Die Wiederherstellung des Völkerrechts
Von Prof. Hans Köchler, Präsident der I.P.O.
Den folgenden Vortrag hielt Prof. Hans Köchler am 1. Juli 2018
vor der Internationalen Konferenz des Schiller-Instituts in Bad Soden,
Deutschland (Übersetzung aus dem Englischen).
I. Diagnose: Antagonismus zwischen Recht und Realpolitik
Bevor die Staatengemeinschaft daran gehen kann, das Völkerrecht
wiederherzustellen, muß Klarheit herrschen über die Natur des Rechts. In vielen
Debatten über eine Reform des Systems der internationalen Beziehungen haben
Mißverständnisse darüber, was eine Rechtsnorm ausmacht, zu falschen Erwartungen
und zur Ernüchterung über die Weltordnung insgesamt geführt.
Recht ist ein System von gesellschaftlichen Verhaltensnormen, deren Befolgung
– konsistent und dauerhaft – vom Staat auf der Grundlage seines
Gewaltmonopols erzwungen wird.1 Der Begriff „Rechtsstaat“
bezeichnet ein System, in dem die Normen mithilfe der staatlichen Zwangsgewalt
durchgesetzt werden, wobei – zwecks Vermeidung von Willkür – eine
funktionierende Gewaltenteilung („checks and balances“) entscheidend ist.
Generell gilt: Eine Norm ohne Sanktionen ist keine Rechts-, sondern eine
Moralnorm. Auch wenn Rechtsnormen auf dem moralischen Prinzip des
bonum commune (Gemeinwohl) gründen sollen, haben sie als solche nicht den
Charakter moralischer Gebote. Die differentia specifica zwischen Recht
und Moralität liegt in der Durchsetzung. Eine Verletzung moralischer
Normen hat Konsequenzen im idealen (metaphysischen) Bereich. Die Übertretung
rechtlicher Vorschriften hingegen hat Auswirkungen hic et nunc, nämlich
eine Sanktion (Strafe) in der realen Welt.2 Nur letzteres sichert
Frieden und Stabilität in einem gegebenen gesellschaftlichen System. Die
konsequente Durchsetzung von Normen macht das Wesen des Rechtsstaates aus und
ist das Kriterium, das einen legitimen von einem „gescheiterten“ Staat („failed
state“) unterscheidet. Was die innerstaatliche Rechtsordnung angeht, wird diese
Verknüpfung von Norm und gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht bestritten.
Die entscheidende Frage ist, ob dieses Kriterium auch im Bereich des
Völkerrechts erfüllt ist: Gibt es – widerspruchsfreie und wirksame
– Regelungen zur Durchsetzung der Normen des zwischenstaatlichen Verhaltens,
insbesondere was das Gewaltverbot, den Grundpfeiler des UNO-Systems der
internationalen Rechtsstaatlichkeit, betrifft? Die Antwort lautet schlicht und
einfach: nein. Gibt es ein System der Gewaltenteilung bezüglich der
gemeinschaftlichen Durchsetzung von Normen – v.a. für den Bereich der
kollektiven Sicherheit? Wiederum lautet die Antwort: nein.
Man muß zunächst die Illusionen über das Völkerrecht im gegenwärtigen System
der Vereinten Nationen überwinden, bevor man Abhilfe schaffen kann. Wir müssen
daher die Gründe identifizieren, warum das internationale System – und
insbesondere die Organisation der Vereinten Nationen – die wesentlichen
Kriterien für die Herrschaft des Rechts nicht erfüllt – und dies vor allem im
zentralen Bereich von Frieden und internationaler Sicherheit oder, allgemeiner
gesagt, globaler Gerechtigkeit.
