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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Eine Menschheit: Eine Sicht aus Italien

Von Michele Geraci,
Ökonom, ehem. Staatssekretär im italienischen Entwicklungsministerium

Ich danke Ihnen vielmals. Ich freue mich sehr, hier zu sein. Ich werde in den nächsten 15 Minuten mehr oder weniger kurz über einige der heißen Themen nachdenken. Ich möchte aus einigen meiner Erfahrungen schöpfen, die ich, wie Sie gerade erwähnt haben, bis vor kurzem als Mitglied des italienischen Kabinetts gemacht habe, und auch in meiner Eigenschaft als einer der Hauptenthusiasten für den Beitritt Italiens zur Belt-&-Road-Initiative mit China, nach meinen zehn Jahren in China.

Was ich in meinem Jahr in der italienischen Regierung erlebt habe, ist, daß wir es mit einer ernsten Krise zu tun hatten. Es gibt ein großes Dilemma, das den Fortschritt in unserer Gesellschaft aufhält, nämlich das Dilemma zwischen den kompetenten und den repräsentativen Nestern unter den Kabinettsmitgliedern. Bis heute ist die Annahme, daß Politiker, die offensichtlich eine Zustimmung des Volkes erhielten, ihre Rolle als Politiker einnehmen und auf der Grundlage der Analyse, dem Input der Menschen, die in den Ministerien arbeiten, den Direktoren und so weiter, ihre Entscheidungen treffen. Dieses Modell setzt nicht voraus, daß ein Politiker über besondere Kenntnisse in einem bestimmten Fach verfügt.

In der Vergangenheit hatten wir mehr Stabilität in der Regierung, sodaß ein Politiker tatsächlich einige Jahre in den Ministerien tätig war, wo er sich nach und nach ein gewisses Fachwissen auf seinem Gebiet aneignen konnte. In den letzten fünf Jahren haben wir jedoch erlebt, daß die Regierung jedes Jahr oder alle anderthalb Jahre gewechselt hat. Nehmen Sie mein Beispiel – 15 Monate in der Regierung. Nun, dieser Zeitraum reicht offensichtlich nicht aus, um es einem Politiker zu erlauben, sich einigermaßen Kompetenz und Fähigkeiten anzueignen, wegen der häufigen Wechsel. Sie müssen sich also auf die Direktoren, die Angestellten, die Beamten verlassen.

Diese stehen jedoch vor einem anderen, vor dem entgegengesetzten Problem: Sie sind seit vielen Jahren da – zehn Jahre, 15 Jahre, keine Anreize mehr, keine Beförderung, kein Bonus, keine Belohnung. Sie können nicht viel weiter aufsteigen, sie können nicht absteigen, sie können nicht entlassen werden. Sie haben also sehr wenig Anreiz für Effizienz und Produktivität. Aber auch das hat in der Vergangenheit gut funktioniert, denn die Veränderungen der externen Variablen waren nicht so häufig und so intensiv wie heute.

Wenn ich mir also anschaue, wie die Regierung vor 10, 15, 20 Jahren arbeitete: Ein Politiker blieb lange dort, der Beamte wußte auch ohne allzu viel Anreiz zumindest genug, er gab es an die Politiker weiter, diese hatten Zeit, es zu lernen, und das System funktionierte ziemlich gut.

Aber die Geschwindigkeit, mit der sich heutzutage die externen Variablen verändern, erlaubt es den Menschen nicht, innerhalb des Zeitrahmens ihrer Routine schnell genug zu lernen. Und dies führt zu einem sehr ernsten Mangel an Kompetenz sowohl bei den Politikern als auch bei den Beamten. Und natürlich haben die Politiker in ihrem politischen Entscheidungsprozeß nichts, an das sie sich halten können, sie haben keine Daten, keine Analysen, auf deren Grundlage sie Entscheidungen treffen können, und deshalb sind wir in eine Welt eingetreten, die ich als eine Welt der Randomisierung im politischen Entscheidungsprozeß bezeichnen würde.

