Rußlands Rolle in der Neuen Weltordnung
Von Wladimir Morosow
Wladimir Morosow ist Programmkoordinator des Russian
International Affairs Council (RIAC), Moskau.
Zunächst einmal möchte ich dem Schiller-Institut und Frau Zepp-LaRouche
persönlich für diese große Gelegenheit danken, hier heute bei Ihnen zu sein
und mit den interessanten und hochgeschätzten Gästen über die Zukunft der
globalen Weltordnung und die Rolle zu diskutieren, die verschiedene Länder,
Regionen und auch Nationen darin spielen können.
Ich teile auch die Idee, daß es angesichts der gegenwärtigen politischen
und wirtschaftlichen Dynamik sowohl im globalen wie im regionalen und
nationalen Maßstab höchste Zeit ist, daß wir offen über die Zukunft der
internationalen Beziehungen diskutieren, und darüber, welche Prinzipien den
Umgang zwischen den Staaten und Regionen leiten sollten.
Lassen Sie mich zunächst einmal einige Schlüsselideen darstellen, über die
ich mit Ihnen sprechen möchte.
Erstens gibt es, auch wenn wir annehmen, daß die unipolare Welt mit der
absoluten Vorherrschaft einer Supermacht schon bald enden wird, bisher keine
Alternative, die klar und machbar und in greifbarer Nähe ist. Eine multipolare
Welt, für die sich viele Länder schon lange einsetzen, kann keine bessere
Alternative sein.
Zweitens wird Rußlands Rolle in der neuen globalen Ordnung mehr von der
inneren Dynamik bestimmt sein als von der Komposition der Weltordnung selbst.
Aber Rußland wird eine wichtige Rolle in all den verschiedenen Regionen und
möglicherweise auch global spielen, und versuchen, nicht nur seine
unmittelbare Nachbarschaft zu stabilisieren, sondern auch als eines der
Bindeglieder in Eurasien wirken, sowie als Garant der globalen Sicherheit und
Stabilität.
Drittens, und ich denke, das ist ein entscheidender Punkt, können wir die
globale Ordnung nicht über Nacht ändern. Wenn wir eine evolutionäre Änderung
wollen, anstelle einer revolutionären Änderung, die einen globalen Krieg
implizieren würde, dann müssen wir uns zunächst darauf konzentrieren, das
Vertrauen wieder herzustellen. Aber Vertrauen ist etwas, was wir nicht über
Nacht wieder aufbauen können.
Es wird oft angenommen, daß die einzige Alternative zum gegenwärtigen
Status quo eine multipolare Welt sei. Wenn wir über die Zukunft der
Weltordnung sprechen, dann stimmt fast jeder in Rußland, in Europa, in China,
im Nahen Osten überein, daß die wünschenswerte Weltordnung multipolar sein
sollte. Aber die Idee der Multipolarität reicht zurück in die 1970er Jahre,
mit dem Aufstieg der asiatisch-pazifischen Länder, mit der Schaffung der
Trilateralen Kommission etc., und diese Ideen waren bis Mitte der 1990er
äußerst populär.
Aber unsere Welt ist im Grunde immer noch nicht multipolar. Und wenn wir
über Polarität sprechen – Multipolarität, Unipolarität – dann tendieren die
Menschen dazu, verwirrt zu sein in Bezug auf die Definition, was Polarität
ist.
Tatsächlich ist Multipolarität eine andere Version des Wiener Kongresses,
eine Weltordnung, die beherrscht ist von einem Gleichgewicht der Mächte und
die in mehrere Machtzentren geteilt ist, die miteinander um die begrenzten
globalen Ressourcen konkurrieren. Auch wenn eine solche Ordnung auf den
Interessen von mehr als einem Staat gründet, berücksichtigt sie nie die
Interessen der kleineren Staaten, und die Staaten, die nicht Teil des globalen
Gleichgewichts sind, werden von den global players übersehen. Diese
Ordnung wird gewissermaßen eine Rückkehr zur Geopolitik sein – das, was wir
alle vermeiden wollen, wenn wir über die Zukunft der globalen Ordnung
sprechen.
Multilateralismus
Aber was kann die Alternative zur unipolaren und multipolaren Weltordnung
sein? Es gibt eine wachsende Debatte in Rußland darüber, und wir haben
kürzlich einen neuen Artikel unseres Generaldirektors veröffentlicht, in dem
gesagt wird, eine Alternative zur Multipolarität könne der Multilateralismus
sein. [„Warum die Welt nicht multipolar werden wird“, von Andrej Kortunow].
Dies könne die beste Alternative sein, die verhindert, daß die Welt in eine
Konfrontation und damit in einen Weltkrieg abgleitet.
