Friedrich Schiller Denkmal
Friedrich Schiller



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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Ästhetische Erziehung – warum?

Von Christa Kaiser

Vor wenigen Wochen haben wir des 75. Jahrestags des Endes des 2.Weltkrieges und des Nationalsozialismus gedacht. Wenngleich ein Rückblick notwendig ist, muß er uns auch an die guten Vorsätze eines moralischen Deutschland erinnern: Zum einen müsse der Staat Freiheit und Menschenwürde als obersten Zweck garantieren, aber das zu schützende Menschenbild dürfe kein selbstherrliches Individuum hervorbringen, sondern dieses müsse auch der Gemeinschaft verpflichtet sein. Freiheit – Notwendigkeit, in dieser Spannung steht das Individuum zur Gesellschaft. Wird das heute noch verstanden? Wie denkt die Jugend darüber und beschäftigt sie sich überhaupt in der Freizeitgesellschaft damit?

Seit mehreren Jahren wird das öffentliche Leben durch Amokläufer schockiert. Schulen, Einkaufszentren, Discos werden plötzlich Räume von Gewaltexzessen. In Hanau liquidierte jüngst ein Attentäter mitten in Friedenszeiten zehn Menschen. Sein Manifest offenbarte Menschenhaß, Rassismus und völkischen Wahn, einem Söldner vergleichbar.

Wie antworten unsere Politiker auf eine solche Gewalttat wie z.B. in München? Sie reagieren, aber leider nur medial, d.h. Sie sprechen ihre Texte und bedienen die erwarteten Register, wie „Rassismus abwehren“ oder „ wache Zivilgesellschaft erhalten“. Aber es bleiben Leerformeln. Ihnen fehlt der Mut, einen höheren Maßstab zu setzen.

Wie einfach wäre es gewesen, aus dem ersten Flugblatt der Geschwister Scholl vorzulesen. Inmitten von Gewalt und Terror bezeugten sie einen Glauben an die Menschheit, der sprachlos macht. Obwohl sie Krieg, Deportationen, Feigheit und Blindheit ihrer Umgebung erlebten, setzten sie auf eine Widerstandskraft in der deutschen Kultur, auf den freien Willen, das Höchste, was der Mensch besitzt. Ihre Staatsvorstellung orientierte sich an der naturrechtlichen Idee des Solon von Athen (640-560 v. Chr.). Die Aufgabe des Staates sei die „Ausbildung aller Kräfte des Menschen“, um so die Fortschreitung des Staates zu fördern.

Warum haben unsere Politiker das vergessen? Hier stoßen wir auf einen politischen Apparat, der sich die Zerstörung von individueller Charakterbildung zum Ziel setzte und Werte als altmodisch und autoritär brandmarkte.

Das ISR – Institute for Social Research

Das ISR, das später zur „Frankfurter Schule“ wurde, im 2. Weltkrieg für den amerikanischen Geheimdienst arbeitete und nach dem Kriege im Rahmen der „re-education“ wichtige Posten in der Besatzungsstruktur bekam, spielt hier die zentrale Rolle. Ihre Kontrolle setzt sich bis heute in Medien, Theatern, Universitäten und politischen Institutionen fort.

Die „Frankfurter Schule“ hatte es auf die Zerstörung des jüdisch-christlichen Weltbildes angelegt, eine Art „Anti-Schönheit“ zu schaffen. Georg Lukacs, ein führender Theoretiker des ISR, ein ungarischer Aristokratensohn, der in Deutschland studierte und dann als Literaturkritiker arbeitete, also ein Kenner der deutschen Klassik, schrieb das Programm.

Er wollte eine Bewegung in den Westen bringen, die dämonisch ist. Sie müsse eine religiöse Macht besitzen, die in der Lage ist, die ganze Seele in Besitz zu nehmen. So eine messianische politische Bewegung würde nur Erfolg haben, wenn das Individuum glaube, daß sein Handeln nicht durch persönliche Verantwortung bestimmt sei, sondern durch das Schicksal der Gemeinschaft.

