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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Die Weltraumfahrt zeigt unsere wahre Identität als kreative Wesen

Von Helga Zepp-LaRouche

Bei der New Yorker Konferenz des Schiller-Instituts „Die Menschheit als galaktische Gattung: die notwendige Alternative zum Krieg“ hielt die Vorsitzende des Schiller-Instituts am 5. Oktober 2019 die folgende Rede. Der Text wurde für den Abdruck leicht überarbeitet, die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt. Den Mitschnitt der vierstündigen Konferenz finden Sie im englischen Original im Youtube-Kanal des Schiller-Instituts unter:
https://www.youtube.com/watch?v=cXh3FbTPNwM

Ich freue mich, zu Ihnen zu sprechen, auch wenn es nur über das Internet und Video ist. Aber heute ist ein wirklich freudiger Tag. Überall auf der Erde und sogar darüber – nämlich auf der ISS (Internationalen Raumstation) – gibt es Feierlichkeiten zum Internationalen Tag der Mondbeobachtung. Die Menschen, die ihn feiern, haben sich alle an einer sehr gesunden Krankheit angesteckt: dem Mondfieber! Die jährliche Feier des Mond-Tages begann erst vor zehn Jahren. In diesem Jahr sind es 1564 Veranstaltungen, die auf der ganzen Welt stattfinden: in den Vereinigten Staaten 526, in Europa 298, in Indien 268, in China 67, in Afrika 27, in Lateinamerika 103.

Die Zahl der Menschen, die an den Beobachtungen teilnehmen, geht in die Hunderttausende, wahrscheinlich sogar Millionen. Ich denke, ich sage nicht zu viel, wenn ich betone, daß diese Menschen die Vorhut der zukünftigen Identität der Zivilisation sind. Weil sie verstehen, daß die Menschheit vereint sein muß, nicht in einem Wettlauf ins All um des Wettbewerbs willen, sondern durch Kooperation, denn nur so kann man eine langfristige, nachhaltige Existenz der menschlichen Gattung im Weltraum erreichen.

Schon Nikolaus von Cusa, der große Denker im 15. Jahrhundert, kam zu dem Schluß, daß der einzige Grund, warum Vertreter verschiedener Nationen, Kulturen und Sprachen überhaupt miteinander kommunizieren können, darin liegt, daß sie alle große Wissenschaftler hervorbringen. Ich möchte besonders hinzufügen: Sie haben die Astrophysiker hervorgebracht, die verstehen, daß die Zukunft der Menschheit darin liegt, eine galaktische Gattung zu sein.

Die Macht der Raumfahrt und Weltraumforschung

Ich möchte unseren Mitstreiter Krafft Ehricke zitieren, der bis zu seinem Tod Vorstandsmitglied des Schiller-Instituts war. Er hat sehr deutlich beschrieben, warum Raumfahrt und Weltraumforschung so wichtig sind. In seiner Anthropologie der Astronautik, die er 1957 verfaßte, schrieb er:

    „Das Konzept der Raumfahrt bringt eine enorme Wirkung mit sich, weil sie den Menschen in praktisch jedem Aspekt seiner physischen und geistigen Existenz herausfordert. Die Idee, zu anderen Himmelskörpern zu reisen, reflektiert im höchsten Grade die Unabhängigkeit und Beweglichkeit des menschlichen Geistes. Sie verleiht den technischen und wissenschaftlichen Unternehmungen des Menschen höchste Würde. Und vor allem berührt sie die Sichtweise seiner Existenz selbst.

    Infolgedessen mißachtet die Idee der Raumfahrt nationale Grenzen, sie weigert sich, Unterschiede der historischen oder ethnischen Herkunft anzuerkennen, und sie durchdringt das Gewebe des einen soziologischen oder politischen Glaubensbekenntnisses so schnell wie das des anderen.

    Als technisches Konzept ist die Astronautik allumfassend und revolutionärer als alles, was der Mensch bisher erdacht hat, selbst die Kerntechnik eingeschlossen. Als wissenschaftliches Konzept wird sie praktisch alle Bereiche stimulieren und erneuern, von der Astronomie bis zur Zoologie. Sie ist von solcher soziologischer und politischer Tragweite, daß zukünftige Generationen selbst die kühnsten Vorhersagen unserer Zeit wohl noch als ,vorsichtig’ bezeichnen werden.“

Diese unglaubliche Kraft der Raumfahrt und Weltraumforschung wird offensichtlich, wenn man darüber nachdenkt, daß die Idee, der Mensch könne die Erde verlassen und zu anderen Planeten reisen, erst 144 Jahre alt ist. Sie wurde erstmals in Jules Vernes Roman Von der Erde zum Mond vorgestellt. Das war ein Roman, aber er hatte viele sehr präzise Vorhersagen, die später wahr wurden. Ich würde es eher eine Vision für die Zukunft der Menschheit als Science Fiction nennen, denn es inspirierte viele der Weltraumpioniere, wie Konstantin Ziolkowski, nach dem übrigens ein Krater auf der erdabgewandten Seite des Mondes benannt ist – er war ein russischer Weltraumpionier –, Hermann Oberth, Robert Goddard und natürlich Krafft Ehricke selbst, der auf Hermann Oberths Schultern stand, aber auch sehr von Fritz Langs Film Die Frau im Mond aus dem Jahr 1929 inspiriert war.

Heute sind wir weit über den Roman und den Film hinaus. Die Raumfahrt ist zu einer wissenschaftlich anerkannten Disziplin geworden, und höchstens Höhlenmenschen machen sich lustig über diejenigen, die sie vorantreiben, so wie 1988 einige Mainstream-Medien über meinen Mann wegen seines wunderbaren Films The Woman on Mars, den Sie sich alle ansehen sollten, mit seiner schönen Vision, den Mars zu kolonisieren.

Heute haben mehrere Länder Mond- und Marsprojekte – die USA mit ihrem Artemis-Projekt, Indien, China, die ESA [European Space Agency], die heutzutage tatsächlich das Beste des europäischen Denkens verkörpert. Ihr Generaldirektor Johann-Dietrich Wörner hat sogar „Space 4.0“ angekündigt und gesagt, daß das internationale Monddorf, das die ESA hoffentlich in Zusammenarbeit mit allen anderen Raumfahrtagenturen bauen will, nicht mehr nur einigen wenigen Raumfahrtnationen vorbehalten sein, sondern allen Regierungen, Privatunternehmen, Forschung und Industrie offen stehen wird.

Es sind natürlich noch einige Hindernisse zu überwinden, aber es gibt vielversprechende Anzeichen für eine internationale Zusammenarbeit. So koordinierten die NASA und die chinesische nationale Weltraumbehörde einige Arbeiten bei der jüngsten Landung der Mondmission Chang'e-4, bei der die Mondlandesonde und Yutu-2 auf der erdabgewandten Seite des Mondes landeten. Bilder der Landung von Chang’e-4 wurden vom Lunar Reconnaissance Orbiter (LRO) der NASA aufgenommen und im Februar veröffentlicht. Dies war eindeutig ein erster Schritt in der Zusammenarbeit zwischen Amerika und China, die durch den Wolf-Gesetzeszusatz noch stark behindert wird [dieses Gesetz des US-Kongresses verbietet der NASA Kooperation mit Chinas Weltraumagentur]. Der leitende Wissenschaftler des chinesischen Mondprogramms, Wu Weiren, bezog sich kürzlich auf eine Anfrage der NASA, gestellt vor einigen Jahren auf einer internationalen Konferenz, die darum bat, Chang’e-4-Raumschiffe und den chinesischen Satelliten von der erdfernen Seite „auszuleihen“, um eine Mission auf der erdabgewandten Seite des Mondes zu planen.

Natürlich besteht eine umfassende Zusammenarbeit zwischen der NASA, der russischen Weltraumbehörde Roskosmos, der ESA, der indischen Weltraumorganisation und sogar mit vielen Entwicklungsländern, die jetzt zusammenarbeiten. Das ist die Vision von Krafft Ehricke und auch von meinem Mann Lyndon LaRouche, daß der Mond die erste Kolonie dieser ganzen Unternehmung sein würde. Ziolkowski sagte: „Es ist wahr, daß die Erde die Wiege der Menschheit ist; aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben. Das Sonnensystem wird unser Kindergarten sein.“ Krafft Ehrickes Vision von der Mondstadt Selenopolis wird jetzt Wirklichkeit. Lyndon LaRouches Idee einer Marskolonie ist nun ganz konkret auf dem Tisch, mit Artemis und mit der chinesischen Marsmission 2020, die testen wird, ob es möglich ist, auf dem Mars Terraforming zu betreiben, bei der auch die ESA mitwirkt. Ein Modell für eine solche Marsstadt gibt es bereits in der Wüste Gobi in China.

Warum den Weltraum erobern?

Das Schöne an diesem Projekt ist, Weltraumprojekte beweisen, daß der Mensch in der Lage ist, alle scheinbar unüberwindbaren Hindernisse zu überwinden. Lyn [LaRouche] stellte in einer seiner vielen schönen Schriften über den Weltraum die Frage: „Warum sollte der Mensch den Weltraum erobern? Warum, fragen viele Menschen, sollen wir soviel Geld für den Weltraum ausgeben, wenn es so viele Probleme auf der Erde gibt?“ Heute gibt es einen Vertreter dieser Weltanschauung, Bernie Sanders, der wegen seines „Green New Deal“ zuerst alle Probleme auf der Erde lösen will, um erst dann den Rest für NASA-Projekte auszugeben. Es erinnert an Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen, aber ich kann nicht sehen, wie man mit Windmühlen als Energieträger zum Mond oder Mars oder anderen Planeten gelangen kann.

Es liegt in der Natur des Menschen, alle Herausforderungen zu meistern, indem er das Unbekannte erforscht. Krafft Ehricke erinnert an frühere qualitative Fortschritte – nur um Ihnen eine Vorstellung davon zu vermitteln, daß die Menschheit immer wieder solche Schritte ins Unbekannte gemacht hat. Er bezieht sich auf Homer, der in der Odyssee beschreibt, wie Odysseus ein Schiff besteigt, ohne zu wissen, wo er ankommen wird. Dann gab es natürlich die Operation des Kolumbus, die zur Entdeckung der Neuen Welt führte; auch er wußte nicht genau, wo er ankommen würde, obwohl er Karten von Toscanelli und klare Vorstellungen hatte. Dennoch lief es nicht genau so, wie es geplant war. Denken Sie auch an Jurij Gagarin, den ersten Menschen im All, oder an die Apollo-8-Mission. Jedes Mal wurde ein qualitativer Schritt gemacht, Grenzen überwunden.

Angesichts dieser Perspektive ist es ganz klar, daß auch Kolonien auf Mond und Mars nicht das Ende sein werden. Sie werden nur das Sprungbrett für eine neue Ära der Entdeckungen zukünftiger kosmischer Zivilisationen sein.

Offensichtlich hat die Weltraumforschung zwar auch einen utilitaristischen Wert, man hört oft das Zitat: „Jeder Cent, der für das Apollo-Projekt ausgegeben wurde, brachte 14 Cent Gewinn.“ Aber es gibt viele zukunftsweisende Vorteile der Raumfahrttechnik, auch heute schon. So wird beispielsweise die Landwirtschaft durch die Raumfahrttechnik erheblich unterstützt. Es gibt Weltraummedizin; neue Materialien; die riesigen Ressourcen auf anderen Himmelskörpern. Man denke an all die Durchbrüche bei den grundlegenden Fragen der Gesetze des Universums, von denen wir nicht einmal eine Ahnung hätten, wenn wir nur mit der Nase auf die Erde schauen würden.

Lyndon LaRouche schrieb 1986 in seinem Aufsatz „Die notwendige Wissenschaft und Technologie für die Kolonisierung des Mars“, es sei absolut notwendig, die Erdatmosphäre zu verlassen und Orte wie die erdabgewandte Seite des Mondes oder den Mars zu besuchen, denn das sei die unerläßliche Voraussetzung dafür, das gesamte Spektrum der elektromagnetischen Strahlung zu erforschen, von den sehr langen bis zu den sehr kurzen Wellen, die von den zahllosen fernen Sternen und Galaxien ausgehen.

Wenn wir in diese Richtung gehen, werden sich neue Fragen stellen, Fragen, die heute noch nicht einmal bekannt sind. Wir werden sogenannte Anomalien finden, die sich als störende Widersprüche zwischen den Experimenten und den Lehrbüchern manifestieren werden. Dies wird aus der Kombination von Astrophysik, Mikrophysik und optischer Biophysik entstehen. Jedesmal, wenn eine solche Anomalie auftritt, wird das die Tür zu neuen Erkenntnissen über das Universum öffnen.

Das erfordert unbedingt eine internationale Zusammenarbeit. Im April veröffentlichte die Arbeitsgruppe des Event Horizon Teleskops die ersten Bilder der unmittelbaren Umgebung des ersten verifizierten Schwarzen Lochs, und zwar in der Galaxie M87. Diese Galaxie ist nur 55 Millionen Lichtjahre von uns entfernt, die Masse ist 6,5 Milliarden Mal so groß wie die Masse unserer Sonne. Mit dieser Entdeckung wurden die theoretische Hypothese von Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie und die Annahme der Existenz solcher Schwarzen Löcher nach mehr als hundert Jahren bewiesen. Dazu brauchte man die internationale Zusammenarbeit vieler Länder auf der ganzen Welt, von Hunderten Wissenschaftlern, die an zehn Radioteleskopen an Orten auf der ganzen Welt arbeiten. Dieser Umfang war notwendig, um diese erfolgreiche Bildgebung zu ermöglichen.

Ähnlich wird eine Kolonie auf dem Mars, die sich selbst versorgen und langfristig bestehen soll, nur funktionieren, wenn sie die Größe einer Stadt mit Hunderten, wenn nicht Tausenden Wissenschaftlern und vielen weiteren Menschen in lebenserhaltenden Systemen hat – auch das erfordert eine internationale Zusammenarbeit. All dies hat eine tiefere anthropologische Bedeutung.

Lyndon LaRouche hat zu Recht gesagt, daß wir nicht nur die Spanne dieses Jahrhunderts betrachten müssen, sondern auch das nächste Jahrhundert und einige Jahrhunderte darüber hinaus. In dieser Zeit wird der Mensch nicht nur in der Lage sein, im Sonnensystem zu agieren, sondern sehr wahrscheinlich in der gesamten Galaxis – und in einer noch ferneren Zukunft vielleicht sogar darüber hinaus.

Damit ist eine grundlegende Frage nach der Natur des Menschen verbunden. Da wir uns als Spezies aus sehr primitiven Formen entwickelt haben – von der Steinzeit über viele Schritte darüber hinaus –, ist es sehr klar, daß der Mensch, indem er den Weltraum erobert, indem er Kolonien auf anderen Planeten aufbaut, seine Identität als Menschheit verändern wird. Ich bin absolut optimistisch, daß das Ergebnis sehr positiv sein wird. Wir werden durch die Erweiterung des Wissens über das physische Universum und auch durch die ästhetische Bildung unseren moralischen Charakter weiterentwickeln. Ich denke also, die Raumfahrt wird bedeuten, daß die Menschheit in nicht allzu ferner Zukunft wahrhaft menschlich werden wird.