Beethoven als sokratischer Revolutionär
Von Fred Haight
Fred Haight hielt den folgenden Vortrag im Rahmen der
Online-Konferenz des Schiller-Instituts am 6. September 2020.
Ich überschreibe diesen Vortrag „Beethoven als sokratischer Revolutionär“,
weil sich im Laufe der Jahrhunderte viele Bewegungen als revolutionär
präsentierten, die die ganze Bandbreite von gut bis sehr böse abdecken.
Wie erkennt man den Unterschied? Ein Aspekt ist: Immer dann, wenn eine
Bewegung sagt, sie will die Kultur ausmerzen, die gesamte Vergangenheit
ablehnen, alle Statuen niederreißen, alle Helden niederreißen und neu anfangen
als eine neue Generation, frei von Vorurteilen, dann ist Vorsicht geboten:
Diese Bewegung kann schnell große Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen.
Wie auch nicht, wenn sie der Meinung sind, daß die Menschheit noch nichts
richtig gemacht hat?
Anstatt die Vergangenheit zu verdrängen, müssen wir sie sorgfältiger
studieren, ganz besonders die großen Geister und Seelen, die uns alles Wissen
geschenkt haben, das es der Zivilisation ermöglichte, vorwärts zu kommen. Zu
diesen Seelen gehören unbedingt die großen Künstler, und dieses Jahr ist der
250. Geburtstag eines der größten, Ludwig van Beethoven, unser heutiges
Thema.
Unser Verständnis solcher großen Künstler leidet jedoch unter einer
künstlichen Trennung zwischen den Naturwissenschaften und den Künsten – die
einen hängen angeblich von der Vernunft ohne Emotion ab, die andere von
Emotionen ohne Vernunft. Hinzu kommt die sorgfältig gepflegte Vorstellung, ein
Genie sei jemand, der so geistesabwesend, egozentrisch und exzentrisch ist,
daß er im Sommer Handschuhe trägt. Beethoven ist sogar Gegenstand eines Buches
mit dem Titel Manische Depression und Kreativität, das suggeriert, alle
schöpferischen Menschen seien etwas verrückt. Und so wird Beethoven als
Karikatur dargestellt: wütend, unhöflich und zurückgezogen, sogar unsozial,
aber brillant – in den Worten Richard Wagners: ein Titan, der mit den Göttern
ringt. Das macht seine bloße Existenz zu einem Rätsel, das wir nicht erklären
können. Man weiß nicht, woher er kam, warum er hier war oder ob es
seinesgleichen je wieder geben wird.
Aber tatsächlich wissen wir genau, woher er kam und warum er da war: Er war
das Ergebnis eines Projekts, das genau solche Menschen hervorbringen sollte.
Max Franz, der Kurfürst von Köln, Bruder Kaiser Josephs II., wollte Bonn zu
etwas machen, was man heute eine Art Apollo-Projekt nennen könnte, ein
Crash-Programm, aber in diesem Fall nicht, um auf dem Mond zu landen, sondern
um eine höhere Kultur zu schaffen. Er machte das Hoftheater zu einem
öffentlichen Theater.
Beethoven wuchs mit Aufführungen von Schiller und Shakespeare auf, die er
beide liebte. Beethovens Lehrer Neefe, der ihm die Präludien und Fugen von
J.S. Bach beibrachte, arbeitete mit dem Theaterdirektor Gustav Großmann
zusammen, um Opern zu komponieren. Max Franz schuf ein Orchester, in dem der
junge Beethoven spielte. Aus diesem Orchester gingen mindestens vier
Komponisten hervor – drei gute und ein ganz großer.
Beethovens Klavierlehrer Neefe war auch Leiter der Lesegesellschaft in
Bonn, wo die Klassenunterschiede abgelegt wurden und alle Mitglieder
gleichberechtigt an der Lektüre großer Literatur teilnahmen – moderner Werke
wie auch der Werke der alten Griechen und Römer. Viele Mitglieder des
Studentenorchesters waren in der Lesegesellschaft, und Beethoven bemerkte
einmal, es gebe kaum ein Buch, das für ihn zu schwer zu verstehen sei.
Man schafft kein Genie, indem man sich auf ein einzelnes Kind fixiert, und
man hofft auch nicht einfach, daß es wie durch Zauberei entsteht. Man fördert
es, indem man alle auf dem höchsten Niveau erzieht, indem man alle
erhebt, sie einbezieht und die Bedingungen schafft, unter denen das Genie
nicht als verrückter Außenseiter, sondern als normaler Zustand der Menschheit
auftauchen kann. Beethoven war ein Genie, aber nicht nur Musiker, sondern auch
Denker, Philosoph und politisch gesinnter Bürger.