Die Symptome sind für jeden offensichtlich. Auch die Ursachen der
Dysfunktionalität des Völkerrechts sind einfach zu erkennen, werden aber zumeist
übersehen – schlicht und einfach deshalb, weil man sozusagen das Kleingedruckte
in der UNO-Charta nicht liest. Das gegenwärtige System des Völkerrechts, wie es
in der bisher einzigen universellen zwischenstaatlichen Organisation, den
Vereinten Nationen, verkörpert ist, war von Anfang an mit Mängeln behaftet. Das
zeigt sich insbesondere in den folgenden Bestimmungen der Charta über
Zuständigkeiten und Entscheidungsabläufe, und in den Wechselbeziehungen zwischen
diesen beiden Bereichen:
1. Die Rechtsdurchsetzung ist allein dem Sicherheitsrat als oberstem
Exekutivorgan der Weltorganisation – das sich nach und nach auch als de facto
Legislativgewalt etabliert hat3 – anvertraut. Nach Kapitel VII der
Charta, das die Mechanismen der kollektiven Sicherheit umfasst, hat der
Sicherheitsrat in allen Fragen, die mit der Einhaltung der zentralen
völkerrechtlichen Norm des Gewaltverbotes (Artikel 2[4] der UNO-Charta)
zusammenhängen, die oberste Autorität. Er steht mit dieser Zuständigkeit auch
über der nationalen Souveränität der Mitgliedsstaaten: Die Entscheidungen des
Rates nach Kapitel VII sind für alle Mitgliedstaaten rechtlich bindend.
Die Zwangsgewalt des Rates ist in dieser Hinsicht praktisch unbegrenzt. Sie
reicht von der Verhängung diplomatischer und wirtschaftlicher Sanktionen und der
Unterbrechung von Verkehrsverbindungen und aller Arten von Kommunikation bis hin
zum Einsatz von Waffengewalt. Die konkreten Maßnahmen stehen im freien Ermessen
des Rates – ohne jede Berufungsmöglichkeit seitens der betroffenen Staaten. (Der
Internationale Gerichtshof ist in Angelegenheiten der kollektiven Sicherheit
nicht zuständig.)4 Die Durchsetzung der Resolutionen des
Sicherheitsrates nach Kapitel VII wird sichergestellt durch die ständige
Mitgliedschaft derjenigen Länder, die 1945, als die Organisation gegründet
wurde, die mächtigsten waren. Dies bezieht sich vor allem auf deren
militärisches Potential. Durch mehrere Jahrzehnte waren diese fünf Länder (die
Vereinigten Staaten, die Sowjetunion [jetzt Rußland], China [ursprünglich die
Republik China auf Taiwan, jetzt die Volksrepublik China], das Vereinigte
Königreich und Frankreich) auch die einzigen Nuklearmächte. Der Charta zufolge
ist ein „Generalstabsausschuß“ (Military Staff Committee) zu bilden, der aus den
Generalstabschefs der ständigen Mitglieder besteht und „für die strategische
Leitung aller dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte
verantwortlich“ ist (Artikel 47 [3]). Auch wenn diese spezielle Bestimmung
bisher nur auf dem Papier besteht, läßt sich daraus deutlich der Grundgedanke
der UNO-Doktrin der kollektiven Sicherheit ablesen: nämlich, daß in allen
Fragen, die mit der Erhaltung oder Wiederherstellung des Friedens und der
internationalen Sicherheit zusammenhängen, primär die mächtigsten Länder
mit der Durchsetzung der Regeln betraut sind – auch wenn grundsätzlich alle
Mitgliedsstaaten des Rates dafür gemeinsam und im Namen aller UNO-Mitglieder
verantwortlich und zuständig sind (Artikel 24[1]).
2. Gleichzeitig sind diese fünf Staaten, die vorrangig für die Durchsetzung
der Regeln (Normen) zuständig sind, nicht nur de facto, sondern auch
de jure von allen Zwangsmaßnahmen ausgenommen, sollten sie selbst die
Regeln verletzen. Die Rechtsnormen (konkret: das Gewaltverbot) gelten faktisch
nicht für ihr eigenes außenpolitisches Handeln. Dies folgt aus den Bestimmungen
des Artikels 27(3) der Charta über das Abstimmungsverfahren im Sicherheitsrat.