Das Manifest des Attentäters von Hanau zeigt genau diese dämonische Glaubensstruktur! Für ihn gab es kein persönliches Schicksal, keine individuelle Seele. Er war unfähig, eine eigene Identität zu entwickeln, konnte sich nicht unabhängig von einer Gruppe definieren, sondern nur in einer Volksgemeinschaft denken. Er glaubte, sein Volk könne nur überleben, indem es andere Völker vernichte.

Finden wir hier nicht einen Mangel an allem, was ein individuelles Leben so vielfältig, begeisternd und herausfordernd macht? Unfähig, die eigene Vernunft zu entdecken, war er ein Vollstrecker eines blinden Willens und damit ein Triebtäter.

Hanau war kein Einzelfall. Der Mörder von Christchurch (2019), der Mörder des Schwabinger Einkaufszentrums (2016) und der Mörder von Norwegen (2011) – sie alle waren dämonisch besessen und machten eine rassistisch konstruierte Gruppe verantwortlich für subjektiv empfundenes Unrecht.

Für die „Frankfurter Schule“ war der Gang durch die Institutionen ein großer Erfolg. Theodor Adorno, ein führender Vertreter, verstieg sich zu verkünden, nach 1945 dürfe es nichts Schönes, Wahres und Gutes mehr geben. Die Gegenkultur ersetzte nun die schöne Menschlichkeit, wie sie Wilhelm von Humboldt erdacht und in seinem Schulsystem verwirklicht hatte. Neben vielen Entgleisungen machte besonders die Reformpädagogik der Odenwaldschule von sich reden. Sie sah in Pädophilie die Befreiung jeder Unterdrückung.

50 Jahre später kennt die Jugend nichts anderes mehr.

Auswirkungen für den Staat

Was bedeutet es für die Zukunft, wenn unauffällige Etagennachbarn sich plötzlich als Massenmörder entpuppen? Sind das nicht Auflösungserscheinungen einer Gesellschaft? Können wir uns einen Zeitgeist leisten, der verkündet, „Alles ist erlaubt“, und grundlegende Werte als autoritär abtut? Seit Solon von Athen versuchen Humanisten, den Staat zu einem Werkzeug des menschlichen Fortschrittes zu machen. Nicht umsonst gab es immer wieder Propheten, wie im Alten Testament erwähnt, oder weise Männer wie Solon, die amerikanischen Gründungsväter wie Benjamin Franklin oder in unserer Zeit Lyndon LaRouche, die als Wächter des Staates wirkten und vor den tödlichen Fehlern der Gesellschaft warnten.

In diesem Sinne übernahmen die Frauen und Männer des deutschen Widerstands gegen Hitler die individuelle Verantwortung für die Prinzipien des naturrechtlichen Staates und versuchten die Gerechtigkeit gegen das Unrecht des deutschen Staates wiederaufzurichten.

Kampf gegen die barbarische Kultur

Dem deutschen Dichter G.W. Lessing (1729-1781) bot sich ein Verfall der Gesellschaft während des Siebenjährigen Krieges (1756-1763), und er sah eine zunehmende Verrohung in Deutschland. Angestiftet und zum Nutzen von England gingen sich die europäischen Mächte an die Gurgel. Krieg zu führen, war eine Belustigung des Adels der oligarchischen europäischen Gesellschaft, was die heftigsten Erinnerungen an den 30-jährigen Krieg des vorigen Jahrhunderts wieder wachrief.

Auf der Suche, das Volk von Tobsucht und untertäniger Gefolgschaft zu befreien, beschäftigte sich Lessing u.a. mit der griechischen Geschichte, insbesondere mit dem Freiheitskampf gegen die persische Unterdrückung. Die Idee der Schönheit als Suche nach göttlicher Ordnung, d.h. nach Vollkommenheit, spielte im antiken Griechenland eine große Rolle. Schönheit in der Kunst wurde gefordert und galt als Ideal.

Um Menschen, die nicht lesen und schreiben konnten, Zugang zu einer allgemeinen Ordnung zu vermitteln, findet er im antiken Griechenland ein Vorbild. Gründer dieser Kultur wie Homer, Aischylos und die großartigen Tempelbauer führten die Kunst als sittliche Kraft ein, die Wildheit der Völker zu zähmen.

