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Aldo Moro: 40 Jahre einer Idee, die man nicht töten konnte

Von Claudio Celani

Buchbesprechung. Giovanni Fasanella, Il Puzzle Moro, Chiarelettere, 2018.

Vor genau 40 Jahren wurde der italienische Staatsmann Aldo Moro von Terroristen der Roten Brigaden entführt und ermordet. Moros Tod war ein Wendepunkt in der Geschichte Italiens und des gesamten Mittelmeerraums, mit weitreichenden Konsequenzen für die Beziehungen zwischen Ost und West und Nord und Süd. Vier Jahrzehnte nach seinem Tod ist die Wahrheit über Moros Tod noch immer nicht vollständig aufgeklärt. Doch die offizielle Version, der zufolge die Motive für Moros Ermordung nur innenpolitisch und die Roten Brigaden ein rein italienisches Phänomen waren, bricht langsam, aber sicher in sich zusammen.

Zwei Faktoren haben in den letzten Jahren viel dazu beigetragen, die Wahrheit über den Fall Moro zu enthüllen: die Ermittlungen des Journalisten und Autoren Giovanni Fasanella, sowie jüngst die Arbeit des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses über den Fall Moro, der am 15. Dezember 2017 – zum dritten Mal – seinen Abschlußbericht vorgelegt hat. Der Ausschuß wies nach, daß im Gegensatz zur „öffentlich aussprechbaren Wahrheit“ Moros Mörder sehr wohl internationale Verbindungen und Unterstützung hatten, und Fasanella grub in britischen und US-amerikanischen Archiven Dokumente aus, die eine Mobilisierung von Briten, Franzosen, Amerikanern und Sowjets gegen Moros Politik belegen, wobei die Briten die Strippen einer „subversiven“ Lösung zogen, für die man sich als Alternative zu einem Militärputsch entschied.

Fasanellas jüngstes Buch, Il Puzzle Moro („Das Moro-Puzzle“), das kurz vor dem Jahrestag von Moros Entführung am 16. März erschien, ist sowohl ein Überblick über die Feststellungen des Untersuchungsausschusses als auch eine Fortschreibung der früheren Veröffentlichungen Fasanellas, mit neu freigegebenen amerikanischen und britischen Dokumenten.

Ein weiteres Verdienst des Buches ist, daß Moros Außenpolitik tiefergehend dargestellt wird als in den Simplifizierungen der etablierten Medien. Die Absicht des Christdemokraten Moro war es nicht nur, die Blockade der politischen Lage in Italien zu überwinden, indem er der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) half, mit Moskau zu brechen und Italiens vertragliche Verpflichtungen gegenüber dem westlichen Bündnis zu akzeptieren; diese Politik sollte auch dem größeren Ziel dienen, Italiens natürliche Führungsrolle im Mittelmeerraum zu stärken und seine Kultur und sein Industriepotential zu nutzen, um Dialog und Entwicklung unter allen Ländern der nordafrikanischen Mittelmeerküste und des Nahen Ostens zu fördern.

Unter Moros Führung als Ministerpräsident von 1963-68, als Außenminister 1969-72 und 1973-74 sowie wiederum als Ministerpräsident 1974-76 nahm Italien eine solche Führungsrolle im Mittelmeerraum ein, während die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien sich aus den unabhängig werdenden Nationen in Afrika und im Nahen Osten zurückziehen mußten. Moro setzte damit die Politik fort, die der Industrielle Enrico Mattei begonnen hatte, der „Win-Win“-Beziehungen zu den Ölförderländern hergestellt und so der italienischen Nation mit ihrer aus dem Widerstand gegen den Faschismus hervorgegangenen Führung neues Ansehen verschafft hatte.

Fasanella identifiziert die intellektuellen Grundlagen dieser Politik richtig in den Lehren von Papst Paul VI., einem Mentor Moros und anderer aufstrebender junger Politiker, die nach dem Krieg die Democrazia Cristiana (DC) gründeten. 1967 veröffentlichte Paul VI. seine Enzyklika Populorum Progressio, ein Meilenstein in der Geschichte der katholischen Soziallehre. Zum ersten Mal befaßte sich ein wegweisendes kirchliches Dokument nicht nur mit der Ungerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft, sondern auch zwischen den Nationen und insbesondere zwischen dem Norden und dem Süden. Fasanella schreibt:

„In diesem Schreiben griff der Papst die Linie seines Vorgängers im Zweiten Vatikanischen Konzil auf und entwickelte sie weiter, er führte die Soziallehre der Kirche auf den Höhepunkt ihrer Bloßstellung sowohl der für den Hunger verantwortlichen ,Technokratien’ als auch des Neokolonialismus. Jedes dieser ,in Stein gemeißelten’ Worte Pauls VI. wirkte wie ein Geißelhieb gegen die reichen Länder und ihre Establishments: ,Die Entwicklung der Völker wird von der Kirche aufmerksam verfolgt: vor allem derer, die dem Hunger, dem Elend, den herrschenden Krankheiten, der Unwissenheit zu entrinnen suchen; derer, die umfassender an den Früchten der Zivilisation teilnehmen und ihre Begabung wirksamer zur Geltung bringen wollen, die entschieden ihre vollere Entfaltung erstreben... Man wird sicher zugeben müssen, daß die Kolonialmächte häufig ihre eigenen Interessen verfolgt haben, ihre Machtstellung, ihr Ansehen.’ Ihre Oligarchien genießen ,alle Vorteile der Zivilisation’, während die unterdrückten Völker ,sich oft in Lebens- und Arbeitsbedingungen befinden, die des Menschen unwürdig sind’.“

Die Rechte verurteilte diese Enzyklika als „Marxismus“, aber in Wirklichkeit bot Paul VI. „den Entwicklungsländern ein Modell, das weder Raubtierkapitalismus noch oppressiver Kommunismus war. Gleichzeitig erweiterte er den Horizont der Kirche und überwand den engen europäischen Kontext, in dem sie bisher gewirkt hatte. Die negativen Reaktionen in Großbritannien und in einigen amerikanischen und französischen Kreisen waren verständlich: Der religiöse Einfluß des Vatikan in Lateinamerika, Afrika und sogar einigen asiatischen Ländern wuchs ebenso schnell wie Italiens wirtschaftlicher Einfluß, während die übrige Welt sich stürmisch veränderte und die Kolonialreiche unaufhaltsam zuende gingen.“

Fasanella zeigt, z.T. anhand kürzlich freigegebener Berichte und diplomatischer Kabel aus britischen Archiven, daß diese Politik, die Moro als Schützling und Freund Pauls VI. mit Erfolg umsetzte, der eigentliche Grund war, warum Großbritannien Moro um jeden Preis stoppen wollte. Dabei wurde zuerst die Option eines traditionellen Staatsstreichs erwogen, diese aber dann zugunsten einer, so wörtlich, „anderen Option“ verworfen. Vieles deutet darauf hin, daß diese „andere Option“ Moros Ermordung war.

Da Moro die KPI in die Regierungsverantwortung einbinden wollte, um parlamentarische Rückendeckung für seine Politik sicherzustellen, nutzten die Briten diesen Aspekt, um die Unterstützung der USA für ihre Pläne zu gewinnen. Aber während es den USA vor allem darum ging, daß Italien nicht in die sowjetische Einflußsphäre abrutschen sollte – das war vor allem Henry Kissingers Manie –, also lediglich die KPI aus der Regierung fernzuhalten, zielten die Briten auf Moros Person. Die USA waren durchaus dafür, daß Italien eine starke Rolle im Mittelmeerraum spielte, solange es in der NATO verblieb. Die Franzosen hingegen teilten das Bestreben der Briten, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Unter dem Vorwand, die KPI in Italien einzudämmen, wurde 1974 ein „Direktorat“ der vier Länder Großbritannien, USA, Frankreich und Deutschland gegründet, letzteres wegen seiner strategischen Rolle in der NATO. Ihre Regierungsvertreter trafen sich heimlich, oft in der britischen Botschaft in Rom, um eine „Lösung“ zu planen, wie der unaufhaltsam erscheinende Aufstieg der KPI, die wahrscheinlich schon bald die Parlamentswahl gewinnen und damit rechtmäßig die Regierung übernehmen würde, gestoppt werden könnte.

Rückschau: Schon im September 1978, wenige Monate nach Moros Ermordung, veröffentlichte der italienische Zweig der LaRouche-Bewegung, die Partito Operaio Europeo (POE), einen Bericht unter dem Titel Chi ha Ucciso Aldo Moro? („Wer hat Aldo Moro getötet?“), in dem London als Strippenzieher hinter der Ermordung Moros angeprangert und das strategische Umfeld und Motiv für den Mord in dem durch Populorum Progressio definierten weltweiten Kampf identifiziert wurde.