Die Formulierungen sind eindeutig und lassen keinen Interpretationsspielraum
zu:
(a) Alle Entscheidungen – außer in Verfahrensfragen – erfordern die
Zustimmung der fünf ständigen Mitglieder. Das bedeutet, daß der Rat keine
Zwangsmaßnahmen beschließen kann, wenn eines der ständigen Mitglieder ein
Veto einlegt.5
(b) Die allgemeine Norm, wonach eine Streitpartei sich der Stimme enthalten
muß – sozusagen ein Gebot rechtlicher Vernunft – gilt nicht für
Entscheidungen des Rates nach Kapitel VII. Das bedeutet, daß ein ständiges
Mitglied völlig „ungestraft“ einen Akt der Aggression gegen einen anderen Staat
begehen kann. Dieses Mitglied kann jede gegen seine eigene Aggression gerichtete
Zwangsmaßnahme des Sicherheitsrates mit seinem Veto verhindern. Die Folgen
können mit keiner wie immer gearteten rechtlichen Interpretation schöngeredet
werden: Das völkerrechtliche Gewaltverbot gilt faktisch nicht für die
ständigen Mitglieder.
(c) In diesem statutarischen Rahmen gibt es keinerlei Gewaltenteilung. Es
gibt kein Verfassungsgericht der Vereinten Nationen, das über
Zwangsentscheidungen des Sicherheitsrates urteilen könnte. (Wie schon erläutert,
ist der Internationale Gerichtshof dafür nicht zuständig.) Es gibt auch keine
legislative Instanz, die vom Sicherheitsrat unabhängig wäre. Die
UNO-Vollversammlung ist kein Parlament mit gesetzgeberischen Vollmachten,
sondern ein beratendes Gremium, das lediglich Empfehlungen aussprechen kann und
in Fragen von Frieden und Sicherheit sogar diese bescheidene Kompetenz nicht
wahrnehmen darf, solange der Sicherheitsrat in einer Streitigkeit oder Situation
die ihm zugewiesene Aufgabe wahrnimmt (Artikel 12 der Charta).
Diese Regelungen bedeuten schlicht und einfach, daß in der Charta der
Vereinten Nationen Macht vor Recht geht. Von den Vereinten Nationen ist
also genau dann nichts zu erwarten, wenn ein ständiges Mitglied an einem Streit
beteiligt oder selbst der Aggressor ist. Was den Frieden und die internationale
Sicherheit anlangt, arbeitet die Weltorganisation, die sich selbst als Garant
der internationalen Herrschaft des Rechts versteht, tatsächlich auf der
Grundlage des Machtprinzips. Darin liegt sozusagen der
Konstruktionsfehler des Völkerrechts seit der Gründung der Weltorganisation.
Es kann kein Recht geben, wenn es kein System widerspruchsfreier Regeln zur
Durchsetzung des Rechtes gibt. Eine Politik des Messens mit zweierlei Maß
zugunsten der mächtigsten Mitgliedsstaaten, wie sie in der Charta
festgeschrieben ist, ist ein Affront gegenüber der Völkergemeinschaft und macht
die Hervorhebung der „souveränen Gleichheit“ aller Mitgliedstaaten als
„Grundsatz“ (Principle) der Vereinten Nationen (Artikel 2[1]) zur Farce.
Zusammengefaßt: Die Vereinten Nationen sind aus zwei einfachen Gründen
ineffizient und dysfunktional:
a. weil das mächtigste Land / die mächtigsten Länder (die ständigen
Mitglieder) aus verfahrensrechtlichen Gründen im Falle ihrer eigenen
Übertretungen nichts zu befürchten haben;
b. weil die stärksten Akteure gerade aufgrund ihrer Macht, geschützt durch
das Vetoprivileg, die Rechte und Interessen der anderen auch
realpolitisch nicht berücksichtigen müssen.
