Friedrich Schiller Denkmal
Friedrich Schiller



Hauptseite
       

Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Wahre Freiheit durch wahre Kunst

Der einzigartige Beitrag der Negro Spirituals zur klassischen Bildung in Amerika

Von Elvira Green

Die Mezzosopranistin Elvira Green war 30 Jahre Mitglied der Metropolitan Opera und Gründerin der Spiritual Renaissance Singers in Greensboro/North Carolina.

Worte von James Weldon Johnson:

    O unbekannte, schwarze Barden längst vergangner Zeiten,
    Wie kam es, daß eure Lippen das heilige Feuer berührten?
    Wie konntet ihr in eurer Finsternis erwerben
    Diese Kraft und Schönheit in der Sänger Leier?
    Wer hob als erster aus den Fesseln seine Augen?
    Wer als erster auf der stillen Wacht, lang und einsam,
    Spürte, daß der alte Glaube der Propheten in seiner
    Unterdrückten Seele aufstieg und zum Lied sich formt?

    Welch’ Sklaven Herz war es, dem entströmte eine Melodie
    Wie “Steal away to Jesus”? Zu diesem Klang
    Muß nächtlich frei sein Geist entflogen sein,
    Auch wenn er noch um seine Hände seine Ketten spürte.
    Wer hörte den großen „Jordan rollen“? Wer sah
    Den Himmelswagen und sang „Swing Low Sweet Chariot”?
    Und wer war es, der so tröstend und melodisch klagte:
    „Nobody Knows de Trouble I’ve seen“?

    Welch lebend Nichts in der Gefangenschaft
    Konnte durch die Finsternis zu Gott aufsteigen
    Und fand im abgestumpften Herzen Kraft, zu singen
    Diese Lieder voller Trauer, Liebe, Glauben, Hoffnung?
    Wie fand er jenen feinen Unterton,
    Den Ton in der Musik, den unser Ohr nicht hört?
    Wie blies er jenes scheue, seltne Rohr,
    Das zu der Seele spricht, ein Herz zu Tränen rührt?


    Selbst der große deutsche Meister in seinem Traum
    Der Harmonien, die bei der Schöpfung
    Zwischen Sternen donnern, hörte niemals eine Weise,
    Die edler war als „Go Down, Moses“. Hört
    Ihren Schall wie einen mächtigen Posaunenruf,
    Der bringt das Blut in Wallung. Zu solchen Klängen
    Standen Menschen auf zu tapf’ren Taten; solch’ Töne halfen
    Die Geschichte schreiben, als die Zeit noch jung.

    Welch ein unendlich’ Wunder schlummert in dem allen,
    Daß aus erzwungner Ruh’ und Sklavenlos
    Der Feuergeist des Sehers sollte rufen
    Diese Kinder nur der Sonne und des Bodens.
    O schwarze Sklavensänger, tot, vergessen, nie gerühmt,
    Ihr – Ihr allein aus jener endlos langen Reihe
    Derer, die sangen ungelehrt und namenlos
    Blicktet auf zum Himmel zu dem Göttlichen.

    Ihr sanget Taten nicht von Königen und Helden;
    Nicht Schlachtgesang des blut’gen Krieges, nicht Jubel
    Zum Triumph der Waffen; nein, ihr zupftet
    Eure bescheid’nen Saiten in der Harmonie des Himmels.
    Ihr sangt viel besser, als ihr ahnt; die Lieder,
    Für hungrig’ Herzen eurer Hörer nur gedacht,
    Sie leben ewig weiter – doch euch gebührt noch mehr:
    Ihr sangt ein Volk von Holz und Stein zu Christus.

„Von wem stammen diese Lieder – diese Lieder, die unter den Volksliedern der Welt unübertroffen sind und unvergleichlich in ihrer rührenden Schönheit? Es wäre eine edle Errungenschaft gewesen, wenn die amerikanischen Siedler mit ihrer gemeinsamen Sprache und ihrem gemeinsamen Erbe, die Freiheit in einem neuen Land suchten und vor der Aufgabe standen, die ungezähmte Natur zu erobern, und die von der Hoffnung angetrieben waren, ein Reich aufzubauen, eine mit den Spirituals vergleichbare Volksmusik geschaffen hätten.

Im Jahre 1619 landete ein niederländisches Schiff mit 20 afrikanischen Ureinwohnern in Jamestown, Virginia. Diejenigen, die die Fahrt überlebt hatten, wurden sogleich in die Sklaverei verkauft. Hier waren sie, abgeschnitten von der Verankerung in der Kultur ihrer Heimat, zerstreut ohne Rücksicht auf ihre alten Stammesbeziehungen, und mußten sich auf eine völlig fremde Zivilisation einstellen, mußten eine fremde Sprache lernen und waren zudem einem immer härteren System der Sklaverei unterworfen; doch gerade aus diesen Menschen entsprang diese Masse edler Musik, die Amerikas einzige Volksmusik ist – der edelste, unverwechselbare künstlerische Beitrag, den Amerika der Welt zu bieten hat.

Die Musik von Go Down Moses, Deep River, Stand Still Jordan, Walk Together Children, Roll Jordan Roll, Ride On King Jesus, um einige Beispiele zu nennen, ist immer edel, und die Stimmung der Spirituals ist immer erhaben. Ihre Gedanken folgen stets nur den höchsten und reinsten Motiven des Herzens. Alle wahren Spirituals besitzen Würde.

