Die Weltraumfahrt zeigt unsere wahre Identität als kreative Wesen
Von Helga Zepp-LaRouche
Bei der New Yorker Konferenz des Schiller-Instituts „Die Menschheit als
galaktische Gattung: die notwendige Alternative zum Krieg“ hielt die Vorsitzende
des Schiller-Instituts am 5. Oktober 2019 die folgende Rede. Der Text wurde für
den Abdruck leicht überarbeitet, die Zwischenüberschriften wurden von der
Redaktion hinzugefügt. Den Mitschnitt der vierstündigen Konferenz finden Sie im
englischen Original im Youtube-Kanal des Schiller-Instituts unter:
https://www.youtube.com/watch?v=cXh3FbTPNwM
Ich freue mich, zu Ihnen zu sprechen, auch wenn es nur über das Internet und
Video ist. Aber heute ist ein wirklich freudiger Tag. Überall auf der Erde und
sogar darüber – nämlich auf der ISS (Internationalen Raumstation) – gibt es
Feierlichkeiten zum Internationalen Tag der Mondbeobachtung. Die Menschen, die
ihn feiern, haben sich alle an einer sehr gesunden Krankheit angesteckt: dem
Mondfieber! Die jährliche Feier des Mond-Tages begann erst vor zehn Jahren. In
diesem Jahr sind es 1564 Veranstaltungen, die auf der ganzen Welt stattfinden:
in den Vereinigten Staaten 526, in Europa 298, in Indien 268, in China 67, in
Afrika 27, in Lateinamerika 103.
Die Zahl der Menschen, die an den Beobachtungen teilnehmen, geht in die
Hunderttausende, wahrscheinlich sogar Millionen. Ich denke, ich sage nicht zu
viel, wenn ich betone, daß diese Menschen die Vorhut der zukünftigen Identität
der Zivilisation sind. Weil sie verstehen, daß die Menschheit vereint sein muß,
nicht in einem Wettlauf ins All um des Wettbewerbs willen, sondern durch
Kooperation, denn nur so kann man eine langfristige, nachhaltige Existenz der
menschlichen Gattung im Weltraum erreichen.
Schon Nikolaus von Cusa, der große Denker im 15. Jahrhundert, kam zu dem
Schluß, daß der einzige Grund, warum Vertreter verschiedener Nationen, Kulturen
und Sprachen überhaupt miteinander kommunizieren können, darin liegt, daß sie
alle große Wissenschaftler hervorbringen. Ich möchte besonders hinzufügen: Sie
haben die Astrophysiker hervorgebracht, die verstehen, daß die Zukunft der
Menschheit darin liegt, eine galaktische Gattung zu sein.
Die Macht der Raumfahrt und Weltraumforschung
Ich möchte unseren Mitstreiter Krafft Ehricke zitieren, der bis zu seinem Tod
Vorstandsmitglied des Schiller-Instituts war. Er hat sehr deutlich beschrieben,
warum Raumfahrt und Weltraumforschung so wichtig sind. In seiner
Anthropologie der Astronautik, die er 1957 verfaßte, schrieb er:
„Das Konzept der Raumfahrt bringt eine enorme Wirkung mit sich, weil sie den
Menschen in praktisch jedem Aspekt seiner physischen und geistigen Existenz
herausfordert. Die Idee, zu anderen Himmelskörpern zu reisen, reflektiert im
höchsten Grade die Unabhängigkeit und Beweglichkeit des menschlichen Geistes.
Sie verleiht den technischen und wissenschaftlichen Unternehmungen des Menschen
höchste Würde. Und vor allem berührt sie die Sichtweise seiner Existenz
selbst.
Infolgedessen mißachtet die Idee der Raumfahrt nationale Grenzen, sie weigert
sich, Unterschiede der historischen oder ethnischen Herkunft anzuerkennen, und
sie durchdringt das Gewebe des einen soziologischen oder politischen
Glaubensbekenntnisses so schnell wie das des anderen.
Als technisches Konzept ist die Astronautik allumfassend und revolutionärer
als alles, was der Mensch bisher erdacht hat, selbst die Kerntechnik
eingeschlossen. Als wissenschaftliches Konzept wird sie praktisch alle Bereiche
stimulieren und erneuern, von der Astronomie bis zur Zoologie. Sie ist von
solcher soziologischer und politischer Tragweite, daß zukünftige Generationen
selbst die kühnsten Vorhersagen unserer Zeit wohl noch als ,vorsichtig’
bezeichnen werden.“
Diese unglaubliche Kraft der Raumfahrt und Weltraumforschung wird
offensichtlich, wenn man darüber nachdenkt, daß die Idee, der Mensch könne die
Erde verlassen und zu anderen Planeten reisen, erst 144 Jahre alt ist. Sie wurde
erstmals in Jules Vernes Roman Von der Erde zum Mond vorgestellt. Das war
ein Roman, aber er hatte viele sehr präzise Vorhersagen, die später wahr wurden.
Ich würde es eher eine Vision für die Zukunft der Menschheit als Science Fiction
nennen, denn es inspirierte viele der Weltraumpioniere, wie Konstantin
Ziolkowski, nach dem übrigens ein Krater auf der erdabgewandten Seite des Mondes
benannt ist – er war ein russischer Weltraumpionier –, Hermann Oberth, Robert
Goddard und natürlich Krafft Ehricke selbst, der auf Hermann Oberths Schultern
stand, aber auch sehr von Fritz Langs Film Die Frau im Mond aus dem Jahr
1929 inspiriert war.
Heute sind wir weit über den Roman und den Film hinaus. Die Raumfahrt ist zu
einer wissenschaftlich anerkannten Disziplin geworden, und höchstens
Höhlenmenschen machen sich lustig über diejenigen, die sie vorantreiben, so wie
1988 einige Mainstream-Medien über meinen Mann wegen seines wunderbaren Films
The Woman on Mars, den Sie sich alle ansehen sollten, mit seiner schönen
Vision, den Mars zu kolonisieren.
Heute haben mehrere Länder Mond- und Marsprojekte – die USA mit ihrem
Artemis-Projekt, Indien, China, die ESA [European Space Agency], die heutzutage
tatsächlich das Beste des europäischen Denkens verkörpert. Ihr Generaldirektor
Johann-Dietrich Wörner hat sogar „Space 4.0“ angekündigt und gesagt, daß das
internationale Monddorf, das die ESA hoffentlich in Zusammenarbeit mit allen
anderen Raumfahrtagenturen bauen will, nicht mehr nur einigen wenigen
Raumfahrtnationen vorbehalten sein, sondern allen Regierungen,
Privatunternehmen, Forschung und Industrie offen stehen wird.
Es sind natürlich noch einige Hindernisse zu überwinden, aber es gibt
vielversprechende Anzeichen für eine internationale Zusammenarbeit. So
koordinierten die NASA und die chinesische nationale Weltraumbehörde einige
Arbeiten bei der jüngsten Landung der Mondmission Chang'e-4, bei der die
Mondlandesonde und Yutu-2 auf der erdabgewandten Seite des Mondes
landeten. Bilder der Landung von Chang’e-4 wurden vom Lunar
Reconnaissance Orbiter (LRO) der NASA aufgenommen und im Februar veröffentlicht.
Dies war eindeutig ein erster Schritt in der Zusammenarbeit zwischen Amerika und
China, die durch den Wolf-Gesetzeszusatz noch stark behindert wird [dieses
Gesetz des US-Kongresses verbietet der NASA Kooperation mit Chinas
Weltraumagentur]. Der leitende Wissenschaftler des chinesischen Mondprogramms,
Wu Weiren, bezog sich kürzlich auf eine Anfrage der NASA, gestellt vor einigen
Jahren auf einer internationalen Konferenz, die darum bat,
Chang’e-4-Raumschiffe und den chinesischen Satelliten von der erdfernen
Seite „auszuleihen“, um eine Mission auf der erdabgewandten Seite des Mondes zu
planen.
Natürlich besteht eine umfassende Zusammenarbeit zwischen der NASA, der
russischen Weltraumbehörde Roskosmos, der ESA, der indischen
Weltraumorganisation und sogar mit vielen Entwicklungsländern, die jetzt
zusammenarbeiten. Das ist die Vision von Krafft Ehricke und auch von meinem Mann
Lyndon LaRouche, daß der Mond die erste Kolonie dieser ganzen Unternehmung sein
würde. Ziolkowski sagte: „Es ist wahr, daß die Erde die Wiege der Menschheit
ist; aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben. Das Sonnensystem wird
unser Kindergarten sein.“ Krafft Ehrickes Vision von der Mondstadt Selenopolis
wird jetzt Wirklichkeit. Lyndon LaRouches Idee einer Marskolonie ist nun ganz
konkret auf dem Tisch, mit Artemis und mit der chinesischen Marsmission 2020,
die testen wird, ob es möglich ist, auf dem Mars Terraforming zu betreiben, bei
der auch die ESA mitwirkt. Ein Modell für eine solche Marsstadt gibt es bereits
in der Wüste Gobi in China.
Warum den Weltraum erobern?
Das Schöne an diesem Projekt ist, Weltraumprojekte beweisen, daß der Mensch
in der Lage ist, alle scheinbar unüberwindbaren Hindernisse zu überwinden. Lyn
[LaRouche] stellte in einer seiner vielen schönen Schriften über den Weltraum
die Frage: „Warum sollte der Mensch den Weltraum erobern? Warum, fragen viele
Menschen, sollen wir soviel Geld für den Weltraum ausgeben, wenn es so viele
Probleme auf der Erde gibt?“ Heute gibt es einen Vertreter dieser
Weltanschauung, Bernie Sanders, der wegen seines „Green New Deal“ zuerst alle
Probleme auf der Erde lösen will, um erst dann den Rest für NASA-Projekte
auszugeben. Es erinnert an Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen, aber ich
kann nicht sehen, wie man mit Windmühlen als Energieträger zum Mond oder Mars
oder anderen Planeten gelangen kann.
Es liegt in der Natur des Menschen, alle Herausforderungen zu meistern, indem
er das Unbekannte erforscht. Krafft Ehricke erinnert an frühere qualitative
Fortschritte – nur um Ihnen eine Vorstellung davon zu vermitteln, daß die
Menschheit immer wieder solche Schritte ins Unbekannte gemacht hat. Er bezieht
sich auf Homer, der in der Odyssee beschreibt, wie Odysseus ein Schiff
besteigt, ohne zu wissen, wo er ankommen wird. Dann gab es natürlich die
Operation des Kolumbus, die zur Entdeckung der Neuen Welt führte; auch er wußte
nicht genau, wo er ankommen würde, obwohl er Karten von Toscanelli und klare
Vorstellungen hatte. Dennoch lief es nicht genau so, wie es geplant war. Denken
Sie auch an Jurij Gagarin, den ersten Menschen im All, oder an die
Apollo-8-Mission. Jedes Mal wurde ein qualitativer Schritt gemacht, Grenzen
überwunden.
Angesichts dieser Perspektive ist es ganz klar, daß auch Kolonien auf Mond
und Mars nicht das Ende sein werden. Sie werden nur das Sprungbrett für eine
neue Ära der Entdeckungen zukünftiger kosmischer Zivilisationen sein.
Offensichtlich hat die Weltraumforschung zwar auch einen utilitaristischen
Wert, man hört oft das Zitat: „Jeder Cent, der für das Apollo-Projekt ausgegeben
wurde, brachte 14 Cent Gewinn.“ Aber es gibt viele zukunftsweisende Vorteile der
Raumfahrttechnik, auch heute schon. So wird beispielsweise die Landwirtschaft
durch die Raumfahrttechnik erheblich unterstützt. Es gibt Weltraummedizin; neue
Materialien; die riesigen Ressourcen auf anderen Himmelskörpern. Man denke an
all die Durchbrüche bei den grundlegenden Fragen der Gesetze des Universums, von
denen wir nicht einmal eine Ahnung hätten, wenn wir nur mit der Nase auf die
Erde schauen würden.
Lyndon LaRouche schrieb 1986 in seinem Aufsatz „Die notwendige Wissenschaft
und Technologie für die Kolonisierung des Mars“, es sei absolut notwendig, die
Erdatmosphäre zu verlassen und Orte wie die erdabgewandte Seite des Mondes oder
den Mars zu besuchen, denn das sei die unerläßliche Voraussetzung dafür, das
gesamte Spektrum der elektromagnetischen Strahlung zu erforschen, von den sehr
langen bis zu den sehr kurzen Wellen, die von den zahllosen fernen Sternen und
Galaxien ausgehen.
Wenn wir in diese Richtung gehen, werden sich neue Fragen stellen, Fragen,
die heute noch nicht einmal bekannt sind. Wir werden sogenannte Anomalien
finden, die sich als störende Widersprüche zwischen den Experimenten und den
Lehrbüchern manifestieren werden. Dies wird aus der Kombination von Astrophysik,
Mikrophysik und optischer Biophysik entstehen. Jedesmal, wenn eine solche
Anomalie auftritt, wird das die Tür zu neuen Erkenntnissen über das Universum
öffnen.
Das erfordert unbedingt eine internationale Zusammenarbeit. Im April
veröffentlichte die Arbeitsgruppe des Event Horizon Teleskops die ersten Bilder
der unmittelbaren Umgebung des ersten verifizierten Schwarzen Lochs, und zwar in
der Galaxie M87. Diese Galaxie ist nur 55 Millionen Lichtjahre von uns entfernt,
die Masse ist 6,5 Milliarden Mal so groß wie die Masse unserer Sonne. Mit dieser
Entdeckung wurden die theoretische Hypothese von Albert Einsteins Allgemeiner
Relativitätstheorie und die Annahme der Existenz solcher Schwarzen Löcher nach
mehr als hundert Jahren bewiesen. Dazu brauchte man die internationale
Zusammenarbeit vieler Länder auf der ganzen Welt, von Hunderten
Wissenschaftlern, die an zehn Radioteleskopen an Orten auf der ganzen Welt
arbeiten. Dieser Umfang war notwendig, um diese erfolgreiche Bildgebung zu
ermöglichen.
Ähnlich wird eine Kolonie auf dem Mars, die sich selbst versorgen und
langfristig bestehen soll, nur funktionieren, wenn sie die Größe einer Stadt mit
Hunderten, wenn nicht Tausenden Wissenschaftlern und vielen weiteren Menschen in
lebenserhaltenden Systemen hat – auch das erfordert eine internationale
Zusammenarbeit. All dies hat eine tiefere anthropologische Bedeutung.
Lyndon LaRouche hat zu Recht gesagt, daß wir nicht nur die Spanne dieses
Jahrhunderts betrachten müssen, sondern auch das nächste Jahrhundert und einige
Jahrhunderte darüber hinaus. In dieser Zeit wird der Mensch nicht nur in der
Lage sein, im Sonnensystem zu agieren, sondern sehr wahrscheinlich in der
gesamten Galaxis – und in einer noch ferneren Zukunft vielleicht sogar darüber
hinaus.
Damit ist eine grundlegende Frage nach der Natur des Menschen verbunden. Da
wir uns als Spezies aus sehr primitiven Formen entwickelt haben – von der
Steinzeit über viele Schritte darüber hinaus –, ist es sehr klar, daß der
Mensch, indem er den Weltraum erobert, indem er Kolonien auf anderen Planeten
aufbaut, seine Identität als Menschheit verändern wird. Ich bin absolut
optimistisch, daß das Ergebnis sehr positiv sein wird. Wir werden durch die
Erweiterung des Wissens über das physische Universum und auch durch die
ästhetische Bildung unseren moralischen Charakter weiterentwickeln. Ich denke
also, die Raumfahrt wird bedeuten, daß die Menschheit in nicht allzu ferner
Zukunft wahrhaft menschlich werden wird.
|