Die Frage, die wir uns gestellt haben, lautet also: Sollten die Politiker Experten sein? Und wie ziehen wir die Grenze dazu, daß sie das Volk vertreten sollten – egal welchen Hintergrund sie haben, sie mögen gut oder gar nicht gebildet sein, aber solange sie gewählt werden, sollten sie Minister sein? Wie kommen wir zu einer Lösung für dieses Dilemma, angesichts der Tatsache, daß wir Experten brauchen, wir sie aber in der notwendigen Politiker- oder Beamtenschicht nicht haben – und ich spreche hier ganz allgemein. Natürlich gibt es auf beiden Ebenen auch sehr gute Leute, aber im allgemeinen ist dies das Problem, das wir erleben.

Nun, wenn man nicht genug weiß, stützt man seine Entscheidung auf Gefühle, auf alte Geschichten, die einem erzählt wurden und über die man gelesen hat, als man noch Zeit hatte, es zu verarbeiten und darüber nachzudenken. Und so neigt man dazu, nicht nur Entscheidungen, sondern auch Aussagen zu machen, die nichts mit der Realität zu tun haben.

Das Verhältnis zu China

Und nun komme ich auf das Beispiel einer wachsenden Stimmung gegen China, die wir sogar in der italienischen öffentlichen Debatte in Europa und in der öffentlichen Debatte im Westen sehen. Dafür gibt es viele Gründe, auf die ich nicht näher eingehen möchte, weil sie gut bekannt sind.

Der eine Grund, auf den ich Sie nur aufmerksam machen möchte, ist dieses Mißverhältnis zwischen Wissen und Zeit zum Lernen, das es den Menschen nicht erlaubt, genug zu erfahren. Und das war in gewisser Weise auch eines der Hauptziele, warum ich so sehr darauf gedrängt habe, daß Italien dem MOU [der Absichtserklärung] über Belt & Road beitritt. Denn ungeachtet des wirtschaftlichen Nutzens durch die Beteiligung an diesem Infrastrukturprojekt ist es uns zumindest gelungen, daß die italienische Öffentlichkeit über China in einem Ausmaß diskutiert, wie sie es noch nie zuvor getan hatte. In den letzten zwölf Monaten haben die Medien und die Politiker China wieder in den Mittelpunkt ihrer Diskussionen gerückt.

Nun, 90% von dem, was ich dabei höre, ist völlig falsch, aber man muß einen Schritt nach dem anderen tun. Zumindest diskutieren wir über China, wir diskutieren über Gürtel und Straße, wir diskutieren über die Auswirkungen dieser globalen Veränderungen, über künstliche Intelligenz, über technologische Entwicklung, über den Klimawandel. Glauben Sie mir, die Menschen waren auch früher darüber empört, sogar auf Regierungsebene, aber man ist damit nicht seiner wahren Natur gemäß umgegangen.

Diese Stimmung gegen China, die ich sehe, beunruhigt mich also einerseits, weil ich sehe, wie sie zunimmt, und jeder schreibt darüber, was andere vorher gesagt haben, ohne viel darüber nachzudenken. Auf der anderen Seite bin ich optimistisch, denn weil es auf mangelndem Wissen beruht, hoffe ich, daß mit zunehmendem Wissen, wenn die Menschen Zeit haben, zu lernen, zu studieren und vielleicht an Veranstaltungen wie der heutigen teilzunehmen, sie veranlaßt werden, ihre Kritik zurückzunehmen und sich wenigstens eine Meinung zu bilden, die auf Fakten und Analysen beruht. Und genau das versuchten wir auf westlicher, italienischer und EU-Ebene an den Diskussionstisch zu bringen: Analyse, Fakten, Daten, nicht nur Konzepte, die auf alten Geschichten basieren, die natürlich falsch sind.