Der wesentliche Unterschied zwischen Multipolarität und Multilateralismus
ist, daß der Multilateralismus auf einem Ausgleich der Interessen anstatt auf
einem Gleichgewicht der Macht beruht. Eine solche Ordnung kann nur
unzureichend auf den existierenden Strukturen des Westens aufgebaut werden,
wie der NATO, der Europäischen Union, NAFTA, etc., sondern sie muß auch die
UN, die G-20, die OECD, die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die
Asiatisch-Pazifische Wirtschaftskooperation, und möglicherweise –
möglicherweise! – können wir auch zu einer Art kollektivem Sicherheitssystem
im Nahen Osten und Afrika gelangen.
Aber wir sollten berücksichtigen, daß das, was Donald Trump tut, ein
Symptom institutioneller Ermüdung ist, nicht nur im Westen, sondern auch im
Osten. Und deshalb müssen wir uns, wenn wir zu einer multilateralen Welt
übergehen wollen, nicht nur auf die Institutionen konzentrieren, sondern auch
auf die Regeln, die internationalen Regeln, und vor allem auf die
Nichtweiterverbreitung [von Nuklearwaffen] und Hilfe bei der Entwicklung.
Wenn wir über Rußlands Rolle in der neuen globalen Ordnung sprechen, dann
denke ich, daß Rußlands Rolle vor allem von seiner inneren Dynamik bestimmt
sein wird. Putin hat seine letzte Amtszeit angetreten, und nun wird er sich
wahrscheinlich mehr auf die einheimische Agenda konzentrieren als auf die
internationale. Das bedeutet mehrere große wirtschaftliche Reformen, den
Umgang mit den Pensionen, mit der Wirtschaftsleistung etc., und natürlich der
Frage des Übergangs der Macht und der politischen Stabilität nach 2024.
Aber das bedeutet nicht, daß Rußland von der internationalen Bühne abtreten
wird. Wir brauchen uns nicht in alle Fragen einmischen, die sich uns auf der
Welt bieten, aber wesentlich für Rußlands Außenpolitik und Rußlands Position
in der Welt ist, daß Rußlands höchste außenpolitische Priorität die innere und
äußere Sicherheit ist. Das bedeutet, daß Rußland selbst nicht bereit ist, die
Regionen an den Grenzen von Rußland zu destabilisieren, wie ihm immer wieder
vom Westen vorgeworfen wird, sondern vielmehr bereit ist, seine militärische
Macht einzusetzen und sogar nach Übersee zu projizieren, etwa im Nahen Osten,
wie im Fall von Syrien, um die Stabilität zu fördern und die nationalen
Interessen des Landes zu fördern.
Das ist etwas, was Rußland deutlich von der EU und China unterscheidet, die
sich militärisch nicht in Übersee engagieren, aber auch von den Vereinigten
Staaten, die sich ständig in globale Angelegenheiten einmischen, um
kurzfristige Interessen zu verfolgen.
Zweitens ist Rußland zwar daran interessiert, seine Grenzregionen zu
stabilisieren, insbesondere die gemeinsame Nachbarschaft zwischen der
Europäischen Union und Rußland, zwischen Rußland und China, etc., aber Rußland
wird mehr Gewicht auf die chinesische Gürtel- und Straßen-Initiative legen.
Die Gürtel- und Straßen-Initiative ist für Rußland kein reines
Wirtschaftsprojekt, das Rußlands Position als Umschlagsplatz und Bindeglied in
Eurasien stärkt, sondern auch ein Weg, seine gefährlichste Nachbarschaft zu
stabilisieren, was die zentralasiatischen Länder und Afghanistan betrifft, die
möglicherweise explodieren könnten, wenn wir die Ausbreitung des Extremismus
dort nicht aufhalten, und wenn wir den Menschen keine geeignete
wirtschaftliche Alternative zum Drogenanbau und zum Terrorismus bieten. Und
deshalb wird Rußland auch weiterhin mit China kooperieren, insbesondere durch
diese gemeinsame Entwicklungs-Initiative, die Präsident Putin und Präsident Xi
Jinping mit der gemeinsamen Entwicklung der Eurasischen Wirtschaftsunion und
der Gürtel- und Straßen-Initiative gefunden haben.
Wenn wir über die außenpolitische Identität Rußlands sprechen, dann bin ich
eher skeptisch gegenüber der Idee des „Eurasianismus“ in der russischen
Außenpolitik. Ich persönlich ziehe den Begriff der Europazifischen Macht vor;
d.h., daß wir davon ausgehen müssen, daß Rußland ein europäisches Land ist.
Aber es hat Zugang zur Pazifik-Region, es wird an allen Fragen und an allen
Problemen, an allen Konflikten beteiligt sein, die sich in der Pazifikregion
abspielen, und es kann auch als eine der Parteien dienen, die daran
interessiert sind, diese Konflikte beizulegen, insbesondere im Fall von
Nordkorea. Und noch wichtiger: durch seinen Zugang zur Asien-Pazifik-Region
hat Rußland nicht nur eine besondere Beziehung zu China, sondern auch zur
Republik Korea, Japan und auch zu den Vereinigten Staaten.