Aus der mißlichen Lage, in welche das Abstimmungsverfahren (siehe oben Punkt
[a]) die Organisation gebracht hat, gibt es keinen Ausweg, solange der
„Selbstimmunisierungsmechanismus“, den die Gründerstaaten der UNO – nämlich die
ständigen Mitglieder (mit Ausnahme Frankreichs) – in die Charta „eingebaut“
haben, in Kraft ist: Gemäß Artikel 108 kann nicht einmal ein Komma in der Charta
geändert werden, wenn die fünf ständigen Mitglieder nicht zustimmen.
Unter diesen Voraussetzungen müssen Appelle an die Großmächte, sich bei der
Ausübung ihres Vetorechts zurückzuhalten, wirkungslos bleiben. Was allein diese
Staaten von der Notwendigkeit zur Zurückhaltung überzeugen könnte, ist ein
Machtgleichgewicht zwischen denen, die über das Vetoprivileg verfügen,
also den ständigen Mitgliedern. In gewissem Maße existierte eine solche
Konstellation in den Anfangsjahren der Vereinten Nationen. Im Verlauf des Kalten
Krieges wandelte sie sich zu einem bipolaren Gleichgewicht zwischen den
Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Die beiden seinerzeitigen Supermächte
hielten sich gegenseitig in Schach, was bedeutete, daß es für jeden von ihnen
praktisch unmöglich war, den Sicherheitsrat einseitig für die eigenen
Ziele zu nutzen.
Die Wahrheit ist schlicht und einfach: Wenn es keine rechtliche
(konstitutionelle) Gewaltenteilung gibt, verlagert sich die Möglichkeit,
die Willkür der Machtausübung zu begrenzen, auf die Ebene der Realpolitik: es
geht um die Herausbildung eines Machtgleichgewichtes, sei es
multipolar oder bipolar. Mit dem Ende des Kalten Krieges verlor jedoch dieses
„Korrektiv der Machtpolitik“ plötzlich seine Wirkung. Die Vereinigten Staaten
als einzige verbliebene Supermacht sahen sich nunmehr in der Lage, nicht
nur rechtlich, sondern auch realpolitisch vollkommen „straflos“ zu agieren –
ohne nachteilige Konsequenzen aus Verstößen gegen die UNO-Charta befürchten zu
müssen –, wie sich in wiederholten Verletzungen des Gewaltverbotes u.a. im
Kosovo-Krieg 1999 und im Irak-Krieg 2003 zeigte.
Angesichts dieser Umstände besteht gegenwärtig die einzige Hoffnung auf einen
Wandel in der schrittweisen Herausbildung eines neuen weltweiten
Machtgleichgewichtes. Wie sich an der Kooperation der BRICS-Staaten (Brasilien,
Rußland, Indien, China, Südafrika) und an der Gründung neuer regionaler
Organisationen zeigt, wird dieses Gleichgewicht wahrscheinlich multipolar sein.
Diese „globale Neupositionierung“, um einen Begriff des verstorbenen Zbigniew
Brzezinski zu verwenden,6 wird aber wohl ein langfristiger Prozeß
sein.
II. Die Wiederherstellung des Völkerrechts
In den Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde offensichtlich,
daß das Völkerrecht nur unter der Voraussetzung eines nicht bloß
satzungsmäßigen, sondern auch realen Machtgleichgewichtes
existieren kann. Der Organisation der Vereinten Nationen in ihrer gegenwärtigen
Form mangelt es selbst an den grundlegendsten Verfahrensregeln zu einer
konsistenten und konsequenten Durchsetzung des Völkerrechts. Es
gibt nun einmal kein Recht ohne eindeutige und präzise Mechanismen der
Rechtsdurchsetzung. Wenn diese fehlen, herrscht das „Gesetz des Dschungels“.
Dies war von Anfang an auch das Problem der sogenannten „Neuen Weltordnung“, wie
sie vom Präsidenten der einzig verbliebenen Supermacht nach dem Ende des
Machtgleichgewichtes des Kalten Krieges proklamiert wurde.7
Tatsächlich ist es so, daß sich unter den Bedingungen der heutigen Realpolitik
die „internationale Herrschaft des Rechts“ (international rule of law) – ein
feierlich verkündetes Ziel der Vereinten Nationen – immer mehr verflüchtigt
hat.