Beethoven wuchs mit der revolutionären Idee auf, die mittelalterliche
Feudalgesellschaft und ihre erbliche Klassenstruktur zu beenden, zugunsten von
Gleichheit, Freiheit, universeller Bildung und der Einrichtung von
Regierungsformen, die solche Ideale umsetzen konnten. Sein Leben lang gab er
diese Ideen nicht auf. Er unterstützte Napoleon, als der sich scheinbar der
Befreiung der Menschheit verschrieb. Er widmete Napoleon sogar seine 3.
Sinfonie, die Eroica (die Heroische). Als Napoleon sich selbst zum
Kaiser krönte, kratzte Beethoven die Widmung aus und sagte: „Jetzt wird auch
er die Rechte der Menschheit mit Füßen treten.“
Beethoven ging in moralischen und intellektuellen Fragen nie Kompromisse
ein. Das hören wir in seiner Musik. Er wandte sich einem anderen heroischen
Thema zu, seiner einzigen Oper Fidelio. Zwei Mitglieder des
Schiller-Instituts, der verstorbene Donald Phau und mein Freund und Kollege
David Shavin, haben gezeigt, daß die Oper mit ziemlicher Sicherheit ein Bezug
auf die Inhaftierung des Kriegshelden der Amerikanischen Revolution, des
französischen Marquis de Lafayette ist, und die heroischen Bemühungen seiner
Frau Adrienne um seine Befreiung. Adrienne betrat tatsächlich das Gefängnis,
um ihren Ehemann zu retten. Ihre Bemerkung, nichts könne sie davon abhalten,
findet sich in Leonores Arie wieder:
Ich folg' dem innern Triebe,
Ich wanke nicht,
Mich stärkt die Pflicht
Der treuen Gattenliebe!
Ich kenne kein anderes Kunstwerk, das eine heldenhafte Frau so feiert – und
das nicht zu Lasten ihres Mannes, der ebenfalls ein Held ist. Zwei Helden, die
sich lieben! In den meisten Liebesgeschichten geht es in der Regel darum, sich
zu verlieben. Nur Beethoven besingt die eheliche Liebe.
Viele seiner Werke sind aus der Not geboren. Sie werden heute Ausschnitte
aus seiner C-Dur-Messe hören. Beethoven wußte, daß er einem besetzten
Land Hoffnung schenken und etwas Neuartiges schaffen mußte. Die Messe wurde
von Fürst Nikolaus Esterhazy II. bestellt, dem Enkel des Fürsten, der Haydn
gefördert hatte.
Die Messe wurde in Schloß Esterhazy uraufgeführt. Es gab dort sicher
genügend Räume, um Beethoven einen guten Gastraum zu bieten, meinen Sie nicht
auch? Aber er wurde in einem Raum untergebracht, der gar nicht für Menschen
eingerichtet war.
Der Fürst hatte den Brauch, nach der Produktion eines neuen Werkes
Würdenträger in seinen Salon einzuladen, um darüber zu diskutieren. Als
Beethoven bei dem laufenden Gespräch eintrat, brachte der Fürst ihn in
Verlegenheit, indem er sagte: „Mein lieber Beethoven, was haben Sie da nur
wieder gemacht?“ Sogar der Chorleiter lachte mit. Beethoven ging wütend weg,
weder widmete er das Werk Fürst Esterhazy noch gab er ihm auch nur ein
Exemplar.
Manche Leute meinen, Beethoven habe überreagiert. Urteilen Sie selbst, wenn
Sie lesen, wie Esterhazy in einem Brief an Gräfin Henriette Zielinska seinen
wahren Gefühlen freien Lauf ließ: „Beethovens Musik ist unerträglich
lächerlich und abscheulich; ich bin nicht sicher, ob sie jemals richtig
gespielt werden kann. Ich bin wütend und beschämt.“
Dieser Prinz soll über 200 Mätressen und 100 uneheliche Kinder gehabt
haben, damit verstehen wir vielleicht besser, warum er mit Beethoven moralisch
nicht einig war. Andere Komponisten hätten nach dieser Attacke vielleicht
weniger gewagt komponiert. Glauben Sie, daß Beethoven das tat? Im
Gegenteil.
Der Wiener Kongreß
Beethoven setzte zunächst große Hoffnungen in den Wiener Kongreß unter der
Leitung des österreichischen Fürsten Metternich, der nach den Napoleonischen
Kriegen die Landkarte Europas neu zeichnen und Frieden bringen sollte. Bald
wurde klar, daß es diesen Männern, die als „Restauration“ bekannt waren, darum
ging, Monarchien und Imperien wiederherzustellen und alle wirklich
republikanischen Bewegungen in Europa zu zerschlagen. Wenn es nach ihnen
ginge, sollte es nichts, was mit der amerikanischen Verfassung vergleichbar
wäre, jemals in Europa geben.