In diesem Bericht schrieben wir: „Die Politik Pauls VI. kollidierte in allen wesentlichen Aspekten mit London. Als London, durch seine Agenten, die USA dazu trieb, den Vietnamkrieg zu eskalieren, unternahm Paul VI. seine Pilgerreise für den Frieden nach New York zu den Vereinten Nationen. Als die Briten die bevorstehende Wirtschaftskrise ausnutzen wollten, um die Dritte Welt durch die mörderische Politik des Weltwährungsfonds zu zerstören, antwortete Paul VI., indem er neue Kardinäle ernannte, die in der Lage waren, die Nöte der Dritten Welt zum Ausdruck zu bringen, wie es sich in seinem Meisterwerk, der Enzyklika Populorum Progressio, widerspiegelt, dem Manifest einer neuen Ära der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung in den früheren Kolonien.“

LaRouches Mitstreiter hatten damals keinen Zugriff auf britische Archive und die entsprechenden Dokumente waren auch noch nicht freigegeben. Trotzdem konnten wir den Apparat, der Aldo Moro umbrachte, genau identifzieren, indem wir in dem Kampf Moros und Pauls VI. für Entwicklung die Fortsetzung des Kampfes gegen die Oligarchie erkannten, für die in moderner Zeit das Britische Empire steht. Dieser oligarchische Apparat war für jeden sichtbar, der ihn sehen wollte, aber die politischen Kräfte und Institutionen ließen sich von den üblichen „Rechts gegen Links“-Spielchen der Politik blenden.

Das Dossier der POE hatte einige Schwächen, wie z.B. eine falsche Einschätzung der sowjetischen Politik, und ein falsches Verständnis der Bemühungen einiger Kräfte in Italien, die mit den Roten Brigaden über eine Freilassung Moros verhandelten. Diese Aspekte sind inzwischen dank der Recherchen Fasanellas und anderer in den letzten Jahrzehnten geklärt, dennoch wies das POE-Dossier eindeutig in die richtige Richtung, und das wurde auch schon früh von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und ehrlichen Ermittlern anerkannt.

Moros Zeit: Libyen, Malta, Tunesien, Irak

Das „Moro-Puzzle“ begann am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Briten dafür sorgten, daß Italien, obwohl es sich in der letzten Phase des Krieges den Alliierten angeschlossen hatte, nicht an den Friedensgesprächen teilnehmen durfte und ihm eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik verwehrt wurde.

Winston Churchill erläuterte diese britische Doktrin im November 1945 dem Apostolischen Nuntius in Großbritannien. Churchill war nicht mehr Premierminister, spielte aber immer noch eine wichtige Rolle im britischen und internationalen Establishment. Der Inhalt ihres Gesprächs findet sich im Nationalarchiv der USA. Churchill sagte dem päpstlichen Gesandten, die USA und die Sowjetunion seien übereinstimmend der Ansicht, daß die italienische Frage in „britische Zuständigkeit“ fällt, und hätten daher zugestimmt, das Land einer Art Aufsicht Londons zu unterstellen. Während Großbritannien diese Funktion ausübe, würden die Vereinigten Staaten Rom „jede erdenkliche moralische und materielle“ Unterstützung gewähren, „aber im Rahmen der britischen Interessen“; Moskau hingegen werde Italien „in Ruhe lassen“, also nichts aktiv tun, um die Kommunistische Partei Italiens an die Macht zu bringen.

Im Rahmen dieser Absprache teilten Moskau und Washington den britischen Vorbehalt: „Das einzige, was Italien nicht haben wird, ist eine völlige politische Freiheit“, und zwar „viele Jahre lang“. Die politische Kontrolle werde man „so diskret wie möglich ausüben“, aber der Papst solle wissen, daß London gewisse Zweifel bezüglich „einiger linker Fraktionen innerhalb der Christdemokratischen Partei“ habe.

