Eine Kultur der Wissenschaft und Schönheit steht uns allen zu
Von Jacques Cheminade
Jacques Cheminade, ehemaliger Präsidentschaftskandidat in
Frankreich, eröffnete am 6. September mit dem folgenden Vortrag den vierten
Abschnitt der Internetkonferenz des Schiller-Instituts.
„Wir stehen vor einem Rückschritt unserer internationalen Standards hin zu
einer unmenschlichen Barbarei“, schrieb vor zwei Jahren der Essayist und
Menschenrechtsexperte Jean Ziegler. Ende der 1970er Jahre charakterisierte der
amerikanische Denker und politische Visionär Lyndon LaRouche die Gegenkultur,
die diesen Rückschritt hervorgerufen hat, als „Sex, Drugs and Rock and Roll“ –
ein Etikett, das dann Ian Dury in seinem Album New Boots and Panties
als Ausdruck seiner Generation bekräftigte. Heute können wir es eine Kultur
des Todes nennen.
Die Gefahr von Krieg und sozialem Chaos, die heute den meisten Völkern der
Welt droht, bewirkte keine menschliche Mobilisierung in einer westlichen
Gesellschaft, in der die Realität als ein Spiel virtueller Avatare angesehen
wird. In den Werbespots und Plakaten, die Straßen und U-Bahnen unserer Städte
verunstalten, werden sinnliche Reize gegen den Verstand der Menschen benutzt,
sehr häufig in Verbindung mit irrationaler Gewalt. Schon in sehr jungen Jahren
werden unsere Kinder in ein solch destruktives, unreifes Universum
hineingezogen. Die ständige Wiederholung solcher Handlungen und Bilder erzeugt
Suchtprozesse wie bei Drogen, die die menschliche Phantasie irreleiten und
verhindern, daß sie sich mit Vernunft und Kreativität verbindet. Die
„offiziellen“ Nachrichten lügen oder verbreiten einen Strom schrecklicher
„Nachrichten aus aller Welt“ über Verbrechen, sexuellen Mißbrauch oder blutige
Kriegsschauplätze, während die sozialen Netzwerke ohnmächtige Verschwörungen
über dunkle Mächte oder übermächtige Staaten ausspeien.
Mit der Verbreitung von Google und digitalem Geld werden unsere
Gewohnheiten und Lebensweisen erfaßt und verfolgt unter ihrer kommerziellen
Kontrolle, und unter der politischen Kontrolle der NSA, wodurch eine
Überwachungsgesellschaft wie nie zuvor in der Weltgeschichte entsteht. Das
Schlimmste ist, daß wir dem Internet und den Banken freiwillig alle Daten
ausliefern, weil wir uns einreden lassen, es mache das Leben einfacher. So
wird unser Leben weg von der Realität gelenkt und eine hedonistische Angst vor
dem physischen Tod entfacht, während die meisten von uns unfähig sind, zu
reagieren und gegen die Gefahr zu mobilisieren, die wir fürchten.
Das ist es, was ich als erstes sagen muß, denn das ist es, worin wir leben.
Es hindert uns in Europa und in der westlichen Welt daran, für das absolut
notwendige Treffen der wichtigsten Weltmächte zu kämpfen, um eine neue,
friedliche Ordnung der Stabilität durch eine gemeinsame Entwicklung all
unserer Potentiale zu schaffen. Wir haben in Europa und in der ganzen
westlichen Welt den Sinn für das verloren, was Papst Paul VI. in seiner
Enzyklika Populorum progressio den neuen Namen für den Frieden nannte:
gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung.
Was ich Ihnen jetzt erzähle, ist von keiner morbiden Beobachtung
inspiriert, sondern von der durch die Menschheitsgeschichte bewiesenen
Überzeugung, daß wir solche uns auferlegten kulturellen Spielregeln genau in
dem Moment brechen können, wenn sie unerträglich werden – vorausgesetzt, wir
widmen unser Leben dieser Herausforderung und verpflichten uns, eine Kultur
des Lebens und der menschlichen Entdeckung vorzuleben.
Was ist mit uns geschehen?