Wir können auch davon ausgehen, daß Rußland sich weiter in Syrien
engagieren wird, insbesondere nachdem die Lage stabilisiert und der
Terrorismus besiegt ist. Was Rußland immer wieder vorschlägt, abgesehen
natürlich vom Wiederaufbau von Syrien unter Beteiligung der Europäischen
Union, der Vereinigten Staaten und natürlich auch Chinas, ist die Schaffung
eines kollektiven Sicherheitssystems für den Nahen Osten, das nicht nur Syrien
umfassen sollte, sondern auch Israel, Saudi-Arabien, Iran, China, die USA und
die Europäische Union, und natürlich Rußland, als Garanten eines dauerhaften
Friedens in der Region.
Die Idee der Eurasischen Landbrücke gefällt mir, aber sie ist nicht nur ein
Infrastrukturprojekt, bei dem schnelle Bahnlinien von Deutschland nach Moskau
gebaut werden, es geht auch um die Kontakte von Mensch zu Mensch. Solange wir
immer noch Visaregelungen zwischen der Europäischen Union und Rußland haben,
behindert dies die Kontakte von Mensch zu Mensch und den Austausch der
Kulturen, den Austausch der Ideen und den Austausch von Chancen.
Und last but not least: Auch wenn wir alle verstehen, daß die globale
Ordnung nicht über Nacht geändert werden kann, können wir doch einige
Sofortmaßnahmen vorschlagen, die in der Zwischenzeit helfen können, die
Beziehungen zwischen Rußland und dem Westen und insbesondere zwischen Rußland
und den USA zu stabilisieren.
Das Gipfeltreffen von Helsinki
Ich denke, daß viele hier sehr viel von dem bevorstehenden Gipfeltreffen
zwischen Trump und Putin in Helsinki im Juli erwarten - vielleicht nicht
soviel, wie man vom Trump-Kim-Gipfel erwartet hat, aber ich denke trotzdem,
daß wir nicht zuviel von diesen Gesprächen erwarten sollten, vor allem, weil
die beiden Länder mit ausdrücklichen Plänen kommen, die bilateralen
Beziehungen wiederherzustellen und die Beziehungen zwischen Rußland und dem
Westen wieder ins Gleis zu heben.
Aber ich denke, wenn dieses Gipfeltreffen stattfindet, dann wird dies ein
großer Durchbruch sein gegenüber den letzten vier oder fünf Jahren, denn ich
glaube, das letzte solche Gipfeltreffen war das vor sechs Jahren, 2012
zwischen Obama und Medwedjew. Und diese Gespräche können eine Atmosphäre des
Vertrauens schaffen, und eine Atmosphäre der Kooperation, die helfen kann, die
Beziehungen wieder auf Kurs zu bringen. Das gilt auch hinsichtlich des
möglicherweise bevorstehenden Besuchs von Vertretern des US-Kongresses in
Rußland.
Was könnten solche Sofortmaßnahmen sein?
Zunächst einmal müssen wir die diplomatischen Vertretungen der Vereinigten
Staaten in Rußland und Rußlands in den Vereinigten Staaten wieder herstellen,
denn die Ausweisung von Diplomaten behindert nicht nur den politischen Dialog,
sondern auch Kontakte zwischen den Menschen – bis ein russischer Bürger ein
Visum für die Vereinigten Staaten erhält, vergeht jetzt oft ein halbes oder
ein ganzes Jahr, und ich denke, in den Vereinigten Staaten ist es genauso.
Sobald wir einen politischen Dialog haben, ist die wichtigste Frage, über
die die beiden Präsidenten reden sollten, die Erhaltung der strategischen
Stabilität. Dies umfaßt nicht nur den neuen START-Vertrag und seine mögliche
Verlängerung, und die weitere nukleare Abrüstung, sondern auch die Zukunft des
INF-Vertrags [über die nuklearen Mittelstreckenraketen]. Die Erhaltung des
letzteren ist wesentlich für die Sicherheit in Europa, wenn wir einen immer
größeren Rüstungswettlauf und eine mögliche, beispiellose Eskalation vermeiden
wollen. Wir brauchen einen offenen Dialog nicht nur zwischen den Politikern,
sondern auch zwischen den technischen Spezialisten einschließlich der Militärs
über die Probleme, die wir bei der Umsetzung dieser Verträge haben und was wir
tun können, um unsere Differenzen beizulegen.
Der nächste Schritt werden natürlich die Gespräche über Syrien und die
Stabilisierung dieses Landes sein und natürlich darüber, den Terroristen die
Kontrolle zu nehmen und an die legitime Regierung zurückzugeben. Und mit dem
Problem der Ukraine umzugehen. Ich erwarte nicht, daß in Bezug auf die Ukraine
viel geschehen wird, aber wenn wir diese Atmosphäre des Vertrauens haben und
wenn wir diese Atmosphäre der Kooperation haben, dann werden wir in der Lage
sein, sie zu lösen.
Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf Ihre
Fragen.
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