„Felix Jemen“ statt Völkermord!
Das Schiller-Institut und die Organisation INSAN für
Menschenrechte und Frieden veranstalteten am 13. Oktober ein erfolgreiches
Seminar zur Lage im Jemen.
Gibt es einen größeren Gegensatz als den zwischen den schönen Worten über
westliche Werte und dem realen Völkermord in Jemen, dem die Welt tatenlos
zusieht bzw. diesen durch Waffenlieferungen an Saudi-Arabien immer weiter
unterstützt? 18 von 29 Millionen Menschen sind nun als Folge der See- und
Flughafenblockade und der ständigen Luftangriffe der (von den USA,
Großbritannien und Frankreich logistisch unterstützten) saudisch-geführten
Koalition akut vom Hungertod bedroht, 5,2 Millionen Kinder sind am verhungern.
Save The Children geht davon aus, daß gegen Ende dieses Jahres jeden
Tag mindestens 1600 Kinder an Hunger und Krankheit sterben werden.
Um gegen diesen Wahnsinn zu mobilisieren und gleichzeitig eine
optimistische Perspektive für den Jemen vorzustellen, veranstalteten das
Schiller-Institut und die jemenitische Organisation INSAN für Menschenrechte
und Frieden am 13. Oktober in Berlin ein gemeinsames Seminar zum Thema „Eine
Zukunft für Jemen: Statt geopolitischer Zerstörung – ein neues Paradigm für
Aufbau und Entwicklung mit der Neuen Seidenstraße in Nahost und Afrika“. An
der halbtägigen Veranstaltung nahmen mehr als 60 Aktivisten und Gäste aus
Deutschland und dem Jemen teil, darunter auch viele junge Menschen.
Die Veranstaltung wurde mit „Dona nobis pacem“ eröffnet, gesungen vom Chor
des Schiller-Instituts. In ihrer Grußbotschaft an die Konferenz, die
anschließend verlesen wurde, bezeichnete Helga Zepp-LaRouche, die Vorsitzende
des Schiller-Instituts, die Aggression gegen Jemen als Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, für das die westlichen Regierungen und Medien mit
verantwortlich sind. Sie betonte: „Als die Nationalsozialisten den Holocaust
gegen Juden, Sinti und Roma, und Menschen, deren Leben als nicht lebenswert
betrachtet wurde, begangen, sagten später viele, man habe von all dem nichts
gewußt. Das mag stimmen oder nicht, aber heute kann angesichts der
wiederholten, wenn auch sporadischen Berichte über den Genozid in Jemen
niemand dieses Argument für sich in Anspruch nehmen!“ Nachdem ein saudischer
Journalist getötet wurde, brächten nun US-Senatoren das Magnizkij-Gesetz für
Sanktionen gegen Saudi-Arabien ins Spiel. „Aber für jedes verhungernde Kind in
Jemen muß der Magnizkij Act gleichermaßen gelten!“
Dennoch bestehe Hoffnung. Chinas Seidenstraßen-Initiative habe die
strategische Lage bereits weitreichend verändert, und das bedeute auch eine
konkrete Perspektive, wie der Jemen in naher Zukunft aufgebaut werden kann.
Der wirtschaftliche Aufbau Syriens zeichne sich ab, und die infrastrukturelle
Entwicklung habe die Lage am Horn von Afrika und damit der unmittelbaren
Nachbarschaft Jemens bereits positiv in Richtung Kooperation und Entwicklung
verändert. Abschließend forderte Frau Zepp-LaRouche die Anwesenden auf:
„Deshalb: lassen Sie uns im Geiste Friedrich Schillers kriegerische Engel sein
und für eine bessere Ordnung für die ganze Menschheit kämpfen, die sich in
Übereinstimmung mit unserer wahren Identität als der einen Menschheit
befindet. Niemand auf der ganzen Welt ist sicher, solange die Menschen im
Jemen nicht sicher sind und ihr Potential auf Glückseligkeit nicht
verwirklichen können!“
Der Vorsitzende von INSAN, Dr. Aiman Al-Mansor, betonte in seiner
Ansprache, die Idee der Menschenrechte müsse neu belebt werden, es reiche
nicht, nur darüber zu sprechen. „Insan“ bedeutet Mensch, und Herr Al Mansor
appellierte an alle, die Menschheit als ganze in ihr Herz zu schließen und
damit den Opfern in Jemen eine Stimme zu geben. (Mehr über die Ziele und
Aktivitäten von INSAN finden Sie hier: http://www.insan-org.de).