Nun möchte ich das Beispiel des Virus bringen: Man hört vom „schwarzen Schwan“. Ich vergleiche das eher mit dem „grauen Elefanten im Wohnzimmer“, wie die Engländer sagen: ein riesiges Tier, unübersehbar, dennoch die Menschen ignorieren es. Entweder tun sie so, als ob sie es nicht sähen, oder sie sind unfähig, es zu erkennen, aber es ist ein Ereignis, das da war. Und genau das ist in Italien wirklich passiert. Als wir gegen Ende Januar zum ersten Mal von der Situation in Wuhan erfuhren, hatten wir in Italien noch jede Menge Zeit, um zu planen – die Ausgangsbeschränkungen, die wirtschaftlichen Maßnahmen, die finanziellen Maßnahmen, und wie wir über all das mit der Europäischen Union, der EZB, der Europäischen Kommission diskutieren könnten. Aber heute, Ende April, drei Monate später, diskutieren wir immer noch darüber, was zu tun ist, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, ob wir die App für die Ermittlung von Kontaktpersonen verwenden sollen oder nicht – drei Monate später! Und während das Ganze im November und Dezember vielleicht für China ein „schwarzer Schwan“ war, weil man dort mit so etwas vielleicht nicht gerechnet hat, war es für uns in Europa ein „grauer Elefant“. Wir hatten sogar das Glück, in die Zukunft sehen zu können, wir mußten uns nur anschauen, was in China oder in Korea geschieht!

Aber das taten wir nicht. Der große graue Elefant sitzt da, doch die Menschen wenden ihren Kopf ab und wollen ihn nicht sehen. Und warum? Wegen dieser tief verwurzelten Vorstellung, die ich bei vielen meiner Kollegen erlebe, die auf die Idee hinausläuft: „Was immer China tut, ist falsch. Es gibt absolut nichts, was wir von China lernen könnten. Wenn wir Vergleiche anstellen, sollten wir China erst gar nicht einbeziehen – geschweige denn solche Fragen stellen.“

Und dies ist wirklich eines der schwerwiegendsten Probleme, mit denen wir in unserer Gesellschaft konfrontiert sind. Denn das vermischt sich mit dem psychologischen Problem, einzugestehen, daß das Problem, das wir hier in unseren Ländern haben, hauptsächlich auf unsere eigenen Fehler zurückzuführen ist. Stattdessen müssen wir wie beim Geschichtenerzählen externe Ursachen finden, wir müssen ein Monster erschaffen, das nicht wir sind, sondern jemand anderes, damit wir es bekämpfen können, wir können ihm die Schuld zuweisen, wir können es bekämpfen, und dann können wir der Held sein, der das Problem löst.

Natürlich ist so etwas nur Einbildung, und es löst die Situation nicht. Es mag eine gewisse Unterstützung in der Bevölkerung schaffen, denn die Menschen werden der Geschichte glauben. Eine große Mehrheit der Menschen wäre geneigt, der Geschichte vom Monster und vom Helden Glauben zu schenken, und das verstärkt den Konsens der Politiker, es verstärkt das Mißverständnis in der Bevölkerung und nimmt unseren Ländern den letzten Rest der Möglichkeit, tatsächlich auf die wahre Ursache des Problems zu reagieren. Es ist also fast so, als würden wir in einem Roman leben, in dem die Illusionen platzen.

Kein Wettstreit der Modelle

Das ist es, was wir in diesen wenigen Monaten gesehen haben. Wenn ich noch einmal unsere westlichen Werte mit den chinesischen Werten vergleiche, dann ist das, was es uns wirklich – vielleicht manchmal objektiv – schwer macht, es zu akzeptieren, daß wir in einer Gesellschaft leben, in der bekanntlich das Individuum an erster Stelle steht, wo der Traum ein individueller Traum ist. Der „amerikanische Traum“ ist ein individueller Traum, es ist der Traum eines Menschen. In China ist es ein kollektiver Traum, es ist der Traum der Gesellschaft für das Land als Ganzes. Und ja, es gibt natürlich ein Element des Individuums, und die Menschen machen sich das natürlich zunutze, aber der allgemeine Trend, der große Unterschied, den ich festgestellt habe, ist der zwischen dem kollektiven und dem individuellen Traum.