Die Wiederherstellung des Völkerrechts wird nur möglich sein, wenn
folgende Voraussetzungen zutreffen bzw. die folgenden Entwicklungen
eintreten:
a. Machtgleichgewicht: Die realpolitischen Tatsachen müssen zur
Kenntnis genommen werden. Wenn es um die Wiederbelebung des internationalen
Rechtssystems geht, wird daher die Herausbildung einer neuen multipolaren
Ordnung von entscheidender Bedeutung sein. Nur wenn die Arroganz der Macht
wirksam durch die Macht der anderen eingeschränkt ist (d.h., wenn ein
Machtgleichgewicht zwischen den Großmächten besteht), wird es eine realistische
Chance geben, daß sich die Staaten „an die Spielregeln halten“. Eine solche
Entwicklung könnte dann auch kleineren und schwächeren Staaten im globalen
Konzert der Mächte einen gewissen Handlungsspielraum eröffnen.
b. Nationale Souveränität: Die „souveräne Gleichheit“ der Staaten
(Artikel 2[1]),8 einer der zentralen Grundsätze der Charta der
Vereinten Nationen, darf nicht weiter durch Verfahrensregeln wie das
Vetoprivileg von fünf namentlich genannten Ländern (Artikel 27[3])
kompromittiert werden. Gleichheit vor dem Gesetz als wesentlicher
Rechtsgrundsatz hat keine Bedeutung, wenn es einige gibt, die „gleicher“ sind
als die anderen.
c. UNO-Reform: Die Charta der Vereinten Nationen muß deshalb so
reformiert werden, daß ihre grundlegenden Normen durchsetzbar werden. Nur auf
diese Weise kann der Begriff der internationalen Herrschaft des Rechts überhaupt
einen Sinn haben. Vorrangiges Ziel der Reformmaßnahmen müßte daher sein, alle
normativen Widersprüche in der UNO-Charta zu eliminieren.9 Nur dies
kann der Politik des Messens mit zweierlei Maß ein Ende setzen, für welche die
Weltorganisation unrühmlich bekannt geworden ist.
Die Maßnahmen unter (c) müßten insbesondere eine Reform des Sicherheitsrates
mit einschließen – sowohl was seine Zusammensetzung als auch was die
Abstimmungsregeln betrifft. (Eine solche Reform ist eine notwendige Konsequenz
der unter den Punkten [a] und [b] erwähnten Voraussetzungen bzw. Entwicklungen.)
Die Vetoregelung des Artikels 27(3) wäre so zu modifizieren, daß das Vetorecht
die Erfordernis eines Konsenses zwischen den wichtigen Weltregionen bedeutet.
Anstatt die mit diesem Privileg verbundene ständige Mitgliedschaft an die
Machtkonstellation einer vergangenen Ära zu knüpfen (mit drei westlichen Ländern
plus Rußland, als Nachfolgestaat der Sowjetunion, und China als den einzigen
„Nutznießern“), sollte die Charta den Begriff der ständigen Mitgliedschaft im
Hinblick auf die globalen Regionen neu definieren. Dementsprechend
sollten nicht bestimmte namentlich genannte Staaten, sondern kollektive
Körperschaften – regionale Organisationen wie die Afrikanische Union, die
Europäische Union, der Verband Südostasiatischer Staaten (ASEAN), etc. – den
Status von ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat erhalten. Jede bindende
Entscheidung nach Kapitel VII der Charta würde somit einen Konsens zwischen den
Regionen erfordern.10 Dies wäre nicht nur demokratischer als die
bisherige Regelung, sondern es böte auch einen zusätzlichen Schutz für kleinere
und schwächere Staaten gegenüber dem Machtmißbrauch der stärksten
Mitgliedsstaaten.