Die folgenden Reden machten drastisch klar, wie absolut dringend es ist,
diesen Aggressionskrieg sofort zu beenden. Zuerst schilderte Herr Abdullatif
Elwashali von INSAN die katastrophale humanitäre Lage im Jemen und die
Konsequenzen. Die saudischen Luftangriffe und die Blockade der Häfen und
Flughäfen haben die entscheidende Infrastruktur, das Wassersystem und die
Gesundheitsversorgung der Menschen zerstört. Der für die Importe
lebenswichtige Hafen Al-Hudaida, der unter Dauerbeschuß der saudisch-geführten
Koalition liegt, weist die höchste Rate an Cholerafällen auf. Der Psychiater
Dr. Hussein Al-Warith (INSAN) beschrieb die schockierende Realität von
Millionen Kindern im Jemen unter Kriegsbedingungen und die vielfältigen
Traumata – durch den Verlust der Eltern und Geschwister sowie eigene
körperliche und seelische Verletzungen. Jedes Kind werde jeden Tag immer
wieder bedroht. Seelische Kriegsschäden bei Soldaten seien dokumentiert, aber
was geht in Kindern vor, deren Körper und Seelen zerstört werden? Wie soll man
diese Kinder behandeln, und werden sie jemals am Aufbau ihres Landes mitwirken
können?
Herr Mohammad Abo Taleb (INSAN) schilderte die Konsequenzen der saudischen
Blockade gegen den Jemen. Diese Blockade ist ein Kriegsverbrechen, die
jemenitische Bevölkerung wird kollektiv bestraft. Jemen sei heute „das größte
Gefängnis der Welt“. Die Blockade der jemenitischen Ölexporte (mehr als 85%
des BIP und über 90% der Deviseneinnahmen) führte u.a. dazu, daß der Staat
mehr als zwei Jahre keine Gehälter zahlen konnte. Der Zusammenbruch der
Währung Rial bewirkte einen beispiellosen Preisanstieg von Konsumgütern,
insbesondere von Nahrungsmitteln – sofern diese überhaupt ins Land kommen. Es
gab eine große Anzahl von Insolvenzen, wodurch mehr als drei Millionen
Menschen im Privatsektor ihre Arbeit und Einkommensquelle verloren. Die
einzige „Legitimität“, auf der die Blockade und die Aggression gegen Jemen
beruht, ist „das internationale Schweigen“.
Zum Krieg im Jemen und der deutschen Haltung nahm Engeline Kramer,
Grünen-Kommunalpolitikerin aus Leer (Ostfriesland), Stellung. Sie hat selbst
viele jemenitische Studenten kennengelernt, von denen viele heute nicht mehr
am Leben sind. Frau Kramer verurteilte die deutsche Beteiligung an den noch
immer weiterlaufenden Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien, obwohl dies im
Koalitionsvertrag anders beschlossen worden war, sowie die Zurückhaltung der
Regierung, den Krieg gegen Jemen zu verurteilen.
Das am Ende des Panels gezeigte Video über den saudischen Luftangriff (mit
einer von Lockheed Martin gebauten lasergesteuerten Rakete) auf einen Schulbus
am 9.8.2018, dem 40 Kinder zwischen sechs und elf Jahren und elf Erwachsene
zum Opfer fielen, war ein Schock für viele Teilnehmer, die dies zum ersten Mal
sahen.
Elke Fimmen eröffnete den zweiten Teil des Seminars mit ihrem Vortrag „Die
Zukunft des Jemen ist die Zukunft der Welt“. Der sog. internationalen
Gemeinschaft sei seit langem völlig klar, daß der saudisch-geführte
Angriffskrieg und die illegale Blockade gegen Jemen zu Völkermord führen (vgl.