Die politischen Vorgänge im Nachkriegsitalien müssen vor dem Hintergrund dieser Aussagen gesehen werden. Italienische Führungspersönlichkeiten, die sich dieser Kontrolle zu entwinden drohten, wurden entweder physisch beseitigt wie Mattei oder politisch ausgeschaltet, wie Attilio Piccioni, Alcide De Gasperis designierter Nachfolger im Vorsitz der Democrazia Christiana (DC) 1954.1

„Es gibt eine Konstante in der gesamten Geschichte Italiens als Nationalstaat, die wie ein seltsames Paradox, wenn nicht gar ein Fluch erscheint: Jedesmal, wenn Italien danach strebt, eine größere Rolle auf der internationalen Bühne zu spielen, steigt plötzlich das Ausmaß der inneren Streitigkeiten und bindet Energien, Ressourcen und Projekte. Und zwingt es letztendlich, sich wieder hinten anzustellen“, schreibt Fasanella.

Trotzdem war es Italien unter der Führung von De Gasperi, Mattei und Moro gelungen, mit Hilfe einer dirigistischen Wirtschaftspolitik einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung zu bewerkstelligen und immer mehr seine natürliche Führungsrolle im Mittelmeerraum einzunehmen.

Fasanella zitiert Dokumente des Foreign Office und britischer Diplomaten, die ihre Sorge über Moros Außenpolitik äußern: Sie ziehe Länder wie Libyen, Ägypten und sogar Malta in eine wachsende italienische „Einflußsphäre“, wie es die Briten sahen, während sie selbst ihre Militärstützpunkte in diesen Ländern verloren.

Wahrscheinlich überschritt Moro eine rote Linie, als er 1966 das Schläfernetz („Stay Behind“) der NATO in Italien umorganisierte.2 Den von Fasanella zitierten Quellen zufolge entzog Moro diese Organisation - „Gladio“ – der britischen Kontrolle und unterstellte sie einer gemeinsamen amerikanisch-italienischen Führung. Das britische Netzwerk in Italien schuf dann aus Teilen des früheren Gladio-Netzes die Nuclei per la Difesa dello Stato („Bewaffnete Zellen zur Verteidigung des Staates“) unter der Führung ihres wichtigsten Mannes in Italien, Graf Edgardo Sogno Rata del Vallino. Später wurde Sogno eingesetzt, um einen Staatsstreich vorzubereiten, was jedoch abgebrochen wurde, und um die Roten Brigaden zu steuern. Die Roten Brigaden hatten sich aus Überresten radikaler Elemente des kommunistischen Zweigs des Widerstands formiert, die sich durch die konstitutionelle Wende der KPI 1944 verraten fühlten, aber britische Geheimdienstnetzwerke konnten die Führung der Roten Brigaden übernehmen und sie in der Phase vor und während Moros Entführung und Ermordung steuern.3

Zwei Optionen

Die terroristische Destabilisierung Italiens begann 1969 mit dem Anschlag auf der Piazza Fontana in Mailand, und sie endete 1978 mit der Ermordung Moros. Die Briten selbst bezeichneten diese Phase als eine „Strategie der Spannung“. Die fiktive oder reale Gefahr eines rechten Putschs wurde dazu benutzt, einen linken Widerstand dagegen aufzubauen, aus dem die Roten Brigaden und andere Terrorgruppen hervorgingen, was schließlich 1977 zu dem großen Aufstand der „Bewaffneten Partei“ um die Autonomia Operaia („Arbeiterautonomie“) führte.

1976 schufen die Briten einen Ausschuß von 15 Vertretern des Foreign Office und des Verteidigungsministeriums, der einen Bericht erstellte, in dem zwei Optionen für Italien erwogen wurden: entweder ein klassischer Militärputsch oder als Rückfalloption „Unterstützung für eine andere subversive Aktion“. Fasanella hat die betreffenden Dokumente schon in seinem Buch Il Golpe Inglese („Der britische Putsch“) veröffentlicht.4 In Das Moro-Puzzle bringt er nun neue Dokumente, aus denen hervorgeht, wie dieser Bericht damals zunächst mit den USA und Deutschland besprochen wurde – die einen Putsch ablehnten –, und dann umformuliert wurde, um deren Vorbehalte zu berücksichtigen, aber die „Option B“ offenzulassen.

Einige Monate später wurde der Leiter dieses „15er-Ausschusses“, der den Bericht verfaßt hatte, Alan Hugh Campbell, nach Rom geschickt, um dort den britischen Botschafter abzulösen und die „andere Aktion“ durchzuführen.