Was ist also mit uns geschehen? Beziehen wir uns dazu darauf, was Lyndon
LaRouche am 27. Mai 2004 schrieb, als Antwort auf die Frage: „Was macht
Kultur?“ Ich zitiere: „John Foster Dulles und James Jesus Angleton stehen
exemplarisch für die Schlüsselpersonen, die einen wichtigen Teil des
Nazi-SS-Geheimdienstapparats in das Innere des späteren NATO-Systems
hineinholten.“
Dieses NATO-System ist die Wiege des Club of Rome und seiner
malthusianischen Auffassung, eine Welt mit notwendigerweise begrenzten
Ressourcen könne mehr Menschen nicht versorgen. Wie sein Chef Aurelio Peccei
schrieb: „Menschen sind wie Metastasen eines sich ausbreitenden Krebses,
dessen Wachstum gestoppt werden muß.“ Er war es, der zusammen mit Alexander
King die Behauptung verbreitete, eine Welt mit begrenzten Ressourcen könne
keine wachsende Bevölkerung versorgen.
Von diesem Standpunkt aus gelten Menschen als Raubtiere und
Umweltverschmutzer, die die Natur zerstören. Wie Prinz Philip von Edinburgh
einmal sagte: „Ich träume davon, zum Wohle der Menschheit als tödliches Virus
wiedergeboren zu werden“ – eine extreme, aber logische Schlußfolgerung. Der
„andere“ stellt keinen potentiellen Vorteil dar, sondern einen Feind, der
unsere Clique auszuplündern droht.
Erinnern wir uns hier daran, daß Prinz Philip selbst ein Virus desselben
Typs ist wie diejenigen, die von John Foster Dulles und J.J. Angleton
verbreitet wurden, eng mit Kreisen von Nazi-Familien verbunden. Für sie, als
Mitglieder einer herrschenden Oligarchie, gibt es nur Freunde und Feinde, und
nachdem sie ihre Feinde als eine Form des Bösen definiert haben, wird es
akzeptabel, deren Vernichtung in einer Kultur der Vernichtung zu fördern und
die Idee der menschlichen Universalität abzulehnen.
Die Organisationen, die zwischen 1922 und 1945 West- und Mitteleuropa
übernahmen, „waren politische Aktivposten eines Netzwerks, das von einer
Gruppe privater Finanzhäuser geschaffen und geleitet wurde und die Form einer
internationalen Synarchie annahm“. Diese hat nach 1945 und dem Tod von
Franklin Delano Roosevelt „die Form einer anglo-amerikanischen geprägten
,rechten Internationale’ angenommen“, einer Rechten mit einer linken Hand, je
nach den Umständen. Der Kongreß für kulturelle Freiheit war ihr Produkt nach
dem Zweiten Weltkrieg „ein haßerfüllter Schrei gegen das Vermächtnis des
Fortschritts der europäischen Zivilisation“, wie LaRouche hervorhob, ein
Schrei gegen die Renaissancen des 12. und 13. und 15. und 16. Jahrhunderts.
Um es an dieser Stelle klar zu sagen: Ihr haßerfüllter Schrei richtet sich
auch gegen alle anderen Zivilisationen, sei es das Indien der Veden
oder das China des Konfuzius und Menzius.
Ich habe betont, „eine linke Hand“, weil sie international den kriminellen
Schutz ihrer Interessen als „Schutzverantwortung für die Demokratie“
verbrämten – wie im Irak, in Libyen oder Syrien. Innenpolitisch fördern sie in
allen Nationen die gleiche dionysische Kultur des Hedonismus und der
Verachtung des sokratischen Dialogs und der Dialektik, wie schon die Sophisten
und später Nietzsche.
Teile und herrsche
Um das Vorgehen zu verstehen, muß man unbedingt untersuchen, wie das
historische „teile und herrsche“ des Britischen Empire in seiner
gegenwärtigen, mutierten Variante abläuft: Auf der einen Seite werden weiße
Rassisten benutzt, und auf der anderen die Kulte wütender Minderheiten, und
keiner davon hat eine Ahnung, was die gemeinsamen Ziele der Menschheit sind.