das Vorwort des UN-Koordinators James McGoldrick zum Humanitären Reaktionsplan
der UN 2018 für den Jemen). Man müsse deshalb mit Friedrich Schiller fragen:
„Ist die Menschheit moralisch fähig, zu überleben?“ Die heutige „Kultur des
Todes“, so Frau Fimmen, desensibilisiere die Menschen für die Kriege, die vor
unseren Augen stattfinden. „Wir sind in einer historischen Situation, in der
die alte Ordnung versagt hat und auseinanderfällt. Es liegt an uns, die
Zukunft positiv im Sinne der Menschlichkeit – für die Menschheit – zu
gestalten.“
Ein faszinierendes Bild, wie diese Zukunft aussehen kann, zeichnete
schließlich Hussein Askary, der Südwestasien-Koordinator des
Schiller-Instituts, in seinem Vortrag „Ein Wiederaufbauplan für Jemen im
Kontext der Neuen Seidenstraße“.1 Der Plan für die „Operation Felix
Jemen“, an dem insbesondere Herr Fouad al-Ghaffari in Sanaa wesentlichen
Anteil hat, wurde im Frühsommer bei einer Konferenz der Jemenitischen
Investitionsbehörde in Sanaa vorgestellt und wird nun mit wöchentlichen
Seminaren weiter vertieft.
Wie Herr Askary zeigte, ist der Jemen geographisch hervorragend
positioniert, mit wirtschaftlicher Entwicklung im Kontext der Neuen
Seidenstraße wieder zum „Felix Jemen“ zu werden – „Glücklicher Jemen“, wie er
aufgrund seines Reichtums und seiner Kultur im Altertum genannt wurde. Jemen
liegt am Kreuzungspunkt der Maritimen Seidenstraße und der Landbrücke und in
unmittelbarer Nachbarschaft des Horns von Afrika, wo mithilfe chinesischer
Infrastrukturprojekte bereits ein weitreichender Friedens- und Aufbauprozeß in
Gang gekommen ist.
Herr Askary betonte, es sei wichtig, die Fehler der Vergangenheit, die
Jemen schon vor dem Krieg zum ärmsten Land der Region gemacht hatten, nicht zu
wiederholen. Nach dem Ende des Krieges müßten sofort die unmittelbaren
Kriegsschäden behoben werden, aber dann gelte es, vor allem die Infrastruktur
und eine eigene Industrie und Landwirtschaft aufzubauen, statt sich wieder auf
Erlöse aus Ölexporten zu verlassen und völlig von Importen abhängig zu
machen.
Die Produktivität des gesamten Landes könne durch Entwicklungskorridore
völlig transformiert werden, so Askary, wobei der Schwerpunkt auf der
geographisch wie nach der Bevölkerung wichtigsten Nord-Süd-Achse liegt, von
der aus als Rückgrat weitere Korridore das ganze Land erschließen können. Dies
ist auch eine Voraussetzung für die weitere Existenz Jemens als vereinigtem
Staat. Ein Kernstück der Aufbaustrategie ist der Bau einer Eisenbahnverbindung
von Saada im Norden in die südliche Hafenstadt Aden. Dieses Projekt ist sowohl
hinsichtlich der extrem gebirgigen Lage als auch der Länge (607 km) mit der
jetzt von China in Äthiopien gebauten Eisenbahnstrecke Mekele-Weldiya-Awash
(622 km) vergleichbar, die innerhalb von vier Jahren fertiggestellt sein
soll.
Im Gegensatz zur Propaganda im Westen, so Askary, liege Jemens größtes
Potential in seiner wachsenden und vorwiegend jungen Bevölkerung: über 50% der
jemenitischen Bevölkerung ist heute unter 15 Jahre alt! Wenn der Krieg beendet
sei, müßten die Jugend und die jemenitischen Intellektuellen die
Hauptverantwortung dafür übernehmen, selbst die Zukunft Jemens zu
gestalten.
In der anschließenden lebhaften Diskussion gab es viele Fragen zu den
Projekten, zur politischen Lage, wie man diese Perspektive einer breiten
Bevölkerung in Jemen bekannt machen kann und wie ein solches Programm auf
Dauer aufrechterhalten kann, so daß es nicht durch Korruption oder Einmischung
von außen zerstört wird.
Damit die Menschen in Jemen jedoch überhaupt die Chance erhalten, ihr Recht
auf Frieden und Entwicklung zu realisieren, brauchen wir jetzt eine
internationale Mobilisierung, die den geopolitischen Vernichtungskrieg beendet
und das neue menschliche Paradigma auf die Tagesordnung setzt. Und dazu kann
jeder einen Beitrag leisten.
Elke Fimmen
Anmerkung
1. vgl. „Operation Felix Das Wunder des Wiederaufbaus des Jemen und die
Verbindung zur Neuen Seidenstraße“, Neue Solidarität 30/2018, https://solidaritaet.com/neuesol/2018/30/askary.htm
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