1819 nahm Metternich die Ermordung des Dramatikers Kotzebue zum Vorwand, um
unter den Karlsbader Dekreten einen Polizeistaat zu schaffen. In den meisten
historischen Berichten wird Kotzebue als „konservativer“ Dramatiker
bezeichnet, was darauf hindeutet, daß Metternich gegen eine Bedrohung seiner
Ordnung vorging. Meine Freundin und Kollegin Renee Sigerson hat dokumentiert,
daß Kotzebue ein Freund der Amerikanischen Revolution und ein Freund
Beethovens war. Sein Mörder hat Metternich offenbar auf zweierlei Weise
gedient: er beseitigte ein Problem und legitimierte einen Polizeistaat.
Die Karlsbader Dekrete zensierten die Presse und wiesen jeder Universität
einen Staatsbeamten zu, der befugt war, Professoren zu entlassen, und
Studentenvereinigungen aufzulösen, weil sie „Frieden und Ruhe in Deutschland“
und „die etablierte Ordnung“ bedrohten. Werke von Schiller, Benjamin Franklin
und anderen wurden verboten. Eine satirische Zeichnung aus dem Jahr 1819 zeigt
ein „Treffen der Gesellschaft der Denker“. Alle Denker sind mit einem Maulkorb
versehen, damit sie nicht im Gefängnis landen, wenn sie den Mund
aufmachen.
Viele Menschen reagierten, indem sie sich selbst mundtot machten. Das war
bekannt als die Biedermeier-Periode. Die Familie wurde zum höchsten Wert, so
wie heute. Wie oft hört man: „Die Familie ist das wichtigste! Der Rest der
Welt kann zum Teufel gehen, ich kämpfe für meine Familie!“ (Als ob diese
Familie nicht von der Welt abhängig wäre.) Innendekoration und Möbeldesign
wurden zu Kunstformen. Die waren sicher und nicht umstritten. Die Poesie
wandte sich von der Politik ab, hin zur Natur. In einer solchen Situation kann
man entweder degenerieren oder sich widersetzen, indem man zum Wohle der
Menschheit die kreativen Kräfte entwickelt, die der Polizeistaat unterdrücken
will. Das einzige, was man nicht tun kann, ist stillzusitzen.
Was tat Beethoven? Historiker beschreiben es so, daß er sich nach innen
wandte und für sich selbst schrieb, weil er hilflos war, etwas zu tun. Das ist
Unsinn! Beethoven komponierte 1819 seine große Klaviersonate op. 111
und begann mit der Arbeit an den Diabelli-Variationen und der Missa
Solemnis. Niemand konnte von ihm verlangen, daß er seine schöpferischen
Kräfte in diesem Maße steigerte, weil niemand wußte, daß ein solches Niveau
der Musik überhaupt möglich war. Er gab seine eigene Zeit nicht auf, aber er
schrieb für die Zukunft, und das sagte er auch! Er schrieb für uns! Warum
sonst sollte die Missa Solemnis die fünf Worte – „Et vitam venturi
saeculi, Amen“, „Das Leben der zukünftigen Welt. Amen“ – mit einer großen,
sechs Minuten langen Doppelfuge feiern!?
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Menschen, die sich von den moralischen
Werten des Schiller-Instituts angezogen fühlen: ich weiß, daß Sie Beethoven
lieben werden, wenn Sie ihn einmal kennen gelernt haben. Er machte niemals
moralische oder intellektuelle Kompromisse, und das hört man, es gehört zu
dem, was seine Musik so mächtig macht. Aber es kann schwierig sein. Diese
Musik ist alt, ebenso wie ihre Hintergründe. Mitglieder des Schiller-Instituts
können Ihnen helfen, seine Werke zu verstehen, und ich kann Ihnen dabei
helfen. Ich werde jede E-Mail beantworten, die ich unter fhaight@gmail.com erhalte. Sie
finden Videos auf der Website des New Yorker Chores des Schiller-Instituts und
über 150 Artikel auf der Facebook-Seite der Stiftung zur Wiederbelebung der
klassischen Kultur.
In diesem 250. Jahr seit Beethovens Geburt ist es meine Absicht und die des
Schiller-Instituts, Beethovens Musik nicht nur den Menschen zu bringen, die
ihn bereits kennen und lieben, sondern auch allen guten Menschen, die ihn
brauchen und kennen sollten.
(Den Videomitschnitt des Vortrages finden Sie im Youtube-Kanal des
Schiller-Instituts unter: https://www.youtube.com/watch?v=y71F7QeFtMo)
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