So geht das Empire vor: Es spielt Kräfte, die potentiell seine Feinde sein
könnten, durch organisierte Korruption und Entmenschlichung gegeneinander aus,
und durch die Manipulation ihrer irregeleiteten Emotionen tappen sie in die
Falle, gegeneinander zu kämpfen – beide in einer Welt der Spaltung und des
Hasses gegen den „anderen“, was heute durch die Algorithmen der sozialen
Netzwerke von Zuckerberg & Co. und die Gewalt von Videospielen und
Fernsehserien noch vervielfacht wird. Welche Legitimität ihr Kampf anfänglich
vielleicht hatte, sie sind entweder gefangen in bewaffneten Milizen, die davon
träumen, wieder zu lynchen, oder in Banden, die rufen „Burn, baby burn“ oder
„Tötet die Cops, nicht die Schweine“.
Das ist das genaue Gegenteil des „Vorteils des Anderen“ aus dem
Westfälischen Frieden von 1648 oder aus Martin Luther Kings politischem
Vortrag „Warum man seine Feinde lieben sollte“ (natürlich nicht, um ihre Ideen
zu unterstützen, sondern um in ihnen den menschlichen Funken zu entfachen, der
sie verändern kann). Erinnern wir uns, daß Tony Blair, der hinterhältige
Diener dieses anglo-amerikanischen Netzwerks, 1999 in Obamas Chicago erklärte,
das Ziel sei es, die „Westfälische Ordnung“ zu beenden: das Ende des
souveränen Nationalstaates, der auf dem Dienst an der Menschheit beruht, die
Errungenschaft, von der seitdem das zivilisierte moderne europäische Leben
abhängt.
Um ihre verbrecherische Idee eines universellen Faschismus zu
verwirklichen, fördert diese Oligarchie den Kampf zwischen Staaten oder
sogenannten Nationalismen, die sich darauf verpflichten, ihre Wurzeln oder
kleinlichen Interessen gegen die anderen zu verteidigen, ohne ein positives
Projekt für die Zukunft aller. Teile und herrsche: Sie gehen mit Staaten
ebenso vor wie mit ethnischen, rassischen oder politischen Vereinigungen,
gegen das Prinzip der Universalität.
Die Sache der Menschheit
In diesem Sinne ist eine pessimistische Haltung gegenüber den Vereinigten
Staaten von Amerika eine schlechte kulturelle Rhetorik. Aber so zu tun, als
seien die Vereinigten Staaten großartig gegenüber alle anderen, ist auch eine
schlechte Rhetorik. Echter, wahrer Optimismus besteht darin, zu beweisen, daß
die Vereinigten Staaten von Amerika genau dann großartig sind, wenn sie der
Sache der Menschheit dienen, wenn sie den Geist der Kreativität des
Amerikanischen Systems der Gründerväter heraufbeschwören oder in Notre Dame
oder im Dom von Florenz ansiedeln, oder wenn ihre Logistik den Kampf gegen den
Nazismus anführt.
Genau das gleiche könnte ich für Frankreich sagen. Charles de Gaulle
erklärte in seiner Rede vor der Universität von Mexiko am 18. März 1964:
„Jenseits der schrumpfenden Distanzen, der schwächer werdenden Ideologien
und der politischen Systeme, die ihren Schwung verlieren, und wenn sich die
Menschheit nicht eines Tages in einer monströsen Akt der Selbstzerstörung
vernichtet, bleibt die Tatsache, die unsere Zukunft beherrschen wird, die
Einheit des Universums: eine Sache – die des Menschen; eine Notwendigkeit –
die des Fortschritts der Welt und daher auch der Unterstützung all jener
Länder, die dies wünschen, um sich zu entwickeln; eine Pflicht – die des
Friedens. Diese bilden für unsere Gattung die Grundlage unserer Existenz.“
Eine Nation sollte nicht nur ihre eigenen Potentiale freisetzen, sondern
auch die der anderen. Der indische Philosoph und Dichter Rabindranath Tagore
drückte dies 1908 aus einem anderen Blickwinkel aus:
„Das Wahre und das Gute ist für uns alle, und wir sehen, wie sie sich trotz
aller entgegengesetzten Hindernisse und Kräfte niederlassen. Aber die
Fortsetzung ihres Fortschritts hängt von unseren Bemühungen für sie ab.“
An diesem Punkt sollten wir uns fragen, ob die europäische Zivilisation und
Kultur der Welt etwas Spezifisches zu bieten hat. Lyndon LaRouche
antwortet:
„Obwohl die Natur unserer Gattung überall gleich ist und daher eine
langfristige, weitreichende Notwendigkeit für die Konvergenz der Nationen auf
der Grundlage gemeinsamer Prinzipien des gegenseitigen Verhaltens besteht,
basiert die Geschichte der Entwicklung der europäischen Kultur auf der