Vor allem aber müssen die Formulierungen der Charta geändert werden, die es
Streitparteien – insbesondere Staaten, die einen Angriffskrieg führen –
gewissermaßen indirekt ermöglichen, das Veto dazu zu benutzen, sich selbst zu
schützen.11 Dies hätte eine enorme „zivilisierende Wirkung“ auf diese
Staaten, und es würde helfen, das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft in
die Weltorganisation wiederherzustellen. Ein völkerrechtliches Gewaltverbot ist
so lange nicht glaubwürdig, als der Aggressor Richter in eigener Sache sein
kann.
Die Idee, die dieser längst überfälligen Anpassung der Charta an die Welt von
heute – und damit an die Erfordernisse der Demokratie und der
Rechtsstaatlichkeit – zugrunde liegt, ist keineswegs, Strukturen eines
Weltstaates zu schaffen. Dieser wäre ein totalitärer Koloß, der die
Souveränität der bestehenden Staaten völlig absorbieren, die kulturelle Vielfalt
bedrohen und die Rolle aller internationalen Akteure marginalisieren würde.
Hauptziel der Reformmaßnahmen muß vielmehr sein, ein konsistentes
(widerspruchsfreies) System der Entscheidungsfindung und der Koordinierung der
Politik zwischen einer Vielzahl souveräner Staaten auf der Grundlage der
Gegenseitigkeit zu schaffen. Dies ist auch der Sinn des Grundsatzes der
souveränen Gleichheit in der Charta.
Man darf sich allerdings keiner Illusion hingeben: unter den gegenwärtigen –
satzungsmäßigen wie politischen – Bedingungen ist das vorhin Skizzierte immer
noch ein Traum, denn die Inhaber der Macht und der mit ihr verbundenen
Privilegien werden ihre Sonderstellung nicht einfach aufgeben, zumal sie diese
mithilfe des Vetos gemäß Artikel 108 der Charta bequem verteidigen können.
Allerdings könnte die bereits absehbare Entwicklung einer multipolaren
Machtkonstellation nach und nach auch diejenigen, die bisher am meisten vom
Status quo in der UNO profitiert haben, überzeugen, daß ein weiteres Insistieren
auf ihren Privilegien letztendlich ihren eigenen nationalen Interessen
(einschließlich ihrer vitalen wirtschaftlichen Interessen) schadet.
Da sich die Natur des Menschen – und somit auch des kollektiven
Handelns – im Alltag der zwischenstaatlichen Beziehungen nicht ändern wird,
liegt die einzige Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Völkerrechts in einer
klugen, mit Umsicht geführten Realpolitik. Eine Neufassung der Charta der
Vereinten Nationen entlang den hier skizzierten Linien wird dazu unerläßlich
sein. Sollte sich dies als unmöglich erweisen, wird die Gemeinschaft der Völker
wohl nicht umhin kommen, über einen Neubeginn in einem anderen
normativen Rahmen nachzudenken. Dies würde bedeuten, daß eine Organisation,
die das Denken und die Machtkonstellation von 1945 verkörpert (nämlich die UNO),
durch eine Organisation souveräner Staaten ersetzt wird, deren Satzung
auf den Realitäten des 21. Jahrhunderts beruht.
Dementsprechend muß der Wiederherstellung des Völkerrechts eine
Neukonzeption („Reinvention“) der Organisation zwischensaatlicher
Beziehungen auf der Grundlage der souveränen Gleichheit aller Staaten –
und nicht nur derjenigen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade die
mächtigsten sind – vorausgehen.12 Wie stets in der Geschichte besteht
die Herausforderung nicht darin, einen Vorschlag zu erarbeiten, sondern wie man
den für die Erreichung der Ziele notwendigen Paradigmenwechsel im normativen
Rahmen herbeiführen und so den Abstand zwischen Idee und Wirklichkeit
überbrücken kann. Wenn die feierlichen Erklärungen der Präambel und die Ziele
und Grundsätze der UNO-Charta mehr sein sollen als bloße Ermahnungen, dann darf
die Herrschaft des Rechts nicht durch das Diktat der Machtpolitik kompromittiert
werden.