Zweifellos haben viele Menschen diese Lieder nur auf Varieté- oder Theaterbühnen gesungen gehört und über sie laut gelacht, weil sie auf humorvolle Weise präsentiert wurden. Sie hielten sie vielleicht für eine neue Art von Ragtime- oder Minstrel-Songs. Deshalb müssen diese Spirituals in ihre primitive Würde gekleidet werden, damit man sie richtig wertschätzen und verstehen kann.

Die Spirituals werden ganz überwiegend dem Neger als seine eigene, originale Schöpfung zugeschrieben, dennoch gibt es Kritiker, die bestreiten, daß sie original sind. Die Meinung dieser Kritiker ist nicht fundiert; sie basiert weder auf wissenschaftlicher oder historischer Forschung, sondern nur auf dem Widerwillen, die Schöpfung so viel reiner Schönheit einem Volk zuzusprechen, das sich, wenn es nach ihrem Wunsch geht, auch heute noch absolut minderwertig fühlen soll.

In seinen Schriften sprach James Weldon Johnson von dem „Wunder“ des Negro Spirituals, das aus der Musik hervorgehe, die der amerikanische Neger seine Herren singen hörte, vor allem religiöse Musik. Die Neger-Spirituals entstanden nicht aus Verbindlichkeit gegenüber ihren weißen Herren. Die Fähigkeit zur Formulierung der poetischen Zeilen, welche die Titel so vieler Spirituals bilden, beweist die Fähigkeit, diese Lieder zu erschaffen.

Als die Fisk Jubilee Singers ihre Tournee durch England, Schottland und Deutschland machten, allein in Deutschland fast acht Monate lang, wurden ihre Konzerte von den musikalisch kultiviertesten und anspruchsvollsten Menschen sowie der breiten Öffentlichkeit besucht. Ihre europäischen Konzerte waren sowohl eine künstlerische Sensation als auch ein finanzieller Erfolg für die Fisk University, und keines von beidem wäre möglich gewesen, wenn ihre Lieder nur Imitationen europäischer Volksmusik oder Adaptionen europäischer Lieder gewesen wären.“

– Aus dem Vorwort zu James Weldon Johnson, “The Books of American Negro Spiritual”

Die verstorbene Sylvia Olden Lee, die berühmte Repräsentantin der Spirituals und Mitglied des Kulturbeirats des Schiller-Instituts, hat einen umfangreichen Katalog von Spirituals in Arrangements von ihr und ihren Zeitgenossen zusammengestellt. Dazu gehören Hall Johnson, Thomas Kerr, Edward Boatner, Margaret Bonds, Undine Smith Moore, John W. Work, um nur einige zu nennen. Sylvia, mit der ich mehrere Jahre zusammenarbeitete, bereiste die Welt als Coach, Musikhistorikerin, Pianistin und Begleiterin vieler renommierter Künstler, sowohl Sänger als auch Instrumentalisten. Ihre Memoiren, The Memoirs of Sylvia Olden Lee, Premier African-American Classical Vocal Coach, lesen sich wie ein persönliches Gespräch mit Frau Lee.

Einige klassisch ausgebildete Afro-Amerikaner als engagierte Interpreten des Spirituals in unserer Zeit sind, unter anderen: Marian Anderson, William Warfield, Robert McFerrin, George Shirley, Leontyne Price, Kathleen Battle und die kürzlich verstorbene Jessye Noman.

Tatsächlich bietet der einzigartige, höchst relevante Beitrag der Negro Spirituals zur klassischen Bildung in Amerika auch eine immer größere musikalische Chance, weil die heutigen multiethnischen Amerikaner offener dafür sind, sich diese musikalische Erfahrung zunutze zu machen, indem sie diese Lieder in ihr Chor- und Solorepertoire aufnehmen.

In diesem Jahr jährt sich zum 100. Mal die Gründung der National Association of Negro Musicians, einer Organisation, die von James Weldon Johnson gegründet wurde, dem Autor des Gedichts, das ich zur Eröffnung meiner Ausführungen rezitierte. Diese Organisation wurde nur zwei Monate nach Johnsons Rede auf der Nationalen Konferenz gegen Lynchjustiz vom Mai 1919 gegründet. Diese Konferenz fand in der Carnegie Hall statt.

Ich bin stolz, daß im nächsten Monat eine Gruppe von Sängern, die der National Association of Negro Musicians angehören, in derselben Carnegie Hall die Bühne betreten wird, um die „Ode an die Freude“ in Beethovens Neunter Symphonie zu singen. Johnson kannte und lebte die Lehre der Spirituals – die Menschenwürde ist das Geburtsrecht und der Lebensbereich jeder menschlichen Seele. Das war Beethovens Überzeugung, und das werden wir feiern. Dennoch:

    „Selbst der große deutsche Meister in seinem Traum
    Der Harmonien, die bei der Schöpfung
    Zwischen Sternen donnern, hörte niemals eine Weise,
    Die edler war als Go Down, Moses.“

Wir haben immer gewußt, daß man nur durch die Schönheit der Seele zur Freiheit geht. Das ist das Freiheitslied im Herzen eines jeden Negro Spirituals: die Schönheit der menschlichen Seele.