Diese „andere Aktion“ bestand vermutlich im Einsatz der Roten Brigaden, wie Claudio Signorile kürzlich in einem Interview sagte. Signorile war seinerzeit vom damaligen Sozialistenchef Bettino Craxi damit beauftragt worden, Kontakt zu den Roten Brigaden aufzunehmen, um über Moros Freilassung zu verhandeln.

Moro wurde am 16. März entführt und 55 Tage in Gefangenschaft gehalten. Während dieser 55 Tage vertraten zwar alle politischen Kräfte die Linie, nicht mit den Terroristen zu verhandeln, dennoch gab es mehrere inoffizielle Versuche, Kontakt mit den Roten Brigaden aufzunehmen und Moros Befreiung auszuhandeln – darunter einen von Craxi und einen von Papst Paul VI., der bereit war, eine Billion Lire (umgerechnet etwa eine Million Euro) Lösegeld zu bezahlen. Staatspräsident Giovanni Leone war bereit, inhaftierte Terroristen zu begnadigen, und am Abend des 8. Mai war alles vorbereitet, daß Amintore Fanfani, ein führendes Mitglied der DC und Verbündeter Moros, bei einem Treffen der Parteiführung am nächsten Tag diese Entscheidung verkünden würde.

Doch am Morgen des 9. Mai gaben die Roten Brigaden bekannt, daß sie Aldo Moro exekutiert hatten, und man fand seine Leiche in einem roten Renault 4 in der Via Caetani in der Stadtmitte Roms, gleich um die Ecke der Hauptquartiere von DC und KPI.

Fasanella stellt in seinem Buch die Hypothese auf, daß die Verhandlungen scheiterten, weil an einem bestimmten Punkt eine dritte Partei hinzukam und die Geisel von den Roten Brigaden übernahm. In früheren Büchern, wie Il Misterioso Intermediario („Der mysteriöse Vermittler“), hat Fasanella sich ausführlich damit befaßt, welche Rolle der britische Geheimdienstoffizier Hubert Howard, der in die aristokratische Familie Caetani eingeheiratet hatte und im Palazzo Caetani in der Via Caetani lebte, in der Endphase der Ermordung Moros gespielt haben könnte – und daß er möglicherweise auch den Befehl zu dem Mord gab.

In Das Moro-Puzzle berichtet Fasanella, der inzwischen verstorbene Staatspräsident Francesco Cossiga, der vor und während Moros Entführung Polizeiminister war, habe ihm mitgeteilt, daß die NATO während Moros Gefangenschaft die Leitung der Polizeioperationen übernahm, aus Furcht, Moro könnte seinen Entführern wichtige Geheimnisse der NATO verraten. „Die NATO nahm die Lage in ihre Hände, über spezielle Schläfereinheiten und über Deutschland, das damals das Direktorat leitete, das die Aktivitäten der atlantischen Geheimdienste koordinierte.“ Dies wurde 1990 durch ein offizielles Dokument des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND) bekannt, das Cossiga erhalten und an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet hatte – nachdem er die Passage über die Schläfer entfernt hatte.

Lehren für die Gegenwart

Das Moro-Puzzle erreichte bereits einen Monat nach seinem Erscheinen die dritte Auflage, und Fasanella hält fast jeden Tag Vorträge in ganz Italien. Das ist ein gutes Zeichen und gibt Hoffnung, daß daraus an einem bestimmten Punkt eine politische Wende erfolgt.

Die Lehren aus der Geschichte des Moro-Puzzles sind offensichtlich, wenn man die zeitgenössischen Vorgänge betrachtet. Zwei Beispiele: der Krieg gegen Libyen 2011 und der Fall Regeni, der 2016 eine Krise zwischen Italien und Ägypten auslöste.

Der Libyenkrieg ging vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy aus, mit Unterstützung der britischen Regierung, der Vereinigten Staaten und der NATO – und das ein Jahr, nachdem Italien einen Freundschaftsvertrag mit Libyen geschlossen hatte, in dem es seine Verantwortung als ehemaliger kolonialer Aggressor anerkannte und sich zu Reparationen (in Form großer Infrastrukturprojekte) verpflichtete. Die Folgen des anglo-amerikanisch-französischen Krieges und der Ermordung Gaddafis waren die Zerstörung des libyschen Staats und die Ausbreitung von Terrorismus – nicht zuletzt durch libysche Waffen und Milizionäre, die nach Syrien strömten. Italien verlor nicht nur einen wichtigen Handelspartner und Öllieferanten, es trägt auch die Hauptlast der Flüchtlingswelle.

