen wird, was er die Seele der Erde nennt.

Die Menschheit als geologische Kraft

Im wesentlichen dieselbe Idee drückte Wladimir Wernadskij in einem Vortrag in Paris im Jahr 1925 aus, in dem er die menschliche Gattung und den kollektiven menschlichen Geist als eine „geologische Kraft“ im Universum beschreibt. Wernadskij zufolge beweist die gesamte Geschichte des Universums, daß diese „Noosphäre“ mehr und mehr die Herrschaft über die Biosphäre gewinnen wird. Und dieser anti-entropische Charakter der Kreativität des menschlichen Geistes als fortschrittlichster Teil und treibende Kraft des physikalischen Universums ist der Grund, warum es Optimismus für die Zukunft der Menschheit gibt.

Es bedeutet, daß immer mehr Menschen in allen verschiedenen Nationen und Kulturen in der Lage sein werden, sich über das infantile Niveau der Sinnesgewißheit zu erheben und gescheiterte ideologische Traditionen zu überwinden – wie z.B. die rhetorische Schule der Sophisten, der es nicht um die Wahrheit geht, sondern um den Sieg einer beliebigen Behauptung, die der Sophist aufstellt, um sein partikulares Eigeninteresse zu fördern.

Nun, das Konzept des Zusammenfallens der Gegensätze läßt sich auf die gegenwärtige strategische Situation und eigentlich auf jeden Bereich des menschlichen Wissens anwenden. So definiert sich das Interesse der Menschheit nicht als das Interesse der gegenwärtig lebenden Menschen, im Hier und Jetzt, sondern wenn man das Interesse aller zukünftigen Generationen im Auge hat. Das ist im wesentlichen die gleiche Idee, die die Präambel der amerikanischen Verfassung ausdrückt: daß das Gemeinwohl nicht nur der Gegenwart, sondern allen zukünftigen Generationen dienen muß. Heute muß man das auf die ganze Welt, auf die gesamte menschliche Bevölkerung beziehen.

Um ein Verständnis dafür zu bekommen, was das bedeutet, wenn man das, was ich gerade theoretisch gesagt habe, auf die gegenwärtige Weltsituation anwendet: Dann ist jede Nation ein Mikrokosmos, und nach Nikolaus von Kues ist Frieden im Makrokosmos nur möglich, wenn jeder Mikrokosmos die bestmögliche Entwicklung hat, und es als sein eigenes Interesse ansieht, daß sich alle anderen Mikrokosmen entwickeln. Das heißt, man geht nicht vom „geopolitischen Eigeninteresse“ der Nation oder einer Gruppe von Nationen aus und stellt sich gegen das vermeintliche Interesse aller anderen, sondern man folgt einer anderen Konzeption, die diese aristotelische Methode des Widerspruchs ablehnt. Wenn man Platons Konzept der Veränderung und des Werdens als das ontologische Primäre auffaßt, dann kann man die Entwicklung jedes Mikrokosmos wie in einer kontrapunktischen, fugierten Komposition sehen, wo die Entwicklung jeder Note und jeder Idee zur zukünftigen Entwicklung aller anderen beiträgt.

Es gibt bereits Beispiele, wo man eine Annäherung daran sehen kann, wie das funktionieren kann. Eines ist die internationale Zusammenarbeit beim thermonuklearen Fusionsreaktor in Frankreich, in Cadarache, dem ITER, eine Gemeinschaftsarbeit von 34 Nationen, die alle von den Entdeckungen profitieren. Und heute ist es natürlich auch die mögliche internationale Zusammenarbeit in der Weltraumforschung und Raumfahrt: Derzeit laufen drei sehr faszinierende Missionen zum Mars, die alle in wenigen Wochen auf dem Mars ankommen werden – und wäre es nicht sinnvoll, solche Forschung gemeinsam zu betreiben? Dann ist die Frage nicht, wer als erster seine Flagge auf den Mars setzt oder wer als erster Frau oder erster Mann den Mars betritt, sondern es ist die Frage: Wie erobern wir das Sonnensystem für die menschliche Besiedlung?

Nun, unser Sonnensystem ist unglaublich groß. Ich weiß nicht, ob Sie vielleicht in letzter Zeit zu den Sternen, zur Milchstraße hinaufgeschaut haben, aber es ist noch sehr viel größer, unsere Galaxie ist nur eine von zwei Billionen Galaxien, die bisher vom Hubble-Teleskop entdeckt worden sind!

Denken Sie einmal über die langfristige Existenz der Menschheit nach. Die Menschheit gibt es seit ein paar Millionen Jahren, aber tatsächlich, in Bezug auf nachprüfbare aufgezeichnete Geschichte wissen wir nur ein wenig über die letzten 5000 Jahre, und noch ein bißchen mehr durch Archäologie, aber das ist wirklich nur eine sehr kurze Zeitspanne. Nun, wollen wir, daß die Menschheit die unsterbliche Spezies ist? Oder wollen wir, daß die Menschheit nur wie eine der vielen anderen Spezies ist, die kommen und gehen? Immer wenn große Perioden von Artensterben kommen, verschwinden sie, aber das macht nichts, die Evolution bringt dann andere Arten mit einem höheren Stoffwechsel hervor. Und ist es dann eigentlich egal, wenn auch die Menschheit einmal dabei verschwindet? Nun, das glaube ich nicht. Denn ich denke, daß die Menschheit absolut einzigartig ist, was auch immer wir noch im Universum finden werden, wenn es irgendwo anderes intelligentes Leben gibt. Wir sind bis jetzt die einzige bekannte schöpferische Gattung.

In ein paar Milliarden Jahren wird die Sonne aufhören, so zu funktionieren, daß wir auf der Erde leben können, und spätestens dann ist es eine Frage des Überlebens für unsere Gattung, den Weltraum zu besiedeln, andere Planeten für die menschliche Spezies bewohnbar zu machen. Ich denke, daß dies durchaus möglich ist, wenn wir uns von diesem gegenwärtigen Zustand wegbewegen, in dem wir uns wie Kleinkinder verhalten, wie kleine Jungs, die sich gegenseitig ans Schienbein treten, und wenn wir unser volles Potential entwickeln, indem wir mit anderen Menschen und anderen Kulturen kooperieren und die langfristige Bestimmung der Menschheit erfüllen, die Gattung zu sein, die bewußt Veränderungen im Universum anstößt, und auf diese Weise unsere wahre Bestimmung als menschliche Spezies erfüllen.

Nun, ich denke, es liegt an uns, diese Transformation zu vollbringen und auf diese Weise die Fähigkeit zu schaffen, lebend und glücklich aus dieser Krise herauszukommen. Und das ist es, was ich sagen wollte.