Es fällt uns also nicht nur schwer, zu akzeptieren, etwas von diesem Modell zu lernen, das sich von unserem so sehr unterscheidet, wir fürchten, daß dieses Modell uns, etwa in Europa, erobern könnte. Aber tatsächlich findet man kaum Anzeichen dafür, daß China sein soziales, wirtschaftliches und politisches Modell wirklich nach Europa exportieren will. Denn natürlich wissen sie, daß das niemals funktionieren würde.

Aber es bringt uns in eine Krise, denn wir fragen uns jetzt, ob der Freihandel funktioniert oder nicht. Funktioniert das Gelddrucken oder funktioniert es nicht? Funktioniert die Europäische Union oder funktioniert sie nicht? Bisher habe ich zum Beispiel gesehen, daß die Europäische Union gut darin ist, Probleme zu lösen, die überhaupt erst durch die Existenz der Europäischen Union entstanden sind. Es handelt sich also um eine Meta-Lösung für ein Problem. Es gibt keinen offensichtlichen marginalen Nutzen, vielleicht sogar einschließlich des Vorgehens von Mario Draghi während der Euro-Krise. Ja, er hat die Krise gestoppt, aber es gab die Krise nur, weil wir eine gemeinsame Währung hatten. Andere Länder mit eigenen Währungen brauchten keine Lösung der Europäischen Union, sie haben sie mit ihren eigenen Mitteln gelöst, und fast alle haben es relativ gut gemacht.

Was uns also wirklich in Europa am meisten „auf die Nerven geht“, wenn ich so sagen darf, ist dieser weltanschauliche Konflikt um das „Modell“ – „Demokratie“ oder nicht, Kollektiv contra Individuum. Daß wir vielleicht anfangen zu begreifen, daß es dem durchschnittlichen Chinesen ziemlich egal ist, was für ein Gesellschaftsmodell wir ihm verkaufen wollen. Ich habe gesehen – natürlich mit ein paar Ausnahmen –, daß die Chinesen im allgemeinen glücklich sind. Sie legen Wert auf andere Werte. Sie legen Wert auf andere Dinge, nicht auf die Dinge, die wir tun.

Und das war und ist wirklich mein persönliches Bestreben, als ich in der Regierung war und jetzt, da ich wieder in der akademischen Welt bin: zu versuchen, unseren Leuten zu sagen, daß nicht jeder unsere Werte vollständig teilt. Bestimmte Werte mögen universell sein, ja, aber sie dringen in unterschiedlichem Maße durch verschiedene Schichten bis zum einzelnen durch.

Ich schließe mit einer Wiederholung dessen, was Helga vorhin gesagt hat: Wir brauchen wahrscheinlich eine Renaissance. Wir müssen 400, 500, 600 Jahre zurückblicken, und von da aus kann unsere europäische Gesellschaft wirklich wieder auferstehen. Das ist etwas, wofür ich mich seit einigen Jahren einsetze, und ich freue mich sehr, es heute wieder zu hören. Das ist eine kulturelle Herausforderung, aber es ist auch ein Kulturgut, das wir haben und das wir nutzen müssen. Und es ist auch eine der möglichen Antworten auf die Herausforderungen der künstlichen Intelligenz, die viele Arbeitsplätze in vielen Bereichen vernichten könnte; aber vielleicht fällt es ihr schwer, diese soft skills, die Künste und die Kreativität zu übernehmen.

Gürtel und Straße können hoffentlich dazu beitragen, zwei Welten einander näher zu bringen und das gegenseitige Wissen und Verständnis zu mehren. Und wenn das Wissen zunimmt, nimmt das subjektiv wahrgenommene Risiko ab; und dann sind die Menschen, ähnlich wie bei der Geldanlage, eher bereit, Schritte zu unternehmen, sich einander anzunähern und vielleicht mehr Geschäfte miteinander zu machen, mehr Austausch zu betreiben, und sie würden mehr auf die Chancen anstatt auf die Gefahren schauen.

Damit möchte ich es belassen und stehe bereit für Fragen und Antworten. Ich danke Ihnen vielmals.