In Ägypten wurde im Februar 2016 in Kairo der italienische Student Giulio Regeni tot aufgefunden. Aufgrund einer Kampagne von Amnesty International, die den ägyptischen Präsidenten Al-Sisi für den Mord verantwortlich machte, berief die Regierung Renzi den italienischen Botschafter aus Ägypten ab. Er wurde erst mehr als ein Jahr später wieder nach Ägypten entsandt. Regeni war Student an der britischen Universität Cambridge gewesen, und seine Tutorin, eine Anti-Sisi-Aktivistin, hatte ihn auf eine hochgefährliche spionageartige Mission geschickt. Seine Leiche wurde an dem Tag gefunden, als gerade eine hochrangige italienische Wirtschaftsdelegation unter Leitung des Industrieministers Kairo besuchte. Kurz zuvor hatte der staatliche italienische Energiekonzern ENI das größte bisher bekannte Ölfeld im Mittelmeer entdeckt, wodurch Ägypten zum Selbstversorger mit Energie wird.

Auf diese Weise wurde Italien aus Libyen und Ägypten vertrieben – zwar nur vorübergehend, aber lange genug, um zu verhindern, daß Italien zusammen mit Ägypten, dieses wiederum unterstützt von Rußland, eine stabilisierende Rolle in Libyen spielen konnte. Auch wenn jetzt wieder ein italienischer Botschafter in Ägypten ist und einige der Fehler aufgedeckt wurden, fällt es Italien immer noch schwer, eine nationale Einheit für politische Ziele zu finden. Wie Fasanella schreibt, steigt gerade in Zeiten, in denen eine nationale Einheit dringend notwendig wäre, „plötzlich das Ausmaß der inneren Streitigkeiten“ zwischen den politischen Fraktionen. Das Resultat der jüngsten Parlamentswahl ist dafür beispielhaft: Keine Partei gewann eine regierungsfähige Mehrheit, und es erscheint leichter, den Mount Everest zu besteigen, als eine gemeinsame Basis für eine Koalition zu finden.

Trotzdem zeigt der kleine Schritt der scheidenden italienischen Regierung Ende Februar im nigerianischen Abuja,5 wie man landesweit Unterstützung für die Fortsetzung einer Politik im Sinne Moros und Pauls VI. gewinnen könnte. Nach jahrelangem Einsatz des Schiller-Instituts und des Verfassers wurde der erste Schritt zu einem großen Entwurf für Afrika getan, als bekanntgegeben wurde, daß dank eines Zuschusses der italienischen Regierung nun endlich eine Machbarkeitsstudie für das Transaqua-Projekt durchgeführt werden kann.

Auch wenn dies, gemessen an den eingesetzten Mitteln, nur ein kleiner Schritt ist, hat eine solche Entscheidung große politische Bedeutung, was die internationalen Medien auch schnell erkannten. Italien ist das erste europäische Land, das einen konkreten Schritt getan hat, um gemeinsam mit China im Geiste der Gürtel- und Straßen-Initiative Afrika wirtschaftlich zu entwickeln. Das ist nur ein Anfang, aber die Dynamik ist nicht aufzuhalten. Wie Giovanni Fasanella am Schluß seines Buches schreibt: „Die Geschichte ist geduldig, und sie nimmt immer ihre Rache.“


Anmerkungen

1. Eine umfassendere Darstellung des Falles Moro finden Sie in: Claudio Celani, „Mattei und Kennedy: Die von den Briten ermordete strategische Allianz“, Neue Solidarität 25, 26 und 29/2009.

2. Diese Netzwerke sollten im Fall einer Besetzung des Landes durch die Sowjetunion hinter den feindlichen Linien verbleiben, um den Kampf im Untergrund fortzusetzen.

3. Vgl. Claudio Celani, „Der Graf, die NATO und die Roten Brigaden“, Neue Solidarität 1-2/2005.

4. Vgl. Claudio Celani, „Der britische Putsch“, Interview mit Giovanni Fasanella, Neue Solidarität 40/2011.

5. Vgl. Claudio Celani, „Internationale Tschadsee-Konferenz in Abuja: ein historischer Durchbruch für Afrikas Entwicklung“, Neue Solidarität 11/2018.