Dem dienten auch die olympischen Wettspiele. In völlig anderer Absicht als unsere heutigen Bodybuildingzentren und Fitneßstudios ging es nicht um Muskelkraft, sondern um Vielseitigkeit und Vervollkommnung. In fünf Disziplinen, dem Fünfkampf (Weitsprung, Speerwurf, Lauf, Diskuswerfen und Ringkampf), wurde Selbstbeherrschung und Eleganz gefordert und nicht rohe Kraft. Selbst der sprichwörtliche Lorbeerkranz unterstrich den hohen Standard, wurde er doch im gegnerischen Persien als Narretei betrachtet, sozusagen für Nichts, anstatt für Gold zu kämpfen.

© Wikimedia Commons/Andreas Trepze/cc-by-sa 2.5
Vorbild für Lessings Ansatz der ästhe- tischen Erziehung: das griechische
Theater – hier abgebildet das Theater von Epidauros.

©Wikimedia Commons/gemeinfrei

Die Laokoon-Gruppe, Nachbildung
eines hellenistischen Originals von
200 v. Chr., gefunden in den Trajan- Thermen in Rom im Jahr 1507.

Den Höhepunkt der Wettkämpfe bildeten die Theaterfestspiele. Dort saßen die zahlreichen griechischen Völker gedrängt zusammen und lauschten der Darstellung ihrer Geschichte, in die die verderblichen Leidenschaften verwoben waren, die die Einheit der Griechen immer wieder schmählich vergifteten. Hatte doch jeder Grieche erlebt, wie Rache, verletzte Ehre, Zorn und Geltungssucht zu unzähligen Fehden und Kriegen der Stadtstaaten untereinander geführt hatte.

Gegen diese verbreitete Schwäche setzten die Dichter, die gefeierten Volkslieblinge, friedensstiftende Ideen von einer höheren Gerechtigkeit und Vergebung, die verderbliche Leidenschaften überwindet. Diese erzieherische Kraft, die auf den Weg zu Wahrheit führe, weil sie als innere Schönheit den Geist des Menschen berühre, wollte Lessing entfachen.

Dabei machte er in der griechischen Bildhauerkunst eine sehr interessante Entdeckung: Der Bildhauer bediene nicht (!) die Sinne, nicht die Optik, sondern er reiße den Betrachter vom kümmerlichen Anschauen in die freien Gebilde des Gedankens.

Die Diskussion über die sog. „Laokoon-Gruppe“, eine große Skulptur (siehe Abbildung) führte in Berlin zu einem Streit zwischen dem Griechenlandexperten Winkelmann und Lessing. Worum ging es dabei? Laokoon war trojanischer Priester und warnte sein Volk, das hölzerne Pferd nicht hinter die Festungsmauern zu ziehen. Dafür wurde er von den Göttern bestraft.

Nun ist bemerkenswert, wie der Künstler mit dem legendären Stoff umging. Wohlgemerkt, es ging den Griechen um die Idee des Guten in der Kunst. Wie sollte also aus einem Marmorblock, statt einem Gegenstand für die Augen, eine Erkenntnis für den inneren Sinn entstehen? Dazu mußte eine Momentaufnahme erzeugt werden, die ein Geschehen in zwei Welten darstellt. Ein äußerst spannungsreicher Moment mußte gefunden werden.

Zwei Giftschlangen schleichen an seine Kinder heran, beide sind in tödlicher Gefahr. Wäre Laokoon ein gemeiner Mensch gewesen, so würde er seinen Vorteil in schneller Flucht und Rettung vor den Schlangen gesucht haben. Aber sein Herz und die Gefahr für seine Kinder halten ihn zu seinem eigenen Verderben zurück.

Der Vorgang würde von Lukacs und Co. als dämonisches Motiv benutzt werden, die Allmacht der Götter gegen den erbärmlichen Menschen auszuspielen. Ganz anders der Künstler! Anstatt nun die Schrecklichkeit des Vorgangs ins Häßliche zu steigern, die Angst und Verzweiflung der Kinder oder den Haß des Vaters auf die Götter, oder die Brutalität der Schlangen darzustellen, wie es dem Kitzel der niedrigsten Gefühle durch die „Frankfurter Schule“ entsprochen hätte, wählte der Künstler eine maßvolle Darstellung.

Die Griechen lehnten die Häßlichkeit in der Kunst ab, weil sie die Freiheit des Geistes zerstöre. Kunst habe die Aufgabe, das Übersinnliche darzustellen.

Wie erzeugt nun der Künstler die Freiheit des Geistes? Wie kommt der Betrachter von der kümmerlichen Anschauung in die freie Bildung des Gedankens? Die Kunst schafft es durch Doppeldeutigkeit, oder besser: durch organisierte Zweideutigkeit. Diese Doppeldeutigkeit bedarf des „prägnanten Moments“, der einen spontanen Übergang von einem Zustand in einen neuen schafft. Der Schlangenbiß verändert alles und genau dieser Moment wird dargestellt.

Konnte sich der Vater der Naturgewalt der Schlangen durch seine physische Kraft noch widersetzen, so gibt sich Laokoon jetzt aus freier Wahl hin, seine Kinder zu retten. Die Hoffnung auf den Vater weicht einem Erschrecken der Kinder. Das soeben noch tatkräftige Streben des Vaters stockt durch den Schlangenbiß. Laokoons Angst um seine Kinder verkehrt sich in Leiden. Das jüngste Kind, das sich soeben noch zur Abwehr anstrengte, gibt nach. Das Älteste, vorher noch ruhig beobachtend, schreit auf vor Beklemmung.

Alle drei Figuren besitzen eine doppelte Haltung: Das Hoffen des ältesten Kindes wird zu Schrecken, das Wirken des Vaters wird zu Leiden, die Anstrengung des jüngsten Kindes erschlafft. Denken wir die Handlung weiter, so versteht sich von selbst, daß die nächsten Momente in Ekel und Grausamkeit übergehen, sei es daß der Vater noch in andere Körperteile gebissen oder der Jüngste erdrosselt wird.

Aber bei den Griechen war nur das Tragische in der Kunst erlaubt, nicht das Grausame. Ist das eine Frage des Geschmacks? Weit gefehlt! Es ging dem Künstler um die Wirkung. Lessing urteilt: „Aufgabe der Kunst sei die freieste Bewegung in der Fantasie zu erzeugen, um die Vernunft schon im Bereich der Sinne zu entfachen... Häßlichkeit verwandelt sich beim Betrachter in Abscheulichkeit und unterdrücke alle anderen Empfindungen.“1

Friedrich Schiller wird diesen Gedanken später wieder aufgreifen.

Diese humanistische Idee zur Verbesserung des Menschen wurde seit den griechischen Tragödiendichtern bis zu Lessing als gesellschaftliche Aufgabe verfolgt und von der „Frankfurter Schule“ bewußt hintertrieben.

Die Französische Revolution scheitert

Wer glaubte, daß diese Überlegungen eine abgehobene Diskussion für Spezialisten sei, wurde bald durch die Französische Revolution (1789-1799) eines Besseren belehrt. Die versprochene Freiheit und Humanität wurde enttäuscht, weil den Revolutionären die charakterliche Veredelung fehlte, die sie von ihren barbarischen Akten – 25.000-40.000 Hinrichtungen – abgehalten hätte. Dieser dämonische Wahn, den die „Frankfurter Schule“ heute wieder befürwortet, zerstörte das Ideal eines freien Individuums in einer gerechten Gesellschaft. Die Diktatur unter Napoleon war die Folge und führte zu 15 Jahren Krieg in Europa.

Der freiheitsliebende Friedrich Schiller war zunächst von den Idealen der Revolution fasziniert, wandte sich aber dann entsetzt ab. Er versuchte zu ergründen, weshalb die große Chance für eine Verbesserung der Gesellschaft scheiterte. In den Überlegungen Lessings fand er einen wichtigen Hinweis, wie die Kunst die Emotionen des Menschen läutern könne.

Den Unterschied zwischen Mensch und Tier spürte er bereits in seiner frühen Schrift Theosophie des Julius auf. Als Antwort auf die französische Revolution schrieb er eine tiefgründige Schrift, Über die ästhetische Erziehung des Menschen.

Er überrascht mit folgender Behauptung, daß der Mensch „nur durch Schönheit zu Freiheit gelangen könne.“ (2. Brief) Diese These schien lächerlich, wurde Schönheit doch so sinnlich wie ein Blumenstrauß gedacht. Doch Schiller, der schon im absolutistischen Württemberg und auf der Karlsschule seinen eigenen Kopf durchsetzte, stellt folgende Sicht vom Menschen auf.

Schillers Antwort

Zwei anscheinend (!) widersprüchliche Existenzen bestimmen den Menschen: Das Bleibende nennt er seine Person, das Wechselnde nennt er seinen jeweiligen Zustand.

„Person und Zustand, die wir uns in der Person als eins und dasselbe denken, sind ewig zwei im endlichen.“

„Bei aller Beharrung der Person wechselt der Zustand, bei allem Wechsel des Zustands beharret seine Person.“

Und noch eins gibt Schiller zu bedenken: „Das Bleibende, die Person muß ihr eigener Grund sein, denn das Bleibende kann nicht aus der Veränderung fließen – und so hätten wir fürs erste die Idee des absoluten in sich selbst gegründeten Sein, die Freiheit.“ (11. Brief)

Die Idee der Freiheit trennt Schiller auf ewig von den Materialisten. Und doch ist es diese Freiheitsidee, die selbst die Apostel der „Frankfurter Schule“ in den Bann schlägt. Immer wieder bringen sie Schiller auf die Bühne und banalisieren diese Idee. Für Schiller ist die Freiheit der Geschlechtscharakter des Menschen. „Der Mensch ist frei und würd’ er in Ketten geboren...“, heißt es in seinem Gedicht, „Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, vor dem freien Menschen fürchtet euch nicht.“ Oder „Sire, geben sie Gedankenfreiheit!“

Dieses Motiv ist und bleibt sein Thema.

Aber diese Freiheit muß wie ein hohes Gut erobert werden, sie ist nicht käuflich. Daher behauptet er: „Die Anlage zur Gottheit trägt der Mensch unwidersprechlich in seiner Persönlichkeit.“ (11. Brief )

Das Wechselnde hingegen ist das Werden des Menschen in der Zeit.

Schon bei der Geburt muß das kleine Wesen eine radikale Umstellung erleben. War es im Mutterleib geschützt und versorgt, so muß es jetzt eine selbstständige Atmung und Nahrungsaufnahme erlernen. Mittels seiner Sinne wird es sich die Außenwelt erschließen. Es wird die Stimme der Mutter erkennen und merken, wie sie seine Begierden stillt. „Aber seine Sinnlichkeit ohne Selbsttätigkeit des Geistes macht es bloß zur Materie. Solange der Mensch nur empfindet, bloß begehrt, aus bloßer Begierde wirkt ist er weiter nichts als Welt.“ (11. Brief)

Wem fällt hier nicht die Zockermentalität an der Börse ein, die Begierde des schnellen Geldes, des rastlosen Vergnügens, die ungebremste sexuelle Lust, Videospiele und die Reize der Spaßgesellschaft?

Wehe dem Menschen, dem ein großes Unglück widerfährt! Sei es, daß eine Krankheit ihm alle Pläne zunichte macht, sei es, daß er durch Betrug und Krieg verarmt oder unschuldig in Gefängnis muß. Was dann? Erst seine Persönlichkeit – nur seine Persönlichkeit – wird die Schicksalsschläge zu beherrschen wissen.

Er (seine Person) begleitet sozusagen den wechselnden Zustand – ob Freud oder Leid – und in allem Wechsel muß er selbst bleiben. „Diese Vorschrift ist ihm durch seine vernünftige Natur gegeben.“

Ohne Persönlichkeit wird er Raub seiner Sinne, seines Zorns, seiner Wut, seines Hasses auf die Welt. Ohne eine feste Identität wird das Unglück ihn vielleicht zum Trinker, zum feigen Mitläufer oder Verbrecher machen.

Erziehung der Sinne

Besitzt die Religion nicht ähnliche Grundsätze? Sind nicht die moralischen Gebote Haltepfosten, um über Abgründe zu gelangen? Zweifelsohne! Aber selbst ein gläubiger Mann wie der Hl. Petrus strauchelt: Wenn der Hahn dreimal kräht, wirst Du mich verleumdet haben.

Der 11. Brief enthält eine weitere Provokation. Der Leser hält die Stelle entweder für einen Druckfehler oder überliest sie:

„Die Anlage zur Gottheit trägt der Mensch unwidersprechlich in sich, aber der Weg zur Gottheit, wenn man einen Weg nennen kann, was niemals zum Ziele führt, ist ihm aufgetan in den Sinnen.“

Wie sollen die Sinne zu etwas Gutem taugen? In einem Geniestreich erkennt Schiller in den Sinnen nicht das Böse, sondern nur das Wilde und Ungezähmte. Wurden sie bis dahin von den britischen Philosophen Hume und Locke und I. Kant als unbeherrschbar und als unberechenbare Naturkraft eingestuft, die unterdrückt werden müsse, so erkannte Schiller in ihnen eine Kraft, die veredelt werden könne. Ein Funken im Munitionslager besitzt verheerende Wirkung, aber ein Funken im Motorkolben wird zur nutzbringenden Kraft.

Die Kunst habe seiner Meinung nach die Aufgabe, die rohen Triebe zu veredeln. Die ästhetische Erziehung ist für ihn die Voraussetzung, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen. Hiermit stellte er sich gegen Kant und die sog. Aufklärung.

Dieser Konflikt hat eine große politische Dimension. Aus der Unbeherrschbarkeit der Triebe der Massen leitete Kant wie auch seine britischen Vorbilder die Notwendigkeit einer unterdrückenden Staatsform ab.

Aber zurück zu Schillers Schrift. Die Veredelung der Triebe sei nichts, was dem Menschen von außen aufgezwungen werden könne. Das Potential zur Verbesserung müsse wie eine Pflanze selbstständig zum Wachsen kommen, aber bedürfe der Anregung zur Selbsttätigkeit.

„Die Wahrheit ist nichts, was so wie die Wirklichkeit oder das sinnliche Dasein der Dinge von außen empfangen werden kann. Sie ist etwas, was die Denkkraft selbsttätig und in ihrer Freiheit hervorbringt. Und diese Selbsttätigkeit, diese Freiheit ist es eben, die wir bei dem sinnlichen Menschen vermissen.“ (23. Brief) Aufgabe der Kultur sei es, die Gefühle zu erziehen und mit der Vernunft zu vereinen.

Er nennt die Potentiale Empfindungsvermögen und Erkenntnisvermögen, die er in der Anlage des Menschen zum Göttlichen verankert sieht. Ohne diese göttliche Tendenz wäre der Mensch nicht in der Lage, Wahrheiten zu erkennen und neue Erkenntnisse und Gesetze zu schaffen. Ohne diese Tendenz wäre der Mensch nicht empfänglich für das Gute, Schöne und Wahre.

Schönheit, unsere zweite Schöpferin

Heute wird der Schönheitsbegriff völlig entstellt als „ewige Jugend“ oder körperlich attraktiv mißverstanden. Von den Griechen bis zur Zeit Schillers verstand man darunter innere Wahrheit. Fasziniert nicht die Schönheit des Sternenhimmels, oder Leonardos Gemälde des Abendmahls Menschen verschiedenster Herkunft?

© Gemeinfrei

Coriolan vor den Toren Roms, Illustration zu Shakespeares Tragödie Coriolan von Gavin Hamilton, 1803.

Durch die Beschäftigung mit dem Schönen gelangt das Empfindungsvermögen von der Banalität zur höheren harmonischen Ordnung. Deshalb sollten Menschen innere Schönheit entdecken und empfinden lernen. Im Bildungssystem Wilhelm von Humboldts, des Freundes von Schiller, konnte das Empfindungsvermögen zu einer selbstständigen Kraft in den Schülern ausgebildet werden.

Schiller gibt in seiner Schrift Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen ein anschauliches Beispiel von innerer Schönheit aus der römischen Geschichte, das auch die Geschwister Scholl in ihrem ersten Flugblatt erwähnen.

Der stolze römische Feldherr Coriolan wird aus Rom verbannt und schwört ewige Rache. Vor der Einnahme und Vernichtung Roms besiegen ihn die Tränen der Mutter und der Gattin, sodaß er die so gut wie eroberte Stadt aufgibt. Er zieht mit seinen Herren, den Volpiern, ab, wohlwissend, daß ihn der Tod erwartet, da er seine Feldherrnpflicht mißachtet.

Wie berührend ist dies für unser Gemüt, denn er, ein großer Krieger, entsagt allen Regeln der Klugheit und rennt in sein eigenes Verderben, weil er das sittliche Gefühl vorzieht.

Woher kommt die Kraft, seinen Tod in Kauf zu nehmen, wenn er die Zerstörung Roms aufgibt? Kein Soldatenbatallion könnte ihn von seiner Aufgabe abhalten. Es sind auch nicht die Tränen der Mutter, sondern die Liebe zur sittlichen Ordnung.

Ein zweites Beispiel aus Schillers Drama Don Carlos ist hilfreich: Don Carlos erfährt das widernatürliche Schicksal, daß seine Geliebte und versprochene Braut von seinem Vater geheiratet wird. Seine gekränkte Liebe bringt ihn fast um den Verstand. Elisabeth, die neue Königin von Spanien, jetzt seine Mutter, versucht ihn auf die wirklichen Aufgaben auszurichten:

    „Gestehen Sie es, Carlos – Trotz ist es
    Und Bitterkeit und Stolz, was Ihre Wünsche
    So wütend nach der Mutter zieht. Die Liebe,
    Das Herz, das Sie verschwenderisch mir opfern,
    Gehört den Reichen an, die Sie dereinst
    Regieren sollen. Sehen Sie, Sie prassen
    Von Ihres Mündels anvertrautem Gut.
    Die Liebe ist Ihr großes Amt. Bis jetzt
    Verirrte sie zur Mutter. – Bringen Sie
    O, bringen Sie sie Ihren künft'gen Reichen
    Und fühlen Sie, statt Dolchen des Gewissens,
    Die Wollust, Gott zu sein. Elisabeth
    War Ihre erste Liebe; Ihre zweite
    Sei Spanien. Wie gerne, guter Carl,
    Will ich der besseren Geliebten weichen!“

In beiden Beispielen erwächst das Vernunftvermögen im Empfindungsvermögen und wird zu einer sittlichen Kraft. Im 27. Brief hebt Schiller den Sprung hervor, den der gesetzgeberische Geist (Elisabeth) auslöst:

    „Einen Sprung muß man es nennen, weil sich eine ganz neue Kraft hier in Handlung setzt, denn hier zum ersten Mal mischt sich der gesetzgeberische Geist in die Handlungen eines blinden Instinkts, unterwirft das willkürliche Verfahren der Einbildungskraft seiner unveränderlichen ewigen Einheit, legt seine Selbstständigkeit in das Wandelbare und seine Unendlichkeit in das Sinnliche.“

Das Überleben von Zivilisationen hängt von der ästhetischen Erziehung der Bürger ab, sich als Weltbürger zu verstehen und zu handeln.

Wenn wir auf die Weltkriege des letzten Jahrhunderts zurückblicken, fragt man sich, warum die Ideen großer Denker für einen guten Staat nicht beherzigt wurden. Nur die ästhetische Verbesserung erschafft uns die Möglichkeit, die Krise der Menschheit zum Besseren zu wenden.


Fußnote

1. Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie.