30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer:
Die Chance von 2019 darf nicht verpaßt werden!
Von Helga Zepp-LaRouche
Die Vorsitzende des Schiller-Instituts übermittelte für eine
Veranstaltung in New York am 9. November 2019 anläßlich des Jahrestags des
Falls der Berliner Mauer die folgende Videobotschaft, die für den Abdruck
übersetzt und gekürzt wurde. Das gesamte Video finden Sie (im englischen
Original) auf der Internetseite des Schiller-Instituts unter www.schillerinstitute.com.
Wir feiern heute einen dreifachen Jahrestag: den 30. Jahrestag des Falls
der Mauer in Berlin, den 260. Geburtstag von Friedrich Schiller, dem großen
deutschen Dichter der Freiheit, und es ist 35 Jahre her, daß das
Schiller-Institut gegründet wurde. Und wenn es zu einem solchen
Zusammentreffen von drei Jahrestagen kommt, dann ist es der Mühe wert,
zurückzuschauen und zu sehen, wie sie zusammenhängen…
Ich erinnere mich noch an viele dieser Ereignisse, als wäre es erst gestern
geschehen, denn wir standen damals nicht nur als Zuschauer am Rande, sondern
wir standen mitten drin und versuchten, sie durch unsere Ideen zu gestalten.
Es gibt fast kein Beispiel eines größeren Unterschiedes zwischen der
offiziellen Darstellung und dem, was damals mit der deutschen
Wiedervereinigung und dem Fall der Berliner Mauer wirklich geschah. Denn wenn
Sie sich das offizielle Narrativ anhören, dann war das der Sieg der Demokratie
über den Kommunismus, der Freiheit über die Diktatur, und als zwei Jahre
später die Sowjetunion auseinanderbrach, hat der Historiker Fukuyama sogar
gesagt, das ist das Ende der Geschichte. Im allgemeinen sagte man, nun werde
die ganze Welt das westliche Modell von Demokratie, Menschenrechten und
parlamentarischem System übernehmen…
Ich habe jedoch im Jahr 1990 in vielen Reden gewarnt, wenn man dem
kollabierten kommunistischen Wirtschaftssystem ein ebenso bankrottes
westliches, liberales Modell überstülpe, dann werde man wohl für eine gewisse
Zeit einen Boom erleben, aber dann werde es letztendlich zu einem noch viel
größeren Kollaps des gesamten Systems kommen. Und ich glaube, daß wir heute
genau da angekommen sind...
Der Versuch des westlichen Establishments, 1989 und vor allem nach dem
Kollaps der Sowjetunion 1991, eine unipolare Weltordnung durchzusetzen, ist
offensichtlich vollkommen nach hinten losgegangen. Sie versuchten, diese
unipolare Welt durch Regimewechsel, Farbrevolutionen, durch
Interventionskriege durchzusetzen, aber die Gegenreaktion auf diesen Versuch,
die unipolare Welt durchzusetzen, hatte den Aufstieg einer ganzen Reihe
verschiedener Nationen – Rußland, China, Indien und anderer asiatischer
Nationen – zur Folge…
1989 war etwas, was man zu Recht als eine „Sternstunde der Menschheit“
bezeichnen kann, als eine außerordentliche Chance in der Geschichte, und es
war einer dieser großen Momente, wo man die Geschichte tatsächlich gestalten
konnte, weil der Kommunismus verschwunden war. Man hätte damals eine
Friedensordnung für das 21. Jahrhundert durchsetzen können.
Genau das war unsere Vision. Lyndon LaRouche hatte schon 1984 vorhergesagt,
daß die Sowjetunion, wenn sie an ihrer damaligen Politik festhalten würde –
das waren die Versuche der militärischen Dominanz und die primitive
Akkumulation in ihrer eigenen Volkswirtschaft – innerhalb von fünf Jahren
zusammenbrechen würde. Und genau das tat sie.
Lyndon LaRouche hat auch, da er die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der
Comecon-Staaten beobachtete, 1988 vorhergesagt, daß es schon bald zur
Wiedervereinigung Deutschlands kommen würde; und er sagte, das
wiedervereinigte Deutschland sollte mit westlichen Technologien Polen
wirtschaftlich entwickeln, um den gesamten Comecon zu transformieren. Als die
Berliner Mauer dann tatsächlich nach den wachsenden Montagsdemonstrationen
fiel, waren wir die einzigen, die damals ein Konzept hatten...
Ich habe damals ein Flugblatt verfaßt, das im November 1989 veröffentlicht
wurde, „Geliebtes Deutschland, weiter so!“ Und ich habe darin genau das
vorgeschlagen: daß wir mit westlicher Technologie Polen und die anderen
Comecon-Länder entwickeln sollten.
Helmut Kohl, der damalige Bundeskanzler, machte damals erste
Babyschrittchen in Richtung Souveränität, indem er am 28. November, wenige
Tage nach meinem Flugblatt, einen Zehn-Punkte-Plan veröffentlichte... Zwei
Tage danach, am 30. November, wurde Alfred Herrhausen, der damalige Chef der
Deutschen Bank, ermordet, durch eine äußerst dubiose „Dritte Generation“ der
Roten Armee Fraktion, einer terroristischen Vereinigung, die wahrscheinlich
niemals existierte, das ist jedenfalls eine Frage, die immer noch von
Historikern untersucht wird. Aber es war eine Botschaft an Kohl: Wage es
nicht, in Richtung deutscher Souveränität zu gehen.
Es gab damals erbitterte Reaktionen. Margaret Thatcher startete ihre
„Viertes Reich“-Kampagne, Mitterrand verlangte, daß Deutschland die D-Mark
aufgeben und den Euro einführen müsse, Bush senior verlangte eine
„Selbsteindämmung Deutschlands“ durch eine weitere Integration in die NATO und
in die EU, das Akzeptieren des Maastricht-Vertrags und damit des
Austeritäts-Regimes, das jetzt zur Detonation der EU und ihren inneren
Spannungen zwischen Ost und West und Nord und Süd geführt hat.
Die verpaßte Chance von 1989
Wir haben damals das „Produktive Dreieck Paris-Berlin-Wien“ vorgeschlagen.
Das war die Idee, westliche Technologie zu nutzen, um die Länder Osteuropas zu
transformieren und deren produktive Potentiale dazu zu nutzen, sie zu
modernisieren und in Europa zu integrieren. Den ersten Vorschlag dieser Art
haben wir im Januar 1990 veröffentlicht, und als 1991 die Sowjetunion
kollabierte, haben wir die Idee dieses Produktiven Dreiecks sofort auf ganz
Eurasien ausgedehnt, um die produktiven Zentren und Bevölkerungszentren
Europas mit denen in Asien durch Entwicklungskorridore zu verbinden. Wir
nannten das die Eurasische Landbrücke, die Neue Seidenstraße, und das war auch
gemeint als eine Friedensordnung des 21. Jahrhunderts...
1991 hat die CIA laut einer deutschen Zeitung einen Bericht veröffentlicht,
wonach Rußland eine besser ausgebildete Arbeiterschaft und mehr natürliche
Ressourcen habe als die Vereinigten Staaten, und deshalb würde sie, wenn man
zulasse, daß sie sich wirtschaftlich entwickelt, zu einem Konkurrenten auf dem
Weltmarkt heranwachsen. Und deshalb solle man ihre wirtschaftliche Entwicklung
verhindern.
Was dann in Gang gesetzt wurde, war die Schocktherapie von Jeffrey Sachs –
derselbe Jeffrey Sachs, der jetzt mitten in dem Green-Finance-Schwindel
steckt. Und George Soros war damals beteiligt an einer riesigen „brain
drain“-Operation gegen Rußland und andere ehemals sowjetische Länder...
Am 8. März 1990 gründete die letzte Volkskammer der DDR die
„Treuhandanstalt“. Sie sollte den staatlichen Besitz der DDR schützen, aber es
gab einen kalten Putsch: Schon am 26. Juni 1990 veröffentlichte die Regierung
de Maiziere Statuten, in denen nur von der „Privatisierung und Sanierung des
staatlichen Industriebesitzes“ die Rede war.
Im August 1990 wurde Detlev Karsten Rohwedder, ein sehr guter und
effizienter Industrieller, eingesetzt, um die Treuhand zu reorganisieren, und
er hatte ein exzellentes Verständnis von den Erfordernissen der physischen
Wirtschaft. Deshalb gab er der Sanierung Vorrang vor der Privatisierung, mit
dem Hauptziel, die Arbeitsplätze in den ehemals staatlichen Betrieben zu
erhalten.
Er wurde sofort heftig angegriffen von britischen und amerikanischen
Investmentbanken, die ihm vorwarfen, ausländische Investitionen zu blockieren.
Er wurde am 1. April 1991 erschossen, von der gleichen, dubiosen „Dritten
Generation der Roten Armee Fraktion“…
Was dann geschah, war eine gewaltige Enteignung des Besitzes der
Bevölkerung der DDR. Plötzlich war das gesamte Lebenswerk der Menschen in der
DDR bedeutungslos, es wurde für wertlos erklärt, und das ist ein Schock, von
dem sich die Menschen in Ostdeutschland bis heute nicht erholt haben…
Solange die Sowjetunion existierte, sah die Oligarchie im Westen noch eine
gewisse Notwendigkeit des technologischen Fortschritts, um im Rüstungswettlauf
des Kalten Krieges mithalten zu können. Aber mit dem Kollaps der Sowjetunion
gingen die Kräfte des Britischen Empire zu einer absolut ungebremsten
Deregulierung der Finanzmärkte über, und sie fielen zurück in das
oligarchische Denken, die Bevölkerung zu reduzieren und sie rückständig zu
halten... Nachdem es ihnen 1999 gelungen war, das
Glass-Steagall-Trennbankensystem zu beseitigen, folgte eine völlig
uneingeschränkte Deregulierung der Finanzmärkte, auf Kosten der Industrie, auf
Kosten des Gemeinwohls, zur totalen Profitmaximierung der Spekulanten.
Im Juli 2007, als die Krise der minderwertigen Hypotheken ausbrach –
tatsächlich sogar eine Woche davor –, hielt Lyndon LaRouche eine berühmte
Videoansprache, in der er sagte: „Dieses System ist vollkommen am Ende, und
alles, was wir nun sehen werden, ist, wie alle die verschiedenen Aspekte davon
an die Oberfläche kommen.“
Die Zentralbanken haben nichts getan, um die Ursachen dieses Krachs zu
beseitigen, und deswegen stehen wir heute, elf bis zwölf Jahre später, vor
einer sogar noch schlimmeren Krise…
Die Eurasische Landbrücke
Aber unterdessen entwickelte sich auch noch eine andere Tendenz: unser
Vorschlag der Eurasischen Landbrücke… 1996 fand eine große Konferenz in
Beijing statt, bei der ich unseren Vorschlag vorstellte, die Eurasische
Landbrücke als Fundament einer neuen gerechten Weltwirtschaftsordnung zu
nutzen. Und an diesem Punkt erklärte China die Eurasische Landbrücke zum
strategischen Ziel für China bis zum Jahr 2010. Aber dann kam die Asienkrise
1997, 1998 kam der russische Staatsbankrott.
Die asiatischen Länder waren gezwungen, eine Alternative zu entwickeln, um
sich zu verteidigen. Seitdem hat sich eine ganze Reihe von Organisationen
entwickelt: die BRICS, die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der
„Globale Süden“…
2013 hat Präsident Xi Jinping dann in Kasachstan die Neue Seidenstraße
angekündigt, und in den sechs Jahren seither ist daraus das größte
Infrastrukturprojekt geworden, das es in der Geschichte je gegeben hat. Es
haben sich schon 157 Nationen und 30 große internationale Organisationen
angeschlossen. Sie haben ein neues Paradigma geschaffen, das auf der Achtung
der Souveränität und der Nichteinmischung in die Gesellschaftssysteme der
anderen Länder beruht. Sie ist zu einem Modell für die Kooperation geworden,
das Präsident Xi Jinping zufolge offen ist für die Kooperation mit allen
Nationen auf diesem Planeten.
Die Krise von 2019
Nun, wenn man sich auf dem Globus umschaut, dann sieht man Demonstrationen
in vielen Ländern, die oft größer sind als die Montagsdemonstrationen in der
DDR 1989, und einige von ihnen sind nicht so friedlich, wie diese es waren.
Wir sind auch mit existentiellen Bedrohungen konfrontiert, die vor allem von
den Drogenkartellen ausgehen – betrachten Sie die Lage in Mexiko. Oder
betrachten Sie die meist von Soros geförderten Farbrevolutionen wie in
Hongkong und andere Destabilisierungen in aller Welt. Das sind die gleichen
Kräfte, die auch hinter dem Putsch gegen Präsident Trump seit 2016 stehen… 30
Jahre nach dem Fall der Mauer sind wir also genau an dem Punkt angekommen, vor
dem ich in vielen Reden gewarnt habe…
Aber wir haben auch die neue Konstellation der Belt & Road-Initiative,
und da ist Präsident Trump, der oft gesagt und durch sein Handeln bewiesen
hat, daß er die Beziehungen zu Rußland und China verbessern will. Tatsächlich
kann man also sagen, daß wir jetzt gerade die große Chance von 2019 erleben.
Aber um die Lehren aus dem zu ziehen, was vor 30 Jahren falsch gelaufen ist,
müssen die vier Mächte – die Vereinigten Staaten, Rußland, China und Indien –
die Vorschläge von Lyndon LaRouche umsetzen.
Wir brauchen eine globale Glass-Steagall-Bankentrennung. Die
Kasinowirtschaft muß enden, und das sollte geschehen, noch bevor der
Finanzkollaps die Welt ins Chaos stürzt. Dann brauchen wir in jedem Land eine
Nationalbank nach dem Konzept von Alexander Hamilton. Wir brauchen ein Neues
Bretton Woods, ein neues Kreditsystem, um internationale Projekte der Belt
& Road-Initiative zu finanzieren. Und wir brauchen eine Steigerung der
Produktivität der Volkswirtschaften durch gemeinsame Crashprogramme zur
Realisierung der Kernfusion, und wir brauchen die internationale
Zusammenarbeit zur Erforschung und Erschließung des Weltraums.
Alle diese Länder – die vier Mächte und andere – müssen einander die Hand
reichen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Südwestasiens, das durch die
Interventionskriege zerstört wurde, und wir brauchen die Industrialisierung
Afrikas, denn das ist die große Herausforderung für die gesamte Menschheit.
Wir müssen die Geopolitik überwinden, und wir müssen uns auf das einigen, was
Präsident Xi Jinping schon seit vielen Jahren vorschlägt: eine Gemeinschaft
für die gemeinsame Zukunft der gesamten Menschheit.
Eine neue Renaissance
Aber das muß verbunden sein mit einer Renaissance der klassischen Kultur,
und deshalb sind die Rolle des Schiller-Instituts und die Ideen von Friedrich
Schiller absolut unverzichtbar. Es war das Prinzip des Schiller-Instituts, als
es 1984 gegründet wurde, daß eine neue, gerechte Weltwirtschaftsordnung
wirklich nur dann Erfolg haben kann, wenn sie mit einer klassischen
Renaissance verbunden ist.
Wir brauchen einen Dialog der besten Traditionen aller Kulturen. Und für
die europäischen Kulturen bedeutet dies, daß das wunderschöne Menschenbild,
wie es von Friedrich Schiller zum Ausdruck gebracht und von Beethoven in
seiner „Ode an die Freude“ in der 9. Sinfonie gefeiert wurde, zur Grundlage
unseres Bildungssystems und unseres gesellschaftlichen Lebens werden muß. Denn
Schiller zufolge hat jeder Mensch das Potential, eine Schöne Seele zu werden,
jeder Mensch hat das Potential, ein Genie zu werden. Er hatte die Idee, daß
jeder Mensch eine unbegrenzte Fähigkeit hat, sich intellektuell und moralisch
zu verbessern.
Wenn man das liberale Modell betrachtet, dann ist es nicht nur
wirtschaftlich gescheitert, sondern auch kulturell. Wenn Sie beispielsweise
die Drogenepidemie in den Vereinigten Staaten betrachten, die Häßlichkeit der
Jugendkultur, die Gewalt in der sogenannten „Unterhaltung“, die Schießereien
an Schulen und ähnliche Dinge, dann ist sehr klar, daß der Westen, wenn er
überleben will, die ästhetische Erziehung braucht. In den Vereinigten Staaten
und in Europa müssen wir die besten Traditionen des Humanismus und der
klassischen Kunst wiederbeleben…
Das ist keine Option, sondern eine Notwendigkeit. Ganze Zivilisationen sind
verschwunden. Die Museen sind voll von Beispielen von Nationen, von Kulturen,
von Zivilisationen, die moralisch zu verkommen waren, um zu überleben. Europa
und die Vereinigten Staaten könnten verschwinden. Aber ich sage das nicht als
eine pessimistische Prognose, sondern als Ansporn für uns alle, unsere
Gewohnheiten und Annahmen zu ändern. Wir müssen unsere Zivilisation neu
erschaffen, auf der Grundlage der erhabenen Ideen großartiger Dichter, wie
Friedrich Schiller, dessen 260. Geburtstag wir heute feiern. Vielen Dank.
zepp-larouche@eir.de
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