Fußnoten
1. Der Begriff „Gewaltmonopol“ wurde von Max Weber geprägt: Wirtschaft und
Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie [1921/22]. Hrsg. Johannes
Winckelmann. 5., rev. Ausgabe. Tübingen: Mohr, 2009, § 17 („Politischer Verband,
Hierokratischer Verband“).
2. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. (Studienausgabe der 2. Auflage
1960.) Hrsg. M. Jestaedt. Tübingen/Wien: Mohr Siebeck / Verlag Österreich, 2017,
Kapitel I/6/c: Das Recht als normative Zwangsordnung, S. 94ff.
3. Zu den Details siehe Hans Köchler, The Security Council as
Administrator of Justice? Reflections on the Antagonistic Relationship between
Power and Law. Studies in International Relations, Bd. XXXII. Wien:
International Progress Organization, 2011, S. 64ff.
4. Vgl. das Urteil des Internationalen Gerichtshofes vom 27. Februar 1998:
Case Concerning Questions of Interpretation and Application of the 1971
Montreal Convention arising from the Aerial Incident at Lockerbie (Libyan Arab
Jamahiriya v. United States of America). Preliminary Objections, Paragraph
43 (per Implikation).
5. Nach Artikel 27(3) bedürfen Entscheidungen des Sicherheitsrates der
Zustimmung sämtlicher ständigen Mitglieder („concurring votes of the permanent
members“). Obwohl die Formulierung dieser Bestimmung semantisch eindeutig ist,
hat die inzwischen etablierte Praxis, Enthaltungen der ständigen Mitglieder als
Zustimmung („concurring votes“) zu werten, zu einer beträchtlichen Ambiguität
geführt. Diese Interpretation zu akzeptieren erfordert in der Tat ein
sacrificium intellectus: man muß den Begriff der „Enthaltung“ nämlich so
umdefinieren, daß er auch „Zustimmung“ umfaßt.
6. Zbigniew Brzezinski, „Toward a Global Realignment“, in: The American
Interest, Bd. 11, Nr. 6 (Juli/August 2016), S. 1-3.
7. Zu den Details siehe Hans Köchler, Democracy and the New World
Order. Studies in International Relations, Bd. XIX. Wien: International
Progress Organization, 1993.
8. In der UNO-Charta ist die „souveräne Gleichheit“ ein normativer,
kein deskriptiver Begriff. Demgemäß darf er nicht so verstanden werden,
als ob alle Staaten gleich an Macht oder Einfluß wären. „Gleichheit“ bezieht
sich vielmehr auf die Rechte und Pflichten aller Staaten im Rahmen der
Rechtsordnung der Vereinten Nationen.
9. Zu den Details siehe die Analyse des Verfassers: „Normative
Inconsistencies in the State System with Special Emphasis on International Law“,
in: The Global Community – Yearbook of International Law and Jurisprudence
2016. Hrsg. Giuliana Ziccardi Capaldo. Oxford: Oxford University Press,
2017, S. 175-190.
10. Vgl. dazu dem früheren Vorschlag des Verfassers: The United Nations
and International Democracy: The Quest for UN Reform. Studies in
International Relations, Bd. XXII. Wien: International Progress Organization,
1997, insb. S. 17ff.
11. Dies erfordert eine Neufassung des letzten Satzes von Paragraph 3 des
Artikels 27, indem die Passage „bei Beschlüssen auf Grund des Kapitels VI und
des Artikels 52 Absatz 3“ gestrichen wird.
12. Zum Dilemma der UNO zwischen Macht und Recht vgl. allgemein auch die
Analyse des Verfassers: „The United Nations Organization and Global Power
Politics: The Antagonism between Power and Law and the Future of World Order“,
in: Chinese Journal of International Law, Bd. 5, Nr. 2 (2006), S.
323-340.
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