grundlegenden Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, die im antiken
Griechenland und im mosaischen Prinzip wurzelt.“
Die kulturelle Rolle des Nationalstaats
Politisch bedeutet dies das Bemühen um die Errichtung einer wahren
nationalstaatlichen Republik der Bürger in Übereinstimmung mit diesen
Gründungsprinzipien. Der Beweis für diese Fähigkeit ist die Ausübung der
schöpferischen Kräfte, die allen menschlichen Individuen gegeben sind, wie das
Beispiel von Sokrates zeigt, der in Platons Dialog Menon einen Sklaven
dazu inspiriert, die Fläche des Quadrats zu verdoppeln, oder die Konstruktion
der Platonischen Körper und später die Errungenschaften von Keplers Entdeckung
der universellen Gravitation, Fermat, Huyghens, Leibniz, Gauß, Riemann und
vielen anderen, eine kontinuierliche Kette von Quellen diskontinuierlicher
Entdeckungen. Dies ist das Prinzip der Kultur des Nationalstaates: der
Eingriff des Menschen in die Natur und der soziale Prozeß, durch den der
Mensch die Macht seiner Gattung in der Natur und über sie vermehrt.
Die Gestalten von Prometheus und Jesus Christus sind die wichtigsten
Ausdrucksformen dieser Kultur. Prometheus wird heute verleumdet, besonders von
bösartigen oder verblendeten Ökologen, er stehe für den Kult der Macht an sich
und nicht des Vorteils des anderen. Die Wahrheit ist, daß die Oligarchie
Prometheus ebenso sehr haßt, wie Zeus es tut. Aischylos stellt in seinem
Entfesselten Prometheus die historische Wahrheit fest: Prometheus
verkörpert die Absicht, den Menschen – die Zeus im Zustand entmenschlichten
Viehs halten will – das Wissen um universelle physikalische Prinzipien zu
vermitteln.
Um es klar zu sagen: Es handelt sich um universelle physikalische
Prinzipien, die neu entdeckt und erlebt werden müssen, nicht um bloße
technische Formeln, die nachgeplappert werden wie von Papageien. In diesem
Sinne muß das prometheische Recht des menschlichen Individuums und der
Gesellschaft, an den Vorteilen des wissenschaftlichen und technischen
Fortschritts teilzuhaben, legitimerweise als eine Angelegenheit des
Naturrechts durchgesetzt werden.
Jesus Christus ist der Ausdruck der Liebe des Schöpfers zur Menschheit, so
wie Agapē die Essenz der Anwendung des Naturrechts in der Praxis der
Zivilisation ist. Sie verkörpert diese Liebe als Quelle der Schöpferkraft, die
jedem von uns gegeben ist. Matthäus 25,40 bringt dieses Sorge für alle
zum Ausdruck: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr einem meiner geringsten Brüder
und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“ Prometheus und Jesus
Christus stellen in der westlichen Kultur keinen Bruch und eine Kluft dar,
sondern eine Kontinuität der Sorge um die Entwicklung der Menschheit durch die
Anwendung ihrer schöpferischen Kräfte.
Lyndon LaRouche verfolgte mit seinen ersten Schülern und Mitarbeitern und
sein ganzes Leben lang genau dieses Prinzip: die Vermittlung von Entdeckungen
universeller physikalischer Prinzipien, die reproduzierbar sind, weil dies der
einzige Weg ist, auf dem sich unsere Spezies weiterentwickeln kann. Er
vermittelte immer das Recht auf Wissen, nicht um des Wissens willen, sondern
um einzugreifen, um die Gesellschaft zu verbessern. Er verfaßte Memoranden,
Artikel, persönliche Interventionen, um den Funken der Inspiration zu geben,
um die Vorstellungskraft über mathematische Beschreibungen hinaus anzuregen,
denn auch wenn Prinzipien mathematisch beschrieben werden, sind sie keine
mathematische Formel, sondern ein integraler, unteilbarer Gegenstand des
menschlichen Geistes und keines Objektes. Wir sind alle hier wegen seiner
Interventionen als ein wichtiger, einzigartiger Vertreter der Besonderheit der
europäischen Kultur und Zivilisation, die er mehr als jeder andere in die
Praxis umgesetzt hat. Aber er meinte wahre Inspiration und sagte oft:
„Imitiert mich nicht, das tun nur Epigonen, sondern laßt euch von meiner
Methode und meinen Bemühungen inspirieren und genießt den Fortschritt eures
Geistes.“
Erstens haben wir, wie ich eingangs sagte, unsere eigene Kultur verraten.
Was so fortgeschritten war, haben wir gegen uns selbst gerichtet.
Es begann gegen andere Nationen. In Indien plünderte, massakrierte und
zerstörte das Britische Empire mit Hilfe einer lokalen Oligarchie, die weder
mit unseren westlichen Werten noch mit der besten indischen Tradition der
Veden zu tun hatte. In China haben die imperialen britischen und
französischen Banditen, die Victor Hugo anprangerte, nicht nur den
Sommerpalast niedergebrannt, sondern in ganz Asien den Konsum von Opium
durchgesetzt, um die Bevölkerung zu zähmen und ihren Widerstand gegen die
Plünderung ihres Landes zu schwächen.
Seit dem 20. Jahrhundert, beginnend mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg,
wenden wir uns nun auch gegen unser eigenes Volk und taten ihm an, was wir den
anderen angetan hatten. Der gegenwärtige Schrecken der Gegenkultur, unsere
gegenwärtige Kultur des Todes, ist der endgültige Verrat an der Besonderheit
unserer europäischen Kultur und Zivilisation.
Zweitens ist unsere europäische Kultur kein Produkt, das einem
geographischen, geopolitischen oder sozialen Bereich vorbehalten ist. Sie ist
natürlich universell! Daher können wir sagen, daß das Erringen moderner Formen
der Souveränität durch weitere Nationen, wie China und Indien, darin besteht,
daß sie das Recht erlangt haben, ihre Angelegenheiten in einer Weise zu
regeln, die von den Errungenschaften der europäischen Form moderner souveräner
Nationen geprägt ist, die Fortschritte für den Menschen ermöglicht hat.
Das Paradoxe daran ist, daß eine solche, im europäischen
Nationalstaatsprinzip verankerte Unabhängigkeit gegen die koloniale
Degeneration der europäischen Staaten errungen werden mußte, was eine bessere
Zukunftsvision für die Menschheit als Ganzes mit sich brachte. Tagore betont,
die indische Gesellschaft müsse die westliche Entwicklung der Wissenschaft
nutzen, um die Naturkräfte mit Maschinen zu beherrschen, die dem Menschen
dienen, dürfe aber keine Ausbeutung des Menschen als Maschine hinnehmen. Wir
treffen hier auf ein wirkliches Konzept der Ökologie, anstelle von dem, das
von der Oligarchie verzerrt wurde, um die Idee zu verbreiten, der Mensch und
seine Maschinen seien notwendigerweise destruktiv.
Drittens lehrt uns unsere wahre europäische Kultur, Entdecker zu sein, die
nicht an ihren Wurzeln kleben, sondern von ihren Quellen aus voranschreiten
und sich davon inspirieren lassen, was wir noch nicht über andere Kulturen
wissen, anstatt zu versuchen, ihnen unsere Vorurteile aufzuzwingen.
Tagore und Einstein
Hören wir uns noch einmal Tagore, was er Einstein bei ihrem Treffen am 14.
Juli 1930 in Berlin antwortete:
„Die unendliche Persönlichkeit des Menschen begreift das Universum. Es kann
nichts geben, was nicht unter die menschliche Persönlichkeit subsumiert werden
kann, und dies beweist, daß die Wahrheit des Universums die menschliche
Wahrheit ist.“
In seiner Sadhana, das bedeutet geistig diszipliniertes Engagement,
schreibt er:
„Durch unseren Sinn für Wahrheit nehmen wir das Gesetz wahr, wenn wir das
Gesetz in der Natur erkennen, wir dehnen unsere Herrschaft über die physischen
Kräfte aus, und wir werden mächtig; wenn wir das Gesetz in unserer moralischen
Natur erkennen, erreichen wir die Herrschaft über unser Selbst, und wir werden
frei.
Umgekehrt gilt: Je mehr wir die Harmonie im physikalischen Universum
verstehen, desto mehr teilt unser Leben die Freude an der Schöpfung; unser
Ausdruck der Schönheit in der Kunst wird wahrhaft katholisch (im Sinne von
universell) ... Das ist der letzte Sinn unseres Daseins: Wir sollten immer
wissen, daß ,Schönheit Wahrheit und Wahrheit Schönheit ist.’“
Dies ist ein schöner Moment, in dem der Osten auf den Westen trifft: Tagore
zitiert aus Keats’ Ode auf einer griechischen Urne.
In seiner Religion des Menschen geht Tagore sogar noch weiter:
„Aus diesem Grund ist die menschlichste aller Tatsachen, wie wir es sehen,
daß wir eigentlich vom grenzenlosen Nicht-Erreichten träumen, was dem, was wir
erreicht haben, einen Sinn gibt. Von allen Geschöpfen lebt der Mensch und er
allein in einer grenzenlosen Zukunft. Unsere Gegenwart ist nur ein Teil davon.
Die Ideen, die noch geboren werden müssen, die Geister, die noch formlos sind,
fordern unsere Vorstellungskraft mit einer Beharrlichkeit heraus, die sie für
unsere Intelligenz noch realer macht als andere Dinge um uns herum.“
Genau so definierte Einstein – und LaRouche – die schöpferische Kraft der
Phantasie, die die Tore für zukünftige Schöpfungen öffnet. Später stellt
Tagore fest:
„Durch die Wissenschaft gehen wir mit einer Disziplin vor, die die
persönlichen Grenzen unterdrückt, und so erreichen wir jenes Verständnis von
Wahrheit, das im Geist des universellen Menschen angesiedelt ist.“
Für Tagore können Wahrheit und Schönheit nur aufgrund der Existenz des
Menschen existieren. Einstein ist zwar überzeugt, daß die Wahrheit vom
Menschen unabhängig ist, aber das ist nach seinen Kämpfen gegen Niels Bohr auf
der Solvay-Konferenz 1927 verständlich, da für Bohr die Wahrheit willkürlich
von menschlicher Beobachtung abhing! Das ist keineswegs die Ansicht Tagores,
der sich wie Einstein dafür einsetzt, die Kausalität im Universum durch die
Kraft der Vorstellungskraft zu finden.
Hören wir nun Einstein: „Die Entdeckung der Speziellen Relativitätstheorie
ist mir durch Intuition zuteil geworden, und die Musik war die treibende Kraft
hinter dieser Intuition. Meine Entdeckung ist das Ergebnis der musikalischen
Wahrnehmung.“
Einstein und Tagore, als wahre Genies, spielten und liebten Musik als eine
Kraft im Intervall der Noten, wo man erwartet, daß etwas logisch folgt, aber
plötzlich ein höheres Prinzip den Verstand über sich selbst erhebt, näher an
die „Natur der Wirklichkeit“.
Tagore war natürlich mit der westeuropäischen Kultur vertraut, mehr als die
meisten Europäer seiner Zeit, aber er erkannte, daß die Schwäche der
westlichen Kultur darin bestand, daß sie den Bereich der physikalischen
Phänomene und den der Ideen willkürlich voneinander trennte. Er fand in der
indischen Kultur, in den Veden, die Fähigkeit, das Universum als ein
einziges zu verstehen. Wahrheit, Güte und Schönheit sind in der Tat im Konzept
des Satyam Shivam Sunara eingeschlossen. Die Freude, solche Schönheit
zu sehen und an ihr teilzuhaben, ist Ananda, und Tagore nannte
Satchiananda die Freude, mit dem universellen Einen eins zu sein. In
diesem Sinne begegnen wir hier Schillers Briefen über die ästhetische
Erziehung des Menschen, über die Erziehung unserer Emotionen, die mit
unseren schöpferischen Kräften verbunden sind.
Die Notwendigkeit des Dialogs der Kulturen
Der Dialog der Kulturen ist daher notwendig, um sich gegenseitig mit dem
Besten zu bereichern, das jede von ihnen einbringen kann. Ein Gelehrter der
chinesischen Kultur bringt es auf interessante Weise auf den Punkt: Es ist die
Macht, die Fehler unserer eigene Kultur zu bereinigen, indem eine
Gegenüberstellung zur Überwindung gegenseitiger Beschränkungen führt. Nicht,
um Konformität zu erreichen, sondern um die Kompatibilität oder die
gleichzeitige Möglichkeit von beiden, wie Leibniz sagen würde, zu erreichen.
Nicht um eine Kluft zu überbrücken, sondern um den Widerspruch auf einer
höheren Ebene des Denkens aufzulösen, das, was Nikolaus von Kues das
Zusammenfallen der Gegensätze nannte, eine Kultur jenseits der gegebenen
kulturellen Grenzen.
Leihen wir nun der chinesischen Kultur unser Ohr. Der Schlüsselbegriff ist
ren, der Sinn für das Gute, das Wissen und die Liebe zur Menschheit,
auch wenn diese Übersetzung unvollkommen ist. Konfuzius definiert es in seinen
Gesprächen:
„Das Ren zu praktizieren bedeutet, bei sich selbst anzufangen, die
anderen so zu festigen, wie wir uns selbst festigen wollen, und ihre
Vollendung so sehr zu wünschen, wie wir unsere eigene wünschen. Finde in dir
selbst die Idee von allem, was du für die anderen tun kannst – das ist es, was
dich auf dem Weg zum Ren orientieren wird.“
Darum bedeutet das Tao in diesem Sinne mehr, zu wissen, wie man
geht, als eine Perfektion zu erreichen, die unerreichbar, aber als
Orientierung notwendig ist. Menzius, der geistige Erbe des Konfuzius, ergänzt
und antwortet einem Schüler:
„Die Sinnesorgane haben nicht die Fähigkeit, zu denken, und fixieren sich
auf äußere Objekte. Da es sich um einfache Objekte handelt, die mit anderen
Objekten in Berührung kommen, konnten die Sinne nur von ihnen angezogen
werden. Das Organ, das das Herz bzw. der Geist ist, hat nur die Fähigkeit, zu
denken. Wenn es denkt, wird es die Objekte verstehen, aber wenn es nicht
denkt, wäre es nicht in der Lage, sie zu verstehen. Das ist es, was der Himmel
uns geschenkt hat. Wenn wir anfangen, das aufzubauen, was in uns groß ist,
dann wird Kleinheit niemals siegen. Mehr ist nicht nötig, um ein großer Mensch
zu werden.“
Das Ren zu praktizieren verlangt daher, mit der Logik unserer
mentalen Gewohnheiten, die das Tao behindern, zu brechen und dem
anderen zu begegnen – nicht als Assimilation, sondern quasi als Chance für ein
„zweites Leben“. Der Unterschied zwischen mir und dem anderen wird nicht
aufgehoben, sondern auf unserem Weg entsteht eine neue Sicht, so wie in
chinesischen Gemälden eine Landschaft aus dem Nebel auftaucht.
So wie im westlichen Christentum das Ideal der Heilige ist, der sich
verpflichtet, das Gute zu tun, um das Böse zu verhindern, so ist in der
chinesischen Kultur das Ideal der Weise, der immer für die anderen da ist, um
eine Verbesserung des Weges zum Ren zu ermöglichen. Das ist
offensichtlich nicht dasselbe, aber die beiden sind nicht nur kompatibel,
sondern schaffen in einem höheren Universum eine Koinzidenz. Der große
deutsche Philosoph Leibniz stellte in seiner Novissima sinica fest, man
sollte Missionen vom Westen nach China entsenden, um die fortgeschrittensten
Wissenschaften – Kreativität im Bereich der Natur – zu lehren, während
Missionen vom Osten in den Westen geschickt werden sollten, um soziale
Harmonie – Kreativität im Bereich der menschlichen Beziehungen – zu lehren.
Es liegt an uns
Diese Gelegenheit wurde im 17. und 18. Jahrhundert verpaßt, aber ich bin
zutiefst davon überzeugt, daß sie uns jetzt wieder gegeben ist, wenn wir über
die gegenwärtigen, zerstörerischen Konfrontationen hinausgehen, die sowohl
gegen den Geist des Westens als auch gegen den Geist des Ostens, wie er von
China und Indien vertreten wird, gerichtet sind.
Das bedeutet nicht, daß die Regierungen unserer Länder perfekt sind – wenn
sie es wären, dann würden wir nicht gebraucht. Und wir werden sehr dringend
gebraucht, denn in der heutigen geopolitischen und finanziellen Lage, wo viele
implizit oder explizit denken, der Sieger könne alles an sich reißen, und in
den Menschen bloße Schachfiguren sehen, kann ein einziger militärischer Fehler
zur Auslöschung der Menschheit führen.
Meine tiefste Gewißheit ist, daß Ananda, Ren und Agape,
obwohl sie nicht dasselbe sind, alle von demselben menschlichen Impuls
geleitet werden, wo Schönheit, Güte und Wahrheit aufeinander treffen. Es liegt
an jedem von uns, dies in einem Dialog der Kulturen und Zivilisationen zu
beweisen, der den Weg zur Erreichung der gemeinsamen Ziele der Menschheit
findet.
Ich sagte, „nicht dasselbe“. Und das ist ein Glück, denn wir existieren in
verschiedenen Formen der Kongruenz zu einer Einheit. Wir müssen alle zu
Forschern werden, denn um unsere Aufgabe zu erfüllen, brauchen wir den Mut,
unsere eigene Denkweise zu überdenken, unsere Vorurteile zu erkennen, die uns
daran hindern, eine Hypothese zu formulieren, um eine gemeinsame bessere
Zukunft zu erreichen – ein Zeitalter der Vernunft, das von der Erziehung
unserer Emotionen inspiriert ist. Im Gegensatz zu dem, was ich eingangs sagte,
bin ich optimistisch, denn wie der russische Biogeochemiker Wladimir
Wernadskij bewiesen hat, hat die menschliche Kreativität uns immer mehr
Verantwortung für alles Leben gegeben.
Die Tatsache, daß wir alle gemeinsam hier sind, auch wenn nicht alle unsere
Ideen und Vorstellungen die gleichen sind, bestätigt meinen Optimismus,
unseren Optimismus, vorausgesetzt, wir kämpfen darum, ihn zu bewahren. Es ist
dieser rationale, informierte und emotionale Optimismus, den wir den
wichtigsten Staatsführern unserer Welt vermitteln müssen. Was wir in diesen
beiden Tagen [der Internetkonferenz] erreicht haben, sollte ihnen als Beispiel
dienen: Wenn wir zu Forschern und Schöpfern werden, wird das Zusammenfallen
der Gegensätze nicht nur eine Möglichkeit, sondern ein glücklicher Weg zur
Lösung aller Detailfragen. Das ist es, was LaRouche, Einstein, Tagore und
Konfuzius auf ihre eigene Weise der Menschheit als Geschenk gemacht haben. Ich
möchte hier keine Namen von lebenden Personen nennen, auch wenn ich vor
einigen großen Respekt habe, weil sie, wie wir alle hier, der Menschheit noch
viel zu geben haben.
Lassen Sie mich mit einem Zitat von Tagore schließen. Da Indien
offensichtlich seine Probleme hat, möchte ich ihm das Beste schenken, was es
uns allen geschenkt hat:
„Wir begegnen vielen Gesichtern in unserer Welt, aber nur einige von ihnen
dringen in unseren Geist ein, fast ohne unser Wissen. Nicht wegen ihrer
Schönheit drängen sie uns ihre Gegenwart auf, sondern wegen einer anderen
Eigenschaft. In den meisten Gesichtern zeigt sich die menschliche Natur nicht,
aber es gibt einige wenige, in denen sich diese geheimnisvolle, innere
Qualität spontan manifestiert. Dann sticht ein solches Gesicht unter Tausenden
von anderen hervor und drängt sich plötzlich unserem Geist auf.“
Ich bin optimistischer als Tagore. Ich weiß, daß jeder und jede von uns
sich ein solches Gesicht erschaffen kann – eingeschlossen die noch so
unvollkommenen Führer der größten Staaten –, wenn wir uns hier der vor uns
liegenden Herausforderung stellen, aus der herrschenden, ekelhaften,
kriminellen, unmenschlichen Barbarei